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KOMMENTAR/095: GOAL - zahnloser Papiertiger oder wehrhafte Stimme der Geschundenen? (SB)



Wenn im Mutterland des Handballs mit dem mitgliederstärksten Verband und der sportlich stärksten Profiliga der Welt eine Spielerorganisation mit dem Namen GOAL Deutschland e.V. gegründet wird, dann läßt das aufhorchen. Um so mehr, als die "Gemeinschaftliche Organisation aller Lizenzhandballer" sich zum Ziel gesetzt hat, sich für die Rechte der Profispieler einzusetzen. Geplant sei die Einrichtung eines Netzwerks, in dem die Mitglieder etwa bei Rechts- oder Steuerfragen Hilfe bekommen können. Zudem soll mehr Mitsprache beim engen Terminkalender und bei der Lizenzierung sowie bei Fragen des Anti-Dopings erwirkt werden.

"Noch nie zuvor hat es eine Vereinigung gegeben, die sportliche, wirtschaftliche und rechtliche Interessen von Spielern der Handball-Bundesliga so vehement und organisiert artikuliert und auch wahrnehmen wird", erklärte der ehemalige Nationalspieler Volker Michel, Mitglied des Vorstandes von GOAL, am Rande des Super-Cups zwischen den Branchenriesen THW Kiel und dem HSV Hamburg in München.

Insbesondere die Belastungen durch Einsätze in der Bundesliga, im Europacup, im DHB-Pokal, in der Nationalmannschaft sowie bei diversen Freundschafts-, Qualifikations- und Testspielen sind so sehr gestiegen, daß viele Profis nicht mehr länger bereit sind, die dabei unvermeidlich auftretenden körperlichen Verschleißfolgen und Verletzungen, die bis zur Invalidität reichen können, als "Künstlerpech" oder "Berufsrisiko" kritiklos zu schlucken. Die sportliche Leidenschaft weist im Profigewerbe bereits zu viele arbeitsaffine Charaktereigenschaften auf, als daß man sie noch mit einem Achselzucken abtun könnte.

Galt insbesondere jungen Menschen der Sport lange als schöpferischer Ausgleich von den Zwängen in Beruf, Ausbildung, Schule oder Studium, als lust- und spaßbetonte Möglichkeit spielerischer Selbstentfaltung und -verwirklichung in gemeinschaftlichen Zusammenhängen, so ist das Spiel in seiner nach ökonomischen Leistungs- und Erfolgsprinzipien organisierten Form als Schwerstarbeit auf die Profispieler zurückgekehrt. Das schließt Spaß natürlich nicht aus, doch die Zwänge entfremdeter Sportspielarbeit treten immer deutlicher zutage. Professionell betriebenes Spiel gleicht heute mehr denn je der Akkordarbeit mit all seinen negativen Begleiterscheinungen auf Körper und Psyche der Interpreten.

Je mehr die Bundesliga professionalisiert und kommerzialisiert wurde und parallel dazu die körperlichen Anforderungen im modernen Tempo- und Akrobatikhandball stiegen, der im wesentlichen der besseren Vermarktung im Fernsehen geschuldet ist, desto deutlicher wurde insbesondere den gestandenen Profis, daß sie im buchstäblichen Sinne nur "Spielermaterial" sind. Was wunder, daß auch die Wortwahl der Vertragsspieler, die bei Klubspielen oft alle zwei, drei Tage ihre Knochen hinhalten müssen (als Nationalspieler bei Großturnieren zum Teil sogar täglich) und nicht selten nur noch fitgespritzt "auf der Platte" stehen können, immer unverblümter wurde. Als beispielsweise Kapitän Guillaume Gille vor drei Jahren seinen Vertrag beim HSV Hamburg verlängerte, da meinte der Franzose mit Blick auf das zu erwartende Hammer-Programm mit rund 200 Spielen in den nächsten zwei Jahren in der "Bild"-Zeitung: "Das ist unmenschlich. Die Grenze ist längst überschritten. Wir sind doch kein Stück Fleisch, das man so einfach hin und her schiebt." Und weiter: "Wir Spieler haben Pflichten. Aber auch Rechte. Wir müssen uns über Ländergrenzen hinweg zusammenschließen und protestieren. Denn, noch geht's bei uns ohne Doping. Aber bei dem Termin-Kalender wohl nicht mehr lange..."

GOAL, die auch in Kontakt mit Gewerkschaftsvorreitern in Spanien, Dänemark oder Frankreich steht, will die Hammer-Programme für Spitzenspieler mit 100 Pflichtpartien pro Saison nicht mehr länger hinnehmen. "Das zermürbt den Körper, das zerschleißt den Geist, das vermindert die Qualität des Spiels. Wir müssen die Schraube einfach zurückdrehen", betonte Vorstandsmitglied Johannes Bitter. "Während der Saison haben wir kaum einen freien Tag und nie ein freies Wochenende. Gerade durch den vollen internationalen Kalender ist die Situation im Handball extremer als in vielen anderen Sportarten."

Hinzu kommt, daß auch im Anti-Doping-Kampf die Rechte der Spieler mit den Füßen getreten werden. Über 60 Athleten, unterstützt von verschiedensten Sportlergewerkschaften, haben bereits vor einem belgischen Gericht Klage eingereicht gegen die Umsetzung des Codes der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) in belgisches Recht. Auch die internationale Fußballspieler-Gewerkschaft (FIFPro) will sich gegen Dopingregeln wehren, die sich nicht mit Datenschutz- und Arbeitsrechten der EU vertragen (z.B. 24-Stunden-Verfügbarkeit für Kontrollen, eine Stunde Hausarrest pro Tag etc.). Das gilt auch für die European Elite Athletes Association, die etwa 25.000 Sportler aus Mannschaftssportarten vertritt, darunter auch mehrere europäische Handball-Gewerkschaften. Die Repräsentanz von Spielergewerkschaften in der Öffentlichkeit, die Darstellung ihrer Standpunkte und Protesthaltungen, liegt allerdings bei null. Das liegt auch daran, daß die Sportmedien, insbesondere in Deutschland, auf seiten der Repression stehen und sich um Sportlerrechte herzlich wenig scheren. Das hat etwas mit dem Grundopportunismus des Sportjournalismus (siehe die neue Desillusionierung im Sport als sozialer Katalysator der präventiven Überwachungsgesellschaft) zu tun, der sich immer nach den gesellschaftlich stärksten Kräften ausrichtet - etwas, das Profisportlern sicherlich auch nicht vollkommen fremd sein dürfte ...

Handball-Nationaltorhüter Johannes Bitter indes ist neben Mitbegründer und Vorstandsmitglied Marcus Rominger (Torwart beim TV Großwallstadt) einer der zugkräftigen Namen in der neuen Vereinigung, der sich binnen kurzem 70 Profis, darunter 15 aktuelle Nationalspieler, angeschlossen haben sollen. Rominger hofft mittelfristig auf "150 bis 200 Mitglieder". In der Bundesliga hatten sich einige Spieler bereits 2006 in der Vereinigung der Handball-Vertragsspieler (VHV) zusammengeschlossen. Doch damals beschränkte sich die Mitarbeit der Profis eher auf "Schulterklopfen", wie Rominger einmal erzählte. "Immer wieder hörte ich, dass es eine gute Sache sei. Doch eingetreten sind nur wenige, engagiert hat sich niemand wirklich." Auch fehlte die Unterstützung der Nationalspieler.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Weitgehend konsequenzlose Diskussionen um Überbelastungen, Leistungsdruck oder fehlende Regenerationszeiten werden schon seit Jahrzehnten im Handball geführt. Das körper- und kampfbetonte Ballspiel forderte seinen Akteuren schon immer höchsten Tribut ab. Zu den wenigen Weltklassespielern, die ihren Sport mit ganzer Hingabe betrieben, sich aber dennoch ein kritisches Verhältnis zu ihrer Ballkunst bewahrt haben und damit auch nicht hinter dem Berg hielten, gehörte Hansi Schmidt, der in den 1960/70er Jahren als "menschlicher Hubschrauber" zur Legende wurde. In seinem berüchtigten Aufsatz "Foulspiel als Pflichtprogramm - Erfahrungen als Aktiver und Trainer" [1] gab er u.a. Einblicke, was sich hinter der Meta-Sprache der Trainer und Mäzenen, die Spieler müßten "gesunde Härte" und "bedingungslosen Einsatz" zeigen, als unausgesprochene Aufforderung wirklich verbarg: "Alle nur denkbaren, versteckten Fouls mit dem Ziel, den Gegenspieler zu entnerven, zur Resignation zu zwingen oder gar - wenn auch in seltenen Fällen - durch vorsätzliche Verletzung kampfunfähig zu machen." Wer heute den Namen Hansi Schmidt bei Wikipedia nachschaut, der findet nicht die leiseste Andeutung, daß der Handballstar einmal als "ewiger Nörgler", "Querkopf auf Lebenszeit" oder "Quertreiber, der zu aktiven Zeiten immer der Unbeliebteste in der Mannschaft war", geschmäht wurde.

Mag man dem aktuellen Bundesliga-Geschehen aufgrund von Regeländerungen und Schiedsrichter-Eingriffen auch mehr "Athletik", "Tempo" und "Technik" bescheinigen als der "Klopperliga" von einst, so kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich bei ungebrochen harten und durch ökonomische Zwänge noch zusätzlich verschärften Wettkampfbedingungen im Spitzenhandball die sportlichen Erfolgsstrategien lediglich modifiziert haben. Die schonungslose Brachialgewalt, mit der sich früher oft ein Spieler seinen Weg durch den knüppelnden Abwehrverband zu bahnen suchte, ist einem Spielertypus gewichen, der sich als flinker und technisch variantenreicher Allrounder durch ein Höchstmaß an athletischen Leistungen auszeichnet. Die oft explosiven Gewichts- und Schwungeinsätze der handballspielenden "Zehnkämpfer" gehen natürlich auch auf die Knochen. Nicht von ungefähr wird Branchenführer THW Kiel hinter vorgehaltener Hand als "Kniekillerklub Nr. 1" in Deutschland bezeichnet. Die Kieler GmbH & Co.KG, Vorreiter in Sachen Professionalisierung des Handballs, hatte bis 2009 den wohl weltbesten halblinken Rückraumspieler Nikola Karabatic unter Vertrag. Dem französischen Welthandballer, dessen "Energieleistungen" wesentlich dazu beitrugen, daß Kiel auf nationaler wie internationaler Bühne so erfolgreich spielte, wurde vom damaligen Flensburger Manager Thorsten Storm bescheinigt: "Das ist ein geiler Typ. Aber wenn das so weitergeht, ist der in zwei, drei Jahren auf." Karabatic spielt inzwischen wieder in der französischen Liga, was neben anderen Gründen auch daran liegt, daß sich der heute 26jährige Profi - bei allem sportlichen Ehrgeiz - in der Bundesliga nicht verheizen lassen möchte. Sein Nachfolger im THW-Trikot, Daniel Narcisse, bezahlte den Gewinn der Deutschen Meisterschaft und der Champions League übrigens vor wenigen Wochen mit einem Kreuzbandriß in linken Knie. Bereits nach dem EM-Gewinn Anfang des Jahres waren dem Franzosen freie Gelenkkörperchen aus dem rechten Knie herausoperiert worden - Folge der als ganz "normal" erachteten Abnutzungs- und Verschleißwirkungen im Profigewerbe. Karabatic indes gehörte auch zu einer Reihe prominenter Spieler, die Anfang 2008 nach dem Vorbild der Handball-Gewerkschaft in Spanien, in der 90 Prozent aller Spieler der heimischen Liga organisiert sind, die "European Players Handball Union" (EPHU) gründeten. Für Deutschland arbeitet Weltmeister Christian Schwarzer, zur Zeit Nachwuchstrainer im Handballbund, in der EPHU.

GOAL vermeidet den Begriff Gewerkschaft absichtlich - das sei negativ behaftet, wie Vorstandsmitglied Volker Michel sagte. Die Spielervereinigung werde stark auf Kooperation, statt auf Konfrontation setzen. Alles andere sei naiv und hasardeurhaft, so Michel. Auch einen Boykott von irgend etwas werde es nicht geben - darin sollen sich die GOAL-Vertreter einig gewesen sein, berichtete die "Handball-Woche". Das Wort "Spielerstreik" ist vorerst noch nicht gefallen - obwohl er die stärkste Waffe aller solidarischen Verbände im Arbeitskampf darstellt. Den Handballern ist deutlich anzumerken, daß sie die Pferde nicht scheu machen wollen. Das ist entweder Programmatik - dann wird GOAL ein zahnloser Tiger bleiben - oder Strategie. Letzteres könnte dazu führen, daß im entpolitisierten Sport die körperlich geschundenen und meistenteils zu reinen Verfügungsobjekten von Vereinen, Verbänden und Institutionen degradierten Sportler wieder eine wehrhafte Stimme bekommen. Als stete Mahnung auf ihrem Weg könnten ihnen vorerst die vollangepaßten Athletenvertreter der Sportfach- und Dachverbände dienen, die ausschließlich die Harmonisierung unvereinbarer Widersprüche betreiben.

Anmerkung:

[1] Hans-Günther Schmidt "Foulspiel als Pflichtprogramm - Erfahrungen als Aktiver und Trainer". Erschienen 1982 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg. Herausgeber Gunter A. Pilz

31. August 2010