Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/109: Ski-WM in Garmisch - von wegen "keiner will einen Sturz sehen" (SB)



"Ich wünsche mitreißende und unvergeßliche Wettkampftage", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung der alpinen Ski-Weltmeisterschaften in Garmisch-Partenkirchen (7. bis 20. Februar). "Diese WM ist ohne Zweifel für die ganze Bundesrepublik Deutschland eine gute Visitenkarte". Das Motto "Festspiele im Schnee" sei nicht zu hoch gegriffen.

Neben gewohnten Schönwetterreden, daß alles Erdenkliche getan werde, um die gesundheitlichen Gefahren für die alpinen Skirennläufer zu minimieren, die Sicherheitsmaßnahmen zu erhöhen sowie maximale Unfallversorgung zu gewährleisten, sind allerdings immer öfter Stellungnahmen zu hören, die alles andere als eine "gute Visitenkarte" vom Skizirkus abgeben. Schlimmer noch, die Unverblümtheit, mit der im Sport-Medien-Komplex über lebensgefährliche Stürze, die Sensationslust der Zuschauer an den Unglückspisten oder die TV- und zuschauergerechte Präparation der Abfahrten zu spiegelglatten, praktisch schneefreien Hochgeschwindigkeits-Eisbahnen gesprochen wird, verstärkt den Eindruck, daß selbst die scheinbar sachlich geführte Unfall- und Sicherheitsdiskussion ("Airbag für Rennläufer") noch zum Stimulus des Risiko-Happenings beitragen soll, um im Rahmen kulturindustrieller Hegemonie maximale Unterhaltungs- und Akzeptanzwerte zu erwirtschaften.

So erklärte der frühere Weltklasse-Rennläufer Marc Girardelli vor dem Hintergrund der Unfallserien im Ski Alpin, insbesondere des schrecklichen Sturzes von Hans Grugger vor wenigen Wochen in der "Mausefalle" auf der Streif in Kitzbühel, gegenüber der Süddeutschen Zeitung: "Schlussendlich lebt die Abfahrt von Kitzbühel auch von diesen tragischen Unfällen, dem Reiz des Gefährlichen. Da dürfen wir uns nichts vormachen. Keiner will einen Sturz sehen, aber wenn er dann doch passiert, redet man lange darüber, dass man da live dabei war. Im Prinzip wartet jeder drauf, dass es einen zerlegt." [1]

Es läßt sich trefflich darüber streiten, ob wirklich niemand einen Sturz sehen will oder gar insgeheim herbeiwünscht, denn "im Prinzip", so bestätigt auch Girardelli, wartet schon jeder darauf - aber das offen auszusprechen und zuzugeben? Schließlich gilt die Schaulust oder das Gaffen in anderen gesellschaftlichen Bereichen als anstößig, etwa wenn Schaulustige zu Unfallorten pilgern, um sich dort am Leid der Verunglückten mit wohligem Schauer, selbst nicht betroffen zu sein, zu ergötzen. Um ungehindert ihrer Arbeit nachgehen zu können, sind Rettungskräfte mitunter sogar gezwungen, allzu aufdringliche Zaungäste von den Unglücksorten zu verscheuchen, da sie nicht nur auf das Unangenehmste Maulaffen feilhalten, sondern auf der Jagd nach spektakulären oder schrecklichen Bildern den Verunfallten mit vorgestreckten Handys oder Digitalkameras immer penetranter auf die Pelle rücken. Nicht selten sind die Unglücksbilder, wozu auch Aufnahmen in für die Betroffenen sozial demütigenden Situationen gehören, später im Internet zu finden, wo sie voyeuristisch ausgeschlachtet werden.

Im Unterhaltungsgewerbe des Profisports indes scheint das Begaffen von künstlich herbeigeführten Gefahrensituationen und erwartbaren Unfallszenarien allseits akzeptiertes Programm zu sein. Der Skizirkus lebt davon, daß die Rennläufer zum Teil lebensgefährliche Stürze fabrizieren, was beim Publikum Spannung und Nervenkitzel erzeugt.

"Keiner will einen Sturz sehen", meint Girardelli. In der direkten und unverstellten Konfrontation mit dem Leid des anderen könnte sich offenbaren, daß das fremde das eigene Leid ist oder sein könnte. Diese Erkenntnis und die unmittelbaren Konsequenzen daraus werden nur zu gern vermieden. "Sturz sehen" beinhaltet denn auch bereits einen kognitiven Abstand zum anderen, der je nach Kultur und Erziehung Raum für alle Spielarten sozial determinierter Distanznahme läßt.

Das Unterhaltungsgewerbe nutzt diese Distanznahme, um sie nach dem Stand des moralisch und technologisch Möglichen kommerziell auszubeuten. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau erteilte der Alpin-Direktor des Deutschen Skiverbandes (DSV), Wolfgang Maier, einer veränderten Taillierung der Skier, um wieder größere Radien zu fahren, ebenso eine Absage wie einer Geschwindigkeitsdrosselung. "Wer wieder Radien von 70, 80 Metern fahren will wie um 1985, der geht an der Zeit vorbei. Wer die Geschwindigkeit herunterfahren will, der muss sich über eines im Klaren sein: Dann muss der Sport fernsehtechnisch anders und aufwendiger aufbereitet sein. Wir kommen an einer gewissen Show nicht vorbei. Wir sind abhängig vom Fernsehen", so Maier [2], der die Produktion von spektakulären Bildern sogar zur Existenzfrage stilisiert: "Wenn wir nicht mehr gesehen werden, gibt es den Rennsport nicht mehr."

Obwohl sich selbst hartgesottene Rennläuferinnen wie die Amerikanerin Lindsey Vonn "schockiert" zeigten, daß die Skipiste während der WM in Garmisch von oben bis unten so mit Wasser präpariert wurde, daß sie total vereist war (Vonn in der SZ: "So etwas habe ich noch nie gesehen."), gilt für die Funktionäre und Pistenbauer offenbar die Maxime, die Gratwanderung zwischen unfallfreien und -trächtigen Fahrten so auszutarieren, daß zur Gewährleistung von Show und Spektakel stets nur wenige Athleten über die Klinge springen. Diese können dann mit dem Hinweis, daß wir in einer "Risikogesellschaft" leben, bequem als "unvermeidbares Restrisiko" verbucht werden - was den Politikern, die sich um sportliche "Visitenkarten" für den Wirtschaftsstandort Deutschland sorgen, auch ganz gut in den Kram paßt. Schließlich gilt es in Zeiten zunehmender sozialer Unsicherheit sowie der Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbereiche ein gesellschaftliches Klima zu erzeugen, in dem sich der einzelne an steigende Lebensrisiken emotional zu gewöhnen hat. Und was könnte sich dafür besser eignen als Extrem- und Risikosport im Eventformat, der das Jubelvolk auf maximale Spaßdistanz zu den todesmutigen Objekten seiner Unterhaltung bringt, damit es weder das fremde noch das eigene Leid zu erkennen vermag. Erst unter diesem Gesichtswinkel bekommt der Ausspruch von Angela Merkel bei der WM-Eröffnung, sie wünsche sich "mitreißende und unvergeßliche Wettkampftage", seine wahre Bedeutung.

Anmerkungen:

[1] www.sueddeutsche.de. Ski-WM 2011: Marc Girardelli im Interview. "Im Prinzip wartet jeder drauf, dass es einen zerlegt". 07.02.2011.

[2] www.fr-online.de. Interview mit DSV-Chef Wolfgang Maier. "Wir sind abhängig vom Fernsehen". 07.02.2011.

21. Februar 2011