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KOMMENTAR/038: Claudia Pechstein - Präzedenzfall für die sportjuristische Schlachtbank (SB)



Der totalitäre Anti-Doping-Kampf, der durch den seit Jahresbeginn gültigen Anti-Doping-Code der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) eine weitere Verschärfung erfuhr, zeigt immer deutlicher seine menschenverachtende Fratze. Nachdem die Wut der Athleten über die freiheitsberaubenden Meldeauflagen nahezu folgenlos verraucht ist, Widersprüche von den Funktionären lange genug beschwichtigt und Einwände gegen die inakzeptablen Zumutungen des WADA-Codes von den dopingpolitisch gleichgeschalteten Medien unterdrückt wurden, folgt nun der nächste Schritt bei der stufenweisen Entmündigung von Sportlerinnen und Sportlern.

Kaum hatten die Nachrichtenagenturen (dpa/AP) die Topmeldung in Umlauf gebracht, Deutschlands erfolgreichste Winter-Olympionikin Claudia Pechstein sei "eines Dopingvergehens überführt", da mußten die Pressehyänen in ihrem Blutrausch auch schon wieder innehalten und den Wert ihrer Skandalmeldung etwas herunterschrauben. "Tatsächlich gab es keinen positiven Dopingbefund", korrigierte "Der Spiegel" seinen Online-Bericht.

Beim Fall Pechstein wird tatsächlich ein Streit bis aufs Blut geführt, und zwar in einem viel weitreichenderen Sinne als es die vordergründigen Diskussionen um "Wahrheit", "hat sie oder hat sie nicht?" glauben machen sollen. Ähnlich wie in der großen Politik aufrührende Anlässe wie "Amokläufe", "Unfälle", "Katastrophen", "Verbrechen", "Terroranschläge" etc. - z.T. sogar provoziert oder unter falscher Flagge hergestellt - von interessierter Seite genutzt werden, um sie für eine bestimmte politische Richtung, in die sich die Gesellschaft unter "normalen" Umständen gar nicht oder vielleicht nur zögerlich entwickelt hätte, auszuschlachten, hofften auch die Sachwalter des repressiven Leistungssports auf ein katalytisches Ereignis, mit dem sich ihr Tun und Lassen rechtfertigen ließe. Daran lassen die Worte des ehemaligen Leistungssportdirektors des Deutschen Sport-Bundes und heutigen Vorstandsvorsitzenden der vermeintlich "unabhängigen" Nationalen Anti-Doping Agentur (NADA), Armin Baumert, keinen Zweifel. Entgegen dem offensichtlichen Umstand, daß die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) und ihr nationaler Ableger NADA erhebliche Legitimationsprobleme haben, ihr grundlegendes Menschenrechte wie Privatsphäre, informationelle Selbstbestimmung oder Freizügigkeit abschneidendes Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionssystem globalgesellschaftlich durchzusetzen (siehe WADA-Konflikt mit EU-Recht), trommelte sich Baumert bei der Jahrespressekonferenz Anfang Mai stolz auf die Brust und verkündete: "Während die WADA wankt, demonstriert die NADA selbstbewußt ihre erreichte Position." Zugleich ließ der Kontrollfanatiker durchblicken: "Wir müßten mal einen richtigen Volltreffer landen. Dann würde sich zeigen, daß das, was wir tun, auch wirksam ist."

Etwa einen Volltreffer wie einst Vorzeigeläufer Dieter Baumann ("Zahnpasta-Affäre"), mit dem die Hardliner zu Lasten aller Athleten die Möglichkeit der Fremdmanipulation für immer ins Lächerliche ziehen konnten? Oder einen Volltreffer wie Katrin Krabbe, der die Benutzung eines nicht auf der Verbotsliste stehenden Asthmasprays als "Medikamentenmißbrauch" mit widerrechtlichem Berufsverbot vergolten wurde? Oder einen Volltreffer wie Ringer-Olympiasieger Alexander Leipold, dem, wie Hunderten von internationalen Sportlern auch, erhöhte Nandrolonwerte, hervorgerufen möglicherweise durch kontaminierte Sportlernahrung, zur Sperre gereichten - weil er sein Futter zuvor nicht "eigenverantwortlich" zur Überprüfung in ein Analyselabor geschickt hatte?

Nun also Deutschlands erfolgreichste Winter-Olympionikin Claudia Pechstein, an der sich die Anti-Doping-Praktiker gesundstoßen wollen. Über seine Hauspresse hatte der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) bereits am 12. Mai verkündet: "Nach dem WADA- bzw. NADA-Code 2009 soll künftig auch vermehrt das Instrument des Indizienprozesses genutzt werden, wenn durch ungewöhnliche Abweichungen von Normwerten und weiteren Verdachtsmomenten ein begründeter Verdacht auf einen Verstoß gegen Anti-Doping-Bestimmungen eines Athleten oder einer Athletin vorliegt."

Wer wollte also ernstlich bestreiten, daß der prominente Fall Claudia Pechstein, die während ihrer 18jährigen Karriere niemals positiv getestet wurde und deren Blutprofil nun bezüglich der Retikulozyten (Vorstufe der roten Blutkörperchen) "abnormale Werte und abnormale Veränderungen" aufweisen soll, den inquisitorischen WADA/NADA-Funktionären nicht perfekt ins Konzept paßt? Niemals zuvor in der Geschichte des Sports ist ein Athlet aufgrund unregelmäßiger Blutwerte mit einer zweijährigen Sperre belegt worden - ein weiterer Dammbruch steht somit bevor.

Über den sich bereits Monate hinziehenden Fall Pechstein soll die NADA von Beginn seiner Genese an "informiert" gewesen sein. NADA-Geschäftsführer Göttrik Wewer hatte seine Geistesbrüder und -schwestern, auch in den Medien, schon bei der Jahrespressekonferenz mit den Worten: "Wir bereiten das vor. Der erste Indizienprozess darf nicht in die Hose gehen." (Spiegel, 4.7.09) eingeschworen.

Hier handelt es sich um einen Fall, der Athleten mit auffälligen Blutwerten nicht mehr wie bisher mit einer "Schutzsperre" belegt, sondern nach dem neuen WADA-Code mit langjährigen Sperren hart abstraft. Benötigt wird kein "positiver Dopingtest" mehr, sondern den Dopingjägern soll nach einem noch bevorstehenden Gang vor den Internationalen Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne ein gerichtsfestes Instrument in die Hand gegeben werden, Athleten lediglich auf der Grundlage von Indizien abzuurteilen.

Unterdessen hat der DOSB strategisch geschickt eine scheinbar die Athletin schützende Position bezogen ("Die Beweiskraft dieser Indizien wird von namhaften Sachverständigen bezweifelt."), obwohl ihm der Fall bei der Umsetzung des WADA-Codes voll in die Karten spielt - nicht der WADA-Code soll gekippt werden, sondern die Vorbehalte der Sportler.

Auffällig ist zudem, daß die stimmungsmachende Anti-Doping-Journaille sofort gegen die Athletin Stellung bezogen hat (siehe Weinreich, Kistner und Konsorten) und Indizienprozesse "als Mittel der modernen, effektiven und nachhaltigen Dopingbekämpfung" hochleben ließ. Bereits im Anfangsstadium weist der Fall High-Noon-Qualität auf ("Entweder verliert Claudia Pechstein alles oder das Anti-Doping-System seine Glaubwürdigkeit." FAZ, 4.7.09), einmal mehr wird damit der gesellschaftliche Irrweg der repressiven Anti-Doping-Bekämpfung zur Glaubensfrage stilisiert. Wie Stimmungen zu Lasten der Beschuldigten erzeugt werden, bezeugt der Umstand, daß der Athletin ihre Offenheit und ihr selbstbewußtes Auftreten gegenüber den Medien als "Charme-Offensive" einer über Nacht erblondeten Unschuld angelastet wurde (im umgekehrten Fall wäre sie als öffentlichkeitsscheue Sportlerin mit schlechtem Gewissen angeprangert worden).

Sogar profilierungssüchtige Politiker wie Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) springen auf den Fall auf, um die Kriminalisierung von Athleten per Straftatbestand "Sportbetrug" voranzutreiben, angeblich weil verschiedenste Manipulationsversuche im Sport "eine neue Bedrohungslage für den Sport insgesamt" ergeben hätten und an seinen "Grundfesten" rütteln würden.

Auffällig ist auch, daß diverse "Anti-Doping-Experten" nicht als Interessenspartei entlarvt werden, die den jeweils aktuellen, sich stetig wandelnden Stand der Lehrmeinungen in ein verdachts- und strafbewehrtes Behördenhandeln übersetzen will und aus hegemonialen Gründen unter allen Umständen einen "Volltreffer" landen muß, sondern als "unabhängige Wissenschaftler" ausgewiesen werden (siehe die teilweise vorverurteilenden Schnellschuß-Kommentare meinungsmachender Dopingkoryphäen wie Sörgel, Franke, Schänzer etc.). Wenn ein renommierter Sportwissenschaftler wie Prof. Wildor Hollmann den Leistungssport als "das größte biologische Experiment der Menschheitsgeschichte" bezeichnet, dann sollte sich doch jeder fragen, wer von diesen Experimenten auch auf sportforensischer Seite profitiert!

Weiterhin gilt zu bedenken, daß sportrechtliche Gewaltorgane nicht dort ihre Macht beweisen, wo sie dopinggeständige Sportler aburteilen, sondern dort, wo sie entgegen bürgerlichem Rechtsempfinden und Unschuldsanschein mit voller Härte zupacken und auf besonders schmerzvolle Weise "Präzedenz" schaffen. Eine zweijährige Sperre auf Indizienbasis würde für die 37jährige Claudia Pechstein nicht nur das sportliche Karriereende bedeuten, sondern sie höchstwahrscheinlich auch den Job auf Lebenszeit als derzeitige Polizeihauptmeisterin bei der Bundespolizei kosten.

Ohne jede kritische Reflektion bleibt ferner, daß es gar keine "unabhängige Überprüfung" durch den Internationalen Sportgerichtshof CAS geben kann, weil das einst vom IOC eingerichtete und mit leistungssport- und verbandsaffinen Richtern besetzte Sporttribunal bereits auf einem athletenfeindlichen Rechtsverständnis fußt, das u.a. gute Rechtsprinzipien wie "im Zweifel für den Angeklagten" oder die "Unschuldsvermutung" geflissentlich ignoriert. Sporttribunale sind juristische Schlachtbänke, die nach der "strict liability"-Regel die Athleten für alles, was in ihrem Körper vorgefunden wird, haftbar macht und ihnen die volle Schuldlast aufbürdet. Die Beweislastumkehr macht es den Sportlern nahezu unmöglich - und dies ist auch der primäre Zweck der dopingpolitischen Rechtsprechung - zu beweisen, daß der inkriminierte Wert etwa durch wissenschaftliche oder labortechnische Irrtümer (mangelndes, korruptes Expertenwissen, Krankheit, Schwangerschaft, atypische Körperreaktionen außerhalb der medizinischen Normen, Labor-Schlampereien etc.) oder äußere Einflüsse oder Manipulationen (kontaminierte Nahrung, mißgünstige Konkurrenten oder Funktionäre etc.) zustande kam.

Der Fall Pechstein soll zudem zur juristischen Klärung beitragen, ob wie bei "positiven Befunden" auch bei Indizienprozessen die Beweislast beim Sportler liegt. Die Mainstream-Medien machen bereits Stimmung für letzteres und erklären das "Werte-Phänomen", daß Pechsteins überhöhte Retikulozyten-Werte merkwürdigerweise keine Auswirkung auf weitere Blutparameter wie Hämoglobin und Hämatokrit hatten, a priori zum Akt böswilliger "Manipulation", obwohl dies weder juristischer noch wissenschaftlicher Seriosität entspricht. Mehr noch, es werden bereits winkeladvokatische Auffassungen medial durchzupeitschen versucht, wie daß der Eislaufweltverband ISU der Athletin nur einen "Dopingverstoß" nachweisen muß, nicht aber eine eventuelle "Blutkrankheit", die die Athletin zur "Patientin" machte. "Ansonsten wäre ein Indizienprozeß im Dopingkampf, wie er hier erstmals geführt wird, unmöglich. Dann müßten beschuldigte Sportler einfach nur eine, wie hier gegeben, unbekannte Erkrankung behaupten, sich aber weigern, den Nachweis dafür anzutreten." (DLF, 9.7.09)

Um die verbreitete Wissenschaftsgläubigkeit, die nicht von der Frage medizinaladministrativer Kontrolle und Fremdverfügung zu trennen ist, nicht zu unterminieren, zählt die Presse natürlich nicht all die Fälle auf, wo die Anti-Doping-Forschung und -analyse ihre eigenen Unzulänglichkeiten offenbaren mußte. Tatsächlich mußten scheinbar feststehende medizinische Wirkzusammenhänge und physiologische Lehrmeinungen im nachhinein immer wieder korrigiert werden. Nicht von ungefähr sprach sogar der Dopingpapst Prof. Werner Franke in der Vergangenheit häufig von "wissenschaftlichen Mängeln" und "reiner Willkür", etwa bezogen auf die Grenzwerte bei Nandrolon bzw. der körpereigenen Produktion dieses anabolen Steroids.

Gerade für Hochleistungssportler, die sich in Grenzbereichen körperlicher Leistungsfähigkeit und Verausgabung bewegen und ihren Organismus nicht selten bis zum Zusammenbruch belasten, gilt der Ausnahmezustand. Deshalb sind sie ja auch begehrtes Objekt der Wissenschaft, weil an ihnen medizinisch "sehr interessante" körperliche Ausnahmezustände studiert werden können, die sich nicht so einfach in die unterstellte Norm einordnen lassen. Genaugenommen sprengen Spitzensportler jede bekannte Norm, sonst könnten Extremleistungen gar nicht getopt werden. Daß gerade in diesen Grenzbereichen auch physiologische Prozesse mitunter Kopeister schießen, liegt doch wohl auf der Hand. Mindestanforderung jeder seriösen Wissenschaft müßte daher sein, die Grenzen des eigenen Erkenntnishorizonts in den Vordergrund zu stellen, jede bekannte Norm in Frage zu stellen und sich nicht als strafende Herrschaftswissenschaft mißbrauchen zu lassen!

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Erst im vergangenen Jahr brachte eine von der WADA finanzierte Studie ans Licht, daß Menschen verschiedener ethnischer Herkunft das körpereigen produzierte Testosteron vollkommen unterschiedlich abbauen. Damit sind viele der bisherigen Annahmen, auch bezogen auf Testosteron-Doping, nichtig. Der Alarmmeldung, daß z.B. Asiaten aufgrund ihrer genetischen Veranlagung praktisch unentdeckt mit Testosteron dopen könnten, wurde indessen die volle Aufmerksamkeit zuteil, während die "falschen Positivproben" jener Athleten, die den Grenzwert überschreiten, ohne je gedopt zu haben, bagatellisiert wurden. Und was war nach dieser "wissenschaftlichen Sensation" die Forderung der Forscher? Statt einheitlicher Grenzwerte solle eine Art biologischer Paß, der über Jahre hinweg Blut- und Urinwerte der Sportler registriert, angelegt werden, "um die Ungenauigkeiten zu beseitigen", wie es in einem unkritischen Bericht hieß.

Mit Langzeitprofilen werden keine "Ungenauigkeiten" beseitigt, sondern es werden lediglich neue Akzeptanznormen der Willkür geschaffen und justitiabel gemacht. Wer jetzt aufmerksam den öffentlichen Diskussionen der Experten um "abnormale Blutwerte" und "statistische Wahrscheinlichkeit" lauscht, erhält Anschauungsunterricht, wie durch sprachliche Umdeutungen, rhetorische Kniffe und interdisziplinäres Ausweichen ein ums andere Mal der Umstand verschleiert wird, daß die Annahmen und Modelle der Anti-Doping-Priesterschaft immer nur das Bekannte, niemals das Unbekannte widerspiegeln können. Wäre es anders, verfügten die Wissenschaftler bereits über den Stein der Weisen bzw. die Weltformel.

Wie die "Schlacht der Sachverständigen und Juristen" ausgehen wird, ist derzeit noch ungewiß. Es gibt starke politische Kräfte, die den direkten Beweis der positiven Dopingprobe für obsolet halten und ihn durch den indirekten Beweis vermittels Blut- und Hormonprofilen flankieren oder ersetzen wollen.

Allerdings gärt unter den Sportenthusiasten auch eine immense Wut, die sich aufgrund der McCarthy-Stimmung im Sport-Medien-Komplex nicht mehr artikulieren kann oder nur gefiltert an die Öffentlichkeit dringt. Viele haben natürlich längst erkannt, in welch verhängnisvolle Richtung sich der immer repressiver werdende Anti-Doping-Kampf bewegt, der den klammen Verbänden zudem Unsummen an Geldern abpreßt, die den Athleten (mit Auswirkung auf den Breitensport) nicht mehr zur Verfügung stehen. Von daher könnte man auch die These vertreten, daß mit Claudia Pechstein ganz gezielt ein wissenschaftlich und juristisch haltloser Fall lanciert wurde, der einer weiteren repressiven Entwicklung im Sport zumindest für eine bestimmte Zeit Einhalt gebieten soll. Wahrscheinlicher ist aber, daß die herrschenden Eliten nicht mehr umzukehrende Verhältnisse in Richtung eines totalitären Anti-Doping-Regimes, das Indizien zu Beweisen hochinterpretiert, schaffen werden. Biologistische Menschenbilder, die den einzelnen auf die korrekte Maßhaltigkeit seiner Körperphysiologie reduzieren und gerichtsmedizinisch überwachen, haben gesellschaftlich Hochkonjunktur.

12. Juli 2009