Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/076: "Ausraster" von Paolo Guerrero - verkannte Zuschauergewalt (SB)



Die Unterschiede zwischen der sogenannten Boulevard- und der Qualitätspresse im sportjournalistischen Mainstream sind allenfalls minimal. Wo die auf Sex, Skandal und Sensationen abonnierten Meinungsbildner oft mit groben Keilen die Sau durchs Dorf treiben, arbeiten die "seriösen" Pressefritzen meist nur mit subtileren oder differenzierteren Spießruten, um jedoch zum gleichen Ergebnis zu kommen. Wer als bestbezahlter Fußballfunktionssklave nicht nach der Peitsche seiner Wohltäter tanzt, sondern "ausrastet" oder die "Beherrschung" verliert, der soll, da ist man sich unter Journalistenkollegen weitgehend einig, auch die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.

Am letzten Ostersonntag war es mal wieder soweit: Nach dem 0:0 gegen den Tabellenvorletzten Hannover 96 brannten dem HSV-Stürmer Paolo Guerrero, so die Diktion von Spiegel-online (5.4.10), "die Sicherungen durch". Von dort, wo die reicheren Fans beim HSV Hamburg sitzen, im "Schnittchenbereich", waren dem Fußballprofi üble Beleidigungen an den Kopf geworfen worden. Ein Mann in mittleren Jahren soll dem Peruaner nach widersprüchlichen Medienangaben "schwule Sau", "Arschloch", "du spielst Scheiße" oder Ähnliches zugerufen haben. Laut Spiegel liege die Wahrheit "irgendwo dazwischen". Paolo Guerrero jedenfalls fackelte nicht lange und warf seine Plastiktrinkflasche zielsicher wie ein Handballer an den Kopf des Pöblers.

Eine bessere Vorlage hätte der 26jährige den Moral-, Tugend- und Regelhütern der Sportjournaille gar nicht geben können. Der Spiegel regte sich heftig über den "Guerrero-Ausraster" auf und forderte nicht nur gegen den Werfer drakonische Strafen (Geldstrafe reicht nicht - Stadionverbot und Kündigung wären besser), sondern auch gegen Mitspieler Frank Rost, der Guerreros Verhalten auf höchst saloppe Art gerechtfertigt hatte. "Wenigstens Frank Rost sollte bei dieser Gelegenheit gleich seine Papiere ausgehändigt bekommen. Denn was der Torhüter nach dem Ausraster seines Mannschaftskollegen in die Mikrofone der anwesenden Reporter diktierte, war nicht nur vereinsschädigend, sondern schlicht und einfach die Verharmlosung einer Straftat, die im allgemeinen als Körperverletzung bezeichnet wird - und zudem eine Verhöhnung des be- und getroffenen HSV-Fans", geiferte Spiegel-online-Kommentator Mike Glindmeier in schönster Bildzeitungs-Manier.

HSV-Torwart Rost hatte den skandalheischigen Reportern kaltschnäuzig erklärt: "Da hat er gut getroffen. Die New York Yankees würden ihn wohl gerne verpflichten." Auch der Fan müsse sich hinterfragen, so Rost. "Da hat er eben Pech gehabt." Es seien Spieler dabeigewesen, die gehört hätten, was gesagt worden sei. "Da muß ein Zuschauer auch mal damit rechnen, daß etwas zurückkommt."

Gemessen am durchgehenden Duckmäusertum sowie den Maulkörben, die die Spieler wegen arbeitsrechtlicher Knebel tragen, war die leicht subversive Rede von Rost, die das warenförmig strukturierte Gewaltverhältnis von Profis und Zuschauern tangierte, schon bemerkenswert. Bekanntlich besteht die Vorbildfunktion von Profis nicht darin, daß sie als mündige Menschen in Erscheinung treten, die Kritik an den Verhältnissen ihrer Profession üben, sondern im Gegenteil, daß sie die medien- und sponsorengerechten Wohlverhaltensnormen, die wiederum Produkte des kapitalistischen Verwertungsregimes sind, auf mustergültige Weise repräsentieren. Wer als Profi Trotzreaktionen oder zu wenig Anpassungsbereitschaft zeigt, öffentliche Kritik an den Vereinen, Verbänden oder Sponsoren übt und mithin den "Betriebsfrieden" stört, muß damit rechnen, daß ihm mittels saftiger Abmahngebühren oder Sanktionen der Mund gestopft wird. Selbst als "unsportlich" deklarierte Gesten dem Publikum gegenüber können "disziplinarische Maßnahmen" von Vereins- oder Verbandsseite nach sich ziehen. In der italienischen Fußballiga können Profis oder Offizielle seit neustem sogar gesperrt werden, wenn sie "mit schlechtem Benehmen", etwa durch Fluchen, auffallen.

Die bis ins Detail ausgearbeiteten Strafenkataloge bei Verstößen gegen interne Regeln, Vertragsklauseln oder arbeitsrechtliche Normen werden von den Profispielern hingenommen, weil ihnen das marktwirtschaftliche Drückersystem gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt hohe, teilweise sogar exorbitante finanzielle Einkommen beschert. Da sie von der großen Bevölkerungsmehrheit auch nicht als "Sklaven ihrer Profession" verachtet, sondern als Helden angehimmelt und verehrt werden, ernten sie während und nach ihrer Karriere mehr Sozialprestige als jeder Normalberufstätige - was ja auch eine gesellschaftliche Währung darstellt.

Dem nach seinem Flaschenwurf reuig zu Kreuze kriechenden Paolo Guerrero - das Entschuldigungsritual in Pressekonferenzen oder Talkshows ist mittlerweile integraler Bestandteil des medialen Prangersystems - wurde sein nach allgemeinem Dafürhalten "unentschuldbarer Einzelfall" (HSV-Chef Hoffmann) von Klubseite "mit der höchsten Geldstrafe der Vereinsgeschichte" vergolten, wie der Spiegel berichtete. Die genaue Höhe wurde nicht genannt. Schätzungen zufolge liege sie zwischen 50.000 und 100.000 Euro. Das Geld werde für "soziale Zwecke" verwandt, hieß es weiter, was der Strafe gewissermaßen einen gemeinnützigen Anstrich verleiht. Innenminister Thomas de Maizière, der den Sport unlängst als "Schule der Nation" bezeichnete, hätte sicherlich Gefallen daran. Von Verbandsseite bekam Guerrero "wegen einer Tätlichkeit gegen einen Zuschauer nach einer vorausgegangenen verbalen Provokation" eine Sperre von fünf Spielen aufgebrummt, wodurch er für das komplette Restprogramm der Bundesligasaison ausfällt. Zudem muß er 20.000 Euro Geldstrafe berappen. Darüber hinaus ermittelt die Hamburger Staatsanwaltschaft wegen des Anfangsverdachts der gefährlichen Körperverletzung gegen Guerrero. Sollte sich der Verdacht erhärten, droht dem Peruaner eine Haftstrafe von sechs Monaten, in einem minderschweren Fall sind drei Monate Haft oder eine Geldstrafe möglich.

"Ein Fan würde dafür weltweit ein zweijähriges Stadionverbot bekommen", tönte es aus Medien- und Fankreisen, wo nach härteren Strafen als den bereits erwähnten verlangt wurde. Der verständliche Ruf nach ausgleichender Gerechtigkeit hat allerdings einen kapitalen Haken. Wer Gerechtigkeit von der Fußball-Obrigkeit fordert, der anerkennt auch, daß Pappbecherwürfe von Zuschauern mit langwierigem Stadionverbot vergolten werden können - wie etwa nach dem Pokalspiel der Stuttgarter Kickers gegen Hertha BSC Berlin im Oktober 2006 geschehen. Seinerzeit war ein Schiedsrichter-Assistent vom Plastikbecher eines Zuschauers getroffen worden. Die Partie wurde abgebrochen und war vom DFB-Sportgericht zu Gunsten der Gäste gewertet worden. Der Werfer erhielt zudem Stadionverbot. Da inzwischen auch Fans Stadionverbot erhalten, wenn ihre Anwesenheit in der Nähe von Ausschreitungen registriert wurde, dient die Kritik an der Ungleichbehandlung von Spielern und Fans auch zur Legitimation der willkürlichen Stadionverbote gegen Zuschauer.

Was Guerrero in einer affekthaften Aktion tat, das hatte die Schiedsrichtergilde nach dem Pappbecherwurf eines Fans zur Vergeltung übrigens auch getan - nur über den das Gewaltmonopol absichernden Strafweg der Sportinstanzen. Denn darum geht es im Kern bei der Domestizierung und Kultivierung des sportlichen Wettstreits: undiszipliniertes oder wildes Verhalten wird letztlich als Bedrohung der öffentlichen Ordnung angesehen und entsprechend unterdrückt. Die Aufspaltung von "aktiven" Spielern und "passiven" Zuschauern ist bereits Bestandteil dieser Ordnung sowie die daraus resultierenden "Übergriffe" zwischen den nach den Anforderungsprofilen der Fußballindustrie zugerichteten Partizipienten. Denn ebenso wie der Fußballsklave funktionalisiert ist, sind die Konsumentengruppen auf den Tribünen auf ganz bestimmte Verhaltensweisen und gesellschaftlich akzeptierte Gewaltstandards konditioniert. Pfeifen, Schimpfen, Pöbeln, Buhen etc. sind nach schwebenden Übereinkünften noch erlaubt, solange Spieler und Fans sich als amorphe Massen und nicht Auge in Auge gegenüberstehen. Bei Guerreros "Ausraster" gab es bereits zuviel direkten Kontakt zwischen den Parteien, der Fan konnte sein Gesicht nicht mehr in der Anonymität der Masse verstecken.

"Pech gehabt", sagte Frank Rost in Richtung Pöbelzuschauer, "Pech gehabt" sagen auch die Zuschauer in Richtung Spieler, wenn infolge ihrer körperlichen Verausgabung Menisken reißen, Kreuzbänder zerfetzen oder Knochen brechen. Der Kreuzbandriß indes, den Guerrero zu Beginn der Saison erlitten hatte, zählt nicht als "Tätlichkeit" der Zuschauer, die doch nur "brutal-ehrlichen" Fußball, natürlich im "sportlich-fairen Sinne", für ihr Geld sehen wollen, sprich Spieler, die sich auf dem Platz für den Sieg ihrer Mannschaft und die Festtagsstimmung der Fans zerreißen. Dies als "normal" zu akzeptieren, entspricht dem Messen mit zweierlei Maß.

12. April 2010