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KOMMENTAR/092: TV-Sender RAI schafft "subversive" Zeitlupe ab (SB)



Die spektakuläre Entscheidung des italienischen Fernsehsenders RAI, künftig keine Zeitlupen mehr von strittigen Szenen zu zeigen, um die Diskussionen über Schiedsrichter, Fouls und Fehlentscheidungen im Fußball einzudämmen, wirft ein Schlaglicht darauf, wie die nach andauernden Bestechungs- und Wettskandalen zusätzlich ramponierte "Glaubwürdigkeit" obrigkeitlicher Schiedssysteme im Sport, die gesellschaftlich übergreifende Befriedungsfunktionen haben, wieder hergestellt werden soll.

Dank technisch immer perfekter gewordener Slow motions aus allen Kameraperspektiven werden die "Tatsachenentscheidungen" der Schiedsrichter immer häufiger der Willkür entlarvt. Auch bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika standen die Referees nach teilweise gravierenden Fehlentscheidungen, die den TV-Zuschauern brühwarm serviert werden konnten, permanent in der Kritik. Um die fußballbegeisterte Volksseele wieder auf jener Stufe des Affekteabbaus kochen zu lassen, die nicht die Autorität der "Unparteiischen" als solche in Frage stellt, werden die "subversiven" TV-Signale, die die Schiedsrichtergilde in einem schlechten Licht erscheinen lassen, nun kurzerhand von der Mattscheibe entfernt. Ausgenommen von der Schere der RAI-Redaktion sind Aktionen, in denen es um Tore und Platzverweise geht.

Die ungewöhnliche Sendevorgabe wird von den Medien ausgesprochen wohlwollend aufgenommen. Von "Schutzprogramm für Schiris" ist hierzulande die Rede, die italienische TV-Anstalt zeige "ein Herz für die Fußball-Schiedsrichter". Gleichzeitig wird die Maßnahme vor dem Hintergrund, daß der öffentlich-rechtliche Sender seit 1967 bei Fußballsendungen alle strittigen Szenen einer Partie in verlangsamter Geschwindigkeit zeigte und Italien als das Mutterland des "Instant Replay" gilt, als "revolutionär" bezeichnet.

Wenn etwas abgeschafft wird, was 43 Jahre lang als massenmediale Prangerkultur im Fußball funktioniert hat, muß es andere Gründe dafür geben, als wie sie Eugenio de Paoli vorgibt. Der Chefredakteur von Radiotelevisione Italiana begründete die Maßnahme u.a. damit, die ständige Polemik über Entscheidungen der Unparteiischen vermeiden zu wollen. Die penible Kontrolle aller heiklen Phasen und das Anprangern der Schiedsrichter nähre ständigen Streit, ohne daß der Zuschauer Einfluß auf den Ausgang nehmen könne.

Wäre letzteres Einfluß-Kriterium relevant, müßte man wohl die gesamte Fußballberichterstattung einstampfen - denn es unterstellt positiv die Möglichkeit, daß der Zuschauer in seiner passiven Rolle als fern vom Geschehen emotionalisierter Rezipient überhaupt jemals Einfluß auf den Ausgang von strittigen Schiedsrichterentscheidungen nehmen könnte. Tatsächlich wird in den Abreaktionen des Zuschauers nur seine Ohnmacht auf herrschaftsförmige Weise kanalisiert. Der Reiz des Pantoffelkinos besteht ja gerade darin, Polemiken oder Anprangerungen vom Stapel lassen zu können, die man sich in anderen gesellschaftlich stark sanktionierten Räumen, etwa am Arbeitsplatz oder im Gerichtssaal, nicht erlauben könnte. Von daher haben die Beschimpfungen der "unbestechlichen" Schiedsrichter, die auf dem Fußballfeld Regierung, Gericht und Polizei verkörpern, auch eine systemstabilisierende Ventilfunktion. Der Fußballkonsument hat das Gefühl, den Repräsentanten der Staatsmacht auch mal die Meinung geigen und selbst zur obersten Schiedsinstanz werden zu können.

Dieser "ständige Streit" über die Fehlbarkeit und Subjektivität der Schiedsrichter, welche dem Publikum durch moderne technische Hilfsmittel immer deutlicher vor Augen geführt werden können, wird dann zum ernsten Ärgernis, wenn sich der Unmut der Massen in einem generellen Autoritätsverlust der Obrigkeiten niederschlägt und der Protest über "die da oben" in politische Aktionsformen überzuspringen droht.

Bislang war es der Regierung um Ministerpräsident Silvio Berlusconi, reichster Mann Italiens und Besitzer des Fußballclubs AC Mailand, gelungen, die enormen sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes, die sich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise noch einmal verschärften, unter Kontrolle zu halten. Dabei half Berlusconi sicherlich auch sein marktbeherrschendes Medienimperium sowie der Einfluß, den er über den Fußball auf die Bürger ausübt. Der Unternehmer hat zahlreiche Versuche unternommen, seinen Leib- und Magengegner, den staatlichen Fernsehsender RAI, zu ursurpieren, was ihm aber noch nicht vollständig gelungen ist. Das bedeutet aber nicht, daß es sich beim öffentlich-rechtlichen Sender RAI auf der einen und den von Berlusconi kontrollierten Privatmedien auf der anderen Seite um gesellschaftlich antagonistische Kräfte handelt nach dem Motto, 'der Staat verteidigt die Freiheit der Bürger, das Kapital versucht sie zugunsten unternehmerischer Profitinteressen wieder zu nehmen'. Zweifelsohne ist Berlusconi ein geriebener Medien-Tycoon, der rechtsnationalistische Stimmungen schürt und höchst private, demokratiefeindliche Absichten verfolgt. Trotz konkurrierender Interessen und der allseits beklagten "Berlusconisierung" der Medienlandschaft arbeiten Staat und Kapital in Italien bei der Konsolidierung gesellschaftlicher Hegemonie aber auch bestens zusammen. Ansonsten hätte Berlusconi niemals eine solch dominante Stellung in Politik, Wirtschaft und Kultur einnehmen können. Auch die RAI ist keineswegs ein Muster für Meinungspluralismus und Unabhängigkeit, wird die Ernennung des neunköpfigen Verwaltungsrates an der Spitze des Senders doch von Regierung und Opposition ausgehandelt. Inzwischen sind die Chefredakteure von zwei der drei RAI-Programme durch Gewährsleute der Regierungsparteien ersetzt worden. Auch viele kritische Journalisten und Moderatoren wurden im Laufe der Jahre geschaßt. Nur RAI Tre konnte sich einen Teil seiner Unabhängigkeit bewahren - was aber nach Meinung vieler Kritiker, die kaum noch Unterschiede zwischen staatlichen und privaten Sendern zu erkennen vermögen, einem Feigenblatt gleichkommt.

Kurzum, wenn im Mutterland der Zeitlupe die RAI nun auf Wiederholungen verzichtet, während die privaten Kanäle von Berlusconi das munter weiterbetreiben, muß es übergreifende Gründe dafür geben, die hitzigen Diskussionen im Fußballvolk abkühlen zu wollen. Diese könnten darin liegen, daß anders als in Deutschland, wo die Schiedsrichterzunft nach diversen Bestechungs-, Wett- und Mißbrauchsskandalen ebenfalls einen hohen Ansehensverlust hinnehmen mußte, die Menschen in Italien tatsächlich massenweise auf die Straße gehen, um gegen die Sparpolitik der Regierung zu protestieren. Im vergangenen Jahr wurden Streiks und Demonstrationen organisiert, an denen über eine Million Menschen teilnahmen, um für ein besseres soziales Netz gegen die Auswirkungen der Krise zu kämpfen. Italien hat ähnlich wie Griechenland extrem hohe Staatsschulden und versucht sie, zu Lasten der unterprivilegierten Bevölkerung abzubauen. In den kommenden drei Jahren sollen 25 Milliarden Euro eingespart sowie massive Stellenstreichungen quer durch alle öffentliche Dienste vorgenommen werden.

Seit dem 25. Juni, nachdem der größte Gewerkschaftsverband im Land einen eintägigen Generalstreik ausgerufen hatte, traten nacheinander verschiedenste Berufsgruppen in den Streik. Den öffentlich Bediensteten und Sozialarbeitern folgten die Lehrer, Dozenten, Studenten, Kulturschaffenden, die Eisenbahner, Bus- und Straßenbahnfahrer, Flugbediensteten, die Ärzte und Krankenschwestern, die Fährbediensteten und die Bauern. Schließlich protestierten sogar die Polizisten, Richter, Staatsanwälte und Diplomaten gegen die Sparbeschlüsse der Mitte-Rechts-Regierung. Eine kollektive Massenbewegung hat sich daraus zwar noch nicht entwickelt, denn die Gewerkschaften achten darauf, daß die Berufsgruppen getrennt voneinander bleiben, doch die Stimmung in Italien ist geladen und könnte sich schnell zu einem politischen Flächenbrand ausweiten, an dem die gesellschaftlichen Funktionseliten - auch im Staatssender RAI - sicherlich kein Interesse haben. Liegt es da nicht nahe, die hitzigen Debatten und aufgestauten Frustrationen über die Entscheidungen der Schiedsrichter wieder auf das erwünschte "Polemik"-Maß herunterzuschrauben, damit der massenbewegende Fußball nicht zum Funken im Pulverfaß wird?

Übrigens: Kaum hatte die RAI ihre Zensurmaßnahme verkündet, meldete sich der selbst unter Beschuß stehende DFB-Schiedsrichterchef Herbert Fandel zu Wort und plädierte im "Tagesspiegel" dafür, auch in Deutschland auf Zeitlupen im Fernsehen und in den Stadien zu verzichten, um Schiedsrichter zu schützen. In den Stadien der Welt werden Wiederholungen auf Anweisung des Weltverbandes FIFA ohnehin nur noch sehr selten eingespielt. Das hat auch seine Gründe, wie Fandel meint: "Im Stadion muss man keine zusätzlichen Emotionen aufwühlen, allein schon aus Sicherheitsgründen." Es geht also um weit mehr als um "Emotionen" ...

2. August 2010