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KOMMENTAR/118: Sportverbände führen umstrittene Geschlechtstests wieder ein (SB)



Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat Geschlechtstests für Frauen wieder eingeführt, nachdem diese vor rund zwölf Jahren aus medizinischen, ethischen und wirtschaftlichen Gründen verworfen bzw. nur noch in Einzelfällen gestattet worden waren. In Abstimmung mit dem IOC, das die neue Regel Anfang Juli bei seiner Vollversammlung verabschieden will, so daß sie bereits bei den Olympischen Spielen 2012 in London zur Anwendung kommen kann, hat der Leichtathletik-Weltverband IAAF die Regelung übernommen und zum 1. Mai für seinen Geltungsbereich in Kraft gesetzt. Wegen seiner unrühmlichen Rolle im Fall der südafrikanischen 800-m-Weltmeisterin Caster Semenya, die zur öffentlichen Zielscheibe von Betrugsvorwürfen wegen "falscher" Geschlechtszugehörigkeit geworden war, hatte der internationale Leichtathletikverband viel Kritik einstecken müssen [1].

Nach einer Reihe von Symposien und Konferenzen wollen die Experten nun pietätsvollere Methoden der Geschlechterbehandlung entwickelt haben. Zwar sind die neuen Geschlechter-Regeln für Athletinnen mit erhöhtem Androgenspiegel ("Hyperandrogenismus") noch nicht im Detail bekannt, aus den Verlautbarungen lassen sich aber schon erste Rückschlüsse ziehen, in welche Richtung der Zug gehen wird.

Um nach elfmonatiger Zwangspause wieder ihrer sportlichen Leidenschaft und Profession nachgehen zu können, hatte sich die mittlerweile 20jährige Caster Semenya unbestätigten Medienberichten zufolge offenbar einer Hormonbehandlung unterzogen, die die Unterdrückung ihrer geschlechtlichen Anlagen zum Ziel hatte, damit sie in das zwiegeteilte Geschlechtsschema des Wettkampfsports paßt. Andernfalls hätte sie ihre Spitzensportkarriere aufgeben müssen.

Das IOC versucht nun, den Zwangscharakter der geschlechtlichen Vereindeutigung wie einen freiwilligen Akt erscheinen zu lassen und spricht in einer Pressemitteilung [2] von einem "Recht als Individuum", medizinische Behandlungen und Bestimmungsverfahren "verweigern" zu können. Aus den Worten von Prof. Arne Ljungqvist, Chef der Medizinischen Kommission des IOC und Vizepräsident der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), geht jedoch klar hervor, was Verweigerern blüht, bei denen eine "Hormon-Überproduktion" festgestellt wurde: "Weist eine Frau einen zu hohen Level an männlichen Hormonen auf, wird ihr vorgeschlagen, dass sie sich Maßnahmen unterzieht, die diesen Wert senken und somit einen Start in der Frauenklasse möglich machen. Ist sie nicht einverstanden, verliert sie ihre Startberechtigung." [3]

Die hormonellen Besonderheiten intersexueller Menschen, die in medizinischen Fachkreisen auch als "Störungen" oder "Mißbildungen" klassifiziert werden, sollen wegtherapiert werden - nicht aus am Wohl des Einzelnen orientierten Gründen, sondern aus wettbewerblichen. Gemäß dem biochemischen Funktionsbild der Wettkampfmediziner wird den Athletinnen mit hohem Testosteronspiegel unterstellt, daß sie gegenüber Konkurrentinnen mit weniger männlichen Sexualhormonen einen Wettbewerbsvorteil hätten, der nun ausgeglichen werden müßte. Hier wird die Komplexität dessen, was für Leistungssteigerungen bei Athleten alles ausschlaggebend sein kann und sich bis zum heutigen Tag aufgrund der zahllosen Einflüsse und Wechselwirkungen physiologisch nicht eindeutig bestimmen läßt, kurzerhand auf einen Testosteron-Abgleich reduziert. Entsprechend diesem Denken soll den Athletinnen mit hohem Testosteron-Wert eine Art chemischer Dämpfer verpaßt werden, wobei noch unklar ist, ab welchem Testosteron-Wert leistungsreduzierende Therapeutika, sprich umgekehrtes Doping, zum Einsatz kommen sollen. Medienberichten zufolge peilt die IAAF zehn Nanomol Testosteron pro Liter Blut an, während das IOC in dieser Frage noch unschlüssig ist. Fraglich ist auch, wie der "Therapieerfolg" gemessen wird - sollte Caster Semenya trotz Testosteron-Bremse zum Olympiasieg laufen, werden dann die Endokrinologen ihre pharmakologischen Ursache-Wirkungs-Modelle bezogen auf sportliche Leistungen in Zweifel ziehen? Oder gar nachbessern und weitere mit Intersexualität in Verbindung gebrachte Geschlechtsfaktoren abdämpfen oder eliminieren? Zynisch gefragt: Sind die Experimente an Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen noch nicht ausgeschöpft?

Eingriffe ohne medizinische Indikation in den Hormonhaushalt von Athletinnen, die aufgrund äußerer Geschlechtsmerkmale als Frauen aufwuchsen und sich auch so empfinden, sind auch deshalb umstritten, weil man mit Fug und Recht fragen könnte, warum sie nur bei dem Phänomen des Hyperandrogenismus zur Anwendung kommen sollen und nicht auch bei Athleten mit - aus wettbewerblicher Sicht - "genetischer Vorteilsdisposition" wie beispielsweise vergrößerten Herzen oder Lungen. Wäre es nicht aus Gründen der "Fairneß" oder "Chancengleichheit", auf die namhafte Sportsoziologen und -funktionäre wie Prof. Helmut Digel zum Schutz der Wettbewerbsordnung im Sport immer abzuheben pflegen [4], folgerichtig, auch allen anderen Athleten mit individuell unterschiedlicher Veranlagung therapeutische Behandlungen oder gar operative Eingriffe nahezulegen, andernfalls sie "freiwillig" ihre Sportkarriere an den Nagel hängen müßten? Wird hier nicht bloß die normativer Verfügungsgewalt und ökonomischer Verwertung zuwiderlaufende Erkenntnis vermieden, daß kein Athlet mit dem anderen vergleichbar ist?

Die Medizin-Ethikerin Prof. Claudia Wiesemann kritisiert in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung [5] den Umgang mit Sportlerinnen, die eventuell intersexuell sind, und weist darauf hin, daß jede Sportlerin einige genetische Vorteile habe, die sie größer, kräftiger oder schneller werden lasse als andere. "Warum ausgerechnet diesen einen Aspekt so betonen und nur hier Unfairness anprangern?", fragt die Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen. Sie plädiert dafür, "dass jeder Mensch, der im sozialen Geschlecht Frau aufgewachsen ist und legal als Frau gilt, auch bei Frauen starten darf. Man kann Sportlerinnen nur dann effektiv vor Trauma und Stigmatisierung schützen, wenn man die Zwangs-Tests aufgibt".

Die neue Form der "Zwangs-Tests" sieht vor, daß Anschuldigungen von Konkurrentinnen künftig keine Geschlechtsuntersuchungen mehr auslösen können, wie IOC-Chefmediziner Arne Ljungqvist nach einem Bericht der BBC [6] erklärte, sondern sie sollen lediglich dann erfolgen, wenn eine Athletin während Dopingtests als mit "männlichen Charakteristiken" ausgestattet identifiziert wird. Das heißt im Klartext, die Kontrolleure achten nicht nur darauf, ob bei der Urinabgabe von Sportlerinnen manipuliert wird, sondern inspizieren das entblößte Geschlechtsorgan im nebenherein auch auf die Möglichkeit hin, daß das primäre Geschlechtsmerkmal nicht mit dem Personalausweis übereinstimmt. Bedeutet der vielfach kritisierte "Pinkel-Striptease" bei Urintests bereits einen erheblichen Eingriff in die Privat- und Intimsphäre von Sportlern, so kommt bei Geschlechtstests noch hinzu, daß eine eventuelle spätere Eröffnung, aufgrund der Testwerte seien Zweifel am biologischen Geschlecht aufgetaucht, besonders bei Jugendlichen dramatische Folgen haben kann. Denn für die große Mehrzahl aller Menschen stellt das Geschlecht sowohl in biologischer als auch sozialer Hinsicht ein zentrales Orientativ bei ihrer Identitätsbildung und Sexualität dar.

Ergeben Dopingtests laut Prof. Ljungqvist "abnormale Hormonspiegel" bei einer Athletin, wird ihr vorgeschlagen, daß sie sich Maßnahmen unterzieht, die diesen Wert herabsetzen. Die Entscheidung über den Geschlechtsstatus jeden einzelnen Falls soll von einem internationalen Expertenteam aus dem Bereich Hyperandrogenismus getroffen werden. Das IOC will weltweit Fachzentren für die Diagnostik zur Verfügung stellen. Den Athletinnen wird strikte Vertraulichkeit garantiert.

Soweit die graue Theorie. Bereits die Praxis der Dopingbekämpfung hat gezeigt, daß Vorverurteilungen und Stigmatisierungen in der skandalgetriebenen Öffentlichkeit fast die Regel sind. Aufgrund jüngster Indiskretionen innerhalb der Anti-Doping-Institutionen kursiert gerade eine nach "Doping-Wahrscheinlichkeiten" sortierte "Verdachtsliste" von Sportlern in den Medien (siehe die Veröffentlichung von internen Blutpaß-Untersuchungsergebnissen des Radsport-Weltverbandes UCI durch die französische Sportzeitung L'Equipe), die nicht deutlicher Zeugnis davon ablegen könnte, welch Schindluder mit vertraulichen respektive verdachtshuberischen Datenerhebungen getrieben werden kann. Claudia Wiesemann wies im erwähnten SZ-Interview zudem auf die Problematik hin, daß die Ergebnisse zwar vertraulich sein sollen, "aber innerhalb des Sportverbands, gegenüber dem Trainer, den nahen Angehörigen wird das nicht möglich sein".

Wie würden die Medien wohl reagieren, falls eine junge, erfolgreiche Sportlerin plötzlich keine Wettkämpfe mehr bestreitet, weil bei ihr "abnormale" Hormonwerte festgestellt wurden und sie sich nun einem (geheimen) Untersuchungs- und Therapieprogramm unterziehen muß oder sich diesem verweigert hat und deswegen gesperrt wurde? Würden die "Hilfssheriffs" in den Sportmedien nicht sofort "Dopingbetrug" wittern? Liefe die Aufklärung ihres "Falles" nicht auf ein öffentliches Outing ihrer in Frage stehenden Geschlechtlichkeit hinaus - mit allen Folgen sozialer Stigmatisierung und Ausgrenzung?

Seit etlichen Jahren fordern Betroffenen-Initiativen und -verbände den Schutz von lesbischen, schwulen, transsexuellen, transgender und intersexuellen Jugendlichen. Die Linkspartei hat sich der Forderung angeschlossen. "Junge Menschen, die sich in der Findungsphase ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität befinden, stehen oftmals schutzlos und allein da. Viele leiden unter Depressionen. Einige begehen einen Suizidversuch", erklärte Dr. Barbara Höll, lesben- und schwulenpolitische Sprecherin der Links-Fraktion, Anfang des Jahres bei einer Rede vor dem Deutschen Bundestag. Die Initiative der Linkspartei zur rechtlichen Gleichstellung von Intersexuellen (Antrag 16/12893) wird auch von Bündnis 90/Die Grünen (17/5528) unterstützt. Der organisierte Sport indes scheint nicht nur blind und taub gegenüber der Problematik von intersexuellen Athleten zu sein, sondern den verbreiteten Homo- und Transphobien im (Zuschauer-)Wettkampfsport auch noch mit sexualfeindlichen Gender-Regelungen, Zwangstests und künstlichen Hormondrosseln Vorschub leisten zu wollen.

Anmerkungen:

[1] SCHATTENBLICK -> SPORT -> MEINUNGEN -> KOMMENTAR/083: Wer nicht paßt, wird passend gemacht - Hormontherapie für Caster Semenya?

[2] www.olympic.org. IOC addresses eligibility of female athletes with hyperandrogenism. 05.04.2011

[3] sport.zdf.de. "Sextest kommt wieder." 06.04.2011

[4] www.dosb.de. "Fairplay und Privatheit". Beitrag von Prof. Helmut Digel. 24.04.2011

[5] www.sueddeutsche.de. Medizin-Ethikerin Claudia Wiesemann zum Geschlechtstest im Sport. "Das IOC missachtet den Schutz der Sportlerinnen". Interview von Thomas Hummel. 19.04.2011

[6] http://news.bbc.co.uk/sport2/hi/olympic_games/london_2012/9448126.stm "IOC draws up rules to avoid gender rows at London 2012". 05.04.2011

24. Mai 2011