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KOMMENTAR/110: Bürgerbefragung - Braunschweig wählt Spiele statt Brot (SB)



Der ehemalige Bayern-Manager Uli Hoeneß teilt mit den Gewinnern der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft die Gewißheit, daß Spiele systemstabilisierend wirken, und zwar gerade in Zeiten knapper werdenden Brotes. "In allen früheren Krisen hat sich gezeigt, daß sich die Fans das Vergnügen am Fußball, die Muße, am Samstag ins Stadion zu gehen, nicht haben nehmen lassen. Wer die Woche über Probleme und Ärger hat oder Sorgen um den Arbeitsplatz, der braucht ein Ventil am Wochenende", erklärte der Wurstfabrikant vor knapp zwei Jahren gegenüber der WirtschaftsWoche [1], als noch nicht gänzlich abzusehen war, wie sich die Finanz- und Wirtschaftskrise auf das Fußballgeschäft sowie das Verhalten der Fan-Kundschaft auswirken werde.

Inzwischen wissen wir, daß der FC Bayern München in der vergangenen Saison mit einem Rekordumsatz von 323 Millionen Euro als erster Bundesligaverein die 300-Millionen-Grenze überschritten hat und die Vereine der 1. und 2. Bundesliga zum sechsten Mal in Folge ihre Umsätze auf insgesamt 2,1 Milliarden Euro steigern konnten. Zudem verzeichnete die 1. Liga, trotz staatlich gestützter Schuldenklubs, einen Rekordumsatz von mehr als 1,7 Milliarden. Darüber hinaus konnten die Profiligen anderer Mannschaftssportarten wie Handball-Bundesliga, Deutsche Eishockey Liga und Basketball-Bundesliga ungeachtet der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ihre Umsätze in der vergangenen Saison auf hohem Niveau stabilisieren, wie eine Untersuchung der Beratungsfirma "Deloitte Deutschland" ergab.

Der Fan hingegen, setzt man ihn einmal mit dem Durchschnittsbürger gleich, hat auf der ganzen Linie verloren. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in der Gesellschaft vertieft, Kinder- und Altersarmut steigen, das Heer der Geringverdiener wächst, den Ein-Euro-Jobbern sollen bald Null-Euro-Jobber folgen, und von den (Noch)Berufstätigen macht sich bereits jeder siebte in Deutschland nach Feierabend auf den Weg zur zweiten Arbeitsstelle (Forsa-Umfrage), um finanziell über die Runden zu kommen. Angesichts der zunehmenden sozialen Spannungen und des Sparkurses der Bundesregierung warnte Ende vergangenen Jahres die Gewerkschaft der Polizei (GdP) vor einer "weiteren Radikalisierung" von Bürgern. Der GdP-Vorsitzende Witthaut mahnte, der Streit über das Bahnprojekt "Stuttgart 21" habe gezeigt, daß die Bürger stärker beteiligt werden wollten. Weil dies in Stuttgart nicht ausreichend der Fall gewesen sei, gehe ein Teil der Bevölkerung auf die Barrikaden.

Die Antwort der Politik ließ nicht lange auf sich warten. Wo wie bei Sportevents die Emotionen hochfliegen, Konsumwünsche auf staatlich kontrollierte Weise befriedigt sowie Sehnsüchte nach kollektivem Zusammenhalt durch karnevaleske Feiergemeinschaften abgestillt werden, können die Krisenverwalter noch punkten. "Wir reagieren als erste deutsche Großstadt auf die durch 'Stuttgart 21' ausgelöste Debatte über eine rechtzeitige Bürgerbeteiligung bei Großprojekten", brüstete sich Oberbürgermeister Gert Hoffmann (CDU), nachdem seine Partei zusammen mit der FDP per Ratsmehrheit eine Bürgerbefragung in Sachen Fußballstadion in Braunschweig durchgesetzt hatte. In der ersten Bürgerbefragung der Stadtgeschichte stimmten am 6. Februar 2011 60,7 Prozent dafür, daß das Eintracht-Stadion mit Steuergeldern in Höhe von 14,5 Millionen Euro modernisiert wird. Dagegen stimmten 39,7 Prozent. Obwohl bei einer Wahlbeteiligung von nur 33 Prozent zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger die Befragung mit Desinteresse gestraft oder schlichtweg boykottiert hatten, bezeichnete OB Hoffmann die Beteiligung als "stolze Quote" und kündigte weitere Bürgerbefragungen (die anders als Bürgerentscheide rechtlich nicht verbindlich sind) an. Da sich alle Fraktionen bereits im Herbst darauf festgelegt hatten, das Ergebnis in jedem Fall zu akzeptieren, wurde dem Bürgervotum im Stadtrat am 22. Februar - mit den Ja-Stimmen der Ausbau-Gegner! - einstimmig gefolgt. Soviel also zu den Lehren aus Stuttgart 21 - die parlamentarische Opposition, wie sie sich insbesondere die DIE LINKE.Braunschweig auf die Fahnen schreibt, die sich in Sachen Stadionausbau strikt gegen "Prestigeobjekte und die Betreuung von Reichen" ausgesprochen hatte, läßt sich durch Ratsabsprachen sowie zweifelhafte demokratische Mehrheitsentscheide, deren Zustandekommen auch von der Linken kritisiert wird, bereitwillig in die Zügel nehmen.

Und darum geht es in Braunschweig: Um die Einnahmesituation des Wirtschaftsunternehmens Eintracht Braunschweig GmbH & Co. KGaA, zur Zeit Tabellenführer der 3. Liga und damit heißer Aufstiegskandidat, mit Geldern der öffentlichen Hand zu verbessern sowie den Wohlfühlfaktor für Sponsoren zu erhöhen, sollen neue Reizpunkte für das finanziell bessergestellte Publikum gesetzt werden. Geplant ist u.a. der Umbau der Westtribüne zur Schaffung von ca. 800 Ehren- und Sponsorenplätzen sowie von 248 VIP-Logenplätzen mit Gastronomiebereichen. Überdies sollen über dem Marathontor weitere 326 Sitzplätze entstehen. Ferner werden Funktionsräume im Erdgeschoß umgebaut, darunter Umkleiden, Behinderten-WCs sowie Presse- und TV-Bereiche.

Mögen einige Baumaßnahmen auch notwendig sein, so entzündete sich die Kontroverse vor allen Dingen an den "Luxus-Ausbauten". "Für den Bau der VIP-Logen und der Business-Lounge müssen auch zwei Etagen der bisherigen Haupttribüne abgerissen werden und die Haupttribüne erhält dazu einen komplett neuen Vorbau. Das ganze kostet zusammen mit dem Überbau der Marathontore ca. 8. Mio EUR, also die Hauptmasse dieses Stadionausbaus", reklamierte Die Linke.Braunschweig und sprach sich dafür aus, die Steuergelder lieber in andere soziale Projekte, die bislang mit der Begründung "nicht finanzierbar" abgelehnt wurden, zu investieren. In einer Stadt wie Braunschweig, in der jedes fünfte Kind in einer Familie lebt, die auf Hartz IV angewiesen ist, brachten die Grünen sowie die ebenfalls im Rat vertretene Bürgerinitiative Braunschweig (BIBS) ähnliche Argumente vor.

Doch weder Infostände noch Plakat- und Flugblatt-Aktionen mit sozial polarisierenden Formeln wie "Stadion-Ausbau 14.500.000,00 Euro oder 122 Sportplätze 10 Jahre unterhalten / kostenloses Essen an allen Grundschulen 6 Jahre lang" (Die Linke) oder Gegenaufrechnungen wie "500 Menschen ein Jahr lang oder 50 Menschen zehn Jahre lang mit einem Monatseinkommen von 2400 EUR beschäftigen (z. B. als Sozialarbeiter an Schulen und Kindertagesstätten)" oder "ein neues Hallenbad in der Weststadt bauen" (Die Grünen) halfen, die männlich dominierte Fußball-Anhängerschaft zu einem mehrheitlichen "Nein" zum Stadionumbau zu bewegen. Der Profifußball bleibt das Opium des Volkes, und es wird erfahrungsgemäß am vehementesten von jenen verlangt (siehe einige politikverdrossene Fanklubs in Braunschweig, deren Feindbild offenbar linke "Drecksäue", "Ideologen" und "Nein-Sager" sind), die über viele, viele Jahre an den Stoff der Fußballindustrie gewöhnt wurden, obwohl ihre eigene Lebenswirklichkeit kaum unterschiedlicher zu der der Fußballprofis auf dem Spielfeld und den reichen Bürgern auf den Nobelplätzen sein könnte. Damit das auch so bleibt, spielen sie nicht miteinander, deshalb sitzen oder stehen sie nicht nebeneinander, deshalb werden sie durch bauliche Maßnahmen und Sicherheitspersonal fein säuberlich voneinander getrennt. Das gesellschaftliche Oben und Unten muß gewahrt bleiben, als soziales Distinktionsmittel erfüllt das Fußballstadion, auch wenn sich alle als Löwen-Fans sehen, seine herrschaftsförmige Funktion.

Statt gegen die VIPs in den Logen und ihre Hofberichter in Presse, Funk und Fernsehen aufzubegehren, verteidigten die Eintrachtfans die merkantilen Argumente ihrer Fußballbosse, Merchandiser, Aktionäre und Sozialsponsoren (um später wieder den "wahre Fankultur" zerstörenden Fußball-Kommerz zu kritisieren), die sie mit emotionalem Junkfood und Charity-Aktionen am Band halten, damit ihnen keine sozialrevolutionären Flausen in den Kopf kommen. Auf dieses Verhalten konnten CDU/FDP/SPD in Braunschweig bauen - die gleichen Parteien, die auf Bundesebene seit Monaten darum feilschen, wie sie das menschenverachtende Hartz-IV-Regime auf Almosenniveau halten können, damit die wachsende Armutsbevölkerung sich weiterhin nur Fußball am Samstag, wenn überhaupt, leisten kann. Dem Billigtarif ist selbstverständlich inbegriffen, daß der brave Fan seine über die Woche aufgestauten Probleme und Sorgen nicht etwa bei Massenprotesten auf der Straße, sondern im Eintracht-Stadion Luft macht, mehr noch, daß er sich den Stadtoberen und ihren Vertretern im Verein dankbar erweist, ihm dieses Ventil, das er laut Hoeneß "braucht", finanziert zu haben. Deshalb erklärten die Hartz-IV-Kompromiß-Parteien CDU/FDP/SPD ihre uneingeschränkte Unterstützung für den Stadionausbau, während die Ratsmehrheit aus Schwarz-Gelb gefahrlos die erste Bürgerbefragung der Stadt anberaumen konnte, da sowohl die offizielle Informationspolitik der Stadtverwaltung als auch die in Braunschweig maßgebliche Zeitung "BZ" und ihr Anzeigenblatt "NB" kritische Einwände bei ihren Werbefeldzügen weitgehend ausblendeten. Wohlgemerkt nachdem der Ausbau des Stadions vom Rat bereits 2008 beschlossen, wegen der globalen Wirtschaftskrise (die sich nur in der Lesart der Großparteien verflüchtigt hat) und des Abstiegs aus der 2. Liga aber aufgeschoben worden war. Andere Stadtprojekte, die einer Bürgerbefragung ungewissen Ausgangs wert gewesen wären, wurden gar nicht erst auf die Agenda gesetzt.

Anmerkung:

[1] www.wiwo.de. Bayern-Manager Uli Hoeneß im Interview. 14.03.2009.

27. Februar 2011