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KOMMENTAR/129: Leichtathletik-WM in Südkorea - körperfeindliches Zuchtprogramm Hochleistungssport (SB)



Niemand würde ernstlich behaupten wollen, daß der Hochleistungssport gesund sei. Im Gegenteil, fragt man einen Sportmediziner oder -wissenschaftler, ob der moderne Spitzensport etwas mit Gesundheitsförderung oder -erhaltung zu tun habe, würde er einen mitleidig anlächeln und vielleicht sogar unverblümt erklären: "Nicht für die Athleten. Aber für die Fachschaften, die sich an der Diagnose, Therapie und Rehabilitation ihrer vielfältigen Verletzungen und Verschleißschäden gesundverdienen."

Nur in den befristeten Phasen relativer Schmerz- und Beschwerdefreiheit sowie biologisch noch nicht final verbrauchter Körperpotentiale können Spitzenathleten überhaupt ihre "Topleistungen abrufen", wie es immer so schön heißt. Für die gegenwärtigen Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Daegu/Südkorea (27. August bis 4. September) mußten zahlreiche internationale Stars absagen, weil die Mittel der rehabilitativen Medizin nicht ausreichten, um sie rechtzeitig fit zu bekommen. Andere wiederum gehen trotz kleinerer oder mittlerer Blessuren an den Start.

Daß körperliche Extrembelastungen wie im Hochleistungssport den aktiven oder passiven Bewegungsapparat über kurz oder lang schädigen, steht außer Frage. Deshalb enden die meisten Spitzensportlerkarrieren auch aufgrund von irreversiblen Abnutzungs- und Verletzungsfolgen, die sich selbst in den spezialisierten Reha- und Fitmacherkliniken nicht mehr wegtherapieren lassen. Es gibt nur wenige Ausnahmefälle, wo Topathleten ihre Laufbahn beendeten, ohne mindestens eine schwere Verletzung im Laufe ihrer Karriere durchgemacht zu haben - einmal abgesehen von den sogenannten "Wehwehchen", die als solche gar nicht als "Verletzungen" registriert werden, obwohl sie doch oft die Vorstadien für spätere, noch gravierendere Schädigungen darstellen. Viele junge Talente beschreiben die monatelangen Rehamaßnahmen nach schweren Verletzungen als die schmerz- und leidvollsten Erfahrungen ihres bisherigen Lebens. Die anschließende Wiederaufnahme des Leistungstrainings (möglichst bis zur alten Stärke und darüber hinaus) wird dann, wer will es ihnen verdenken, wie eine große Befreiung empfunden, obwohl es die Ursache für das seelische und körperliche Martyrium war. "Auf Regen folgt Sonnenschein", heißt es dann oft. Oder frei nach Nietzsche: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker."

Fast alle Spitzenathleten befinden sich in einer Art dauerrekonvaleszentem Zustand, der ständiger Behandlung bedarf. Dazu gehören eine Vielzahl krankengymnastisch-physikalischer Maßnahmen, denen sich die Kadersportler im Vor- und Nachwege ihrer körperlichen Verausgabung unterziehen müssen. Und das nicht nur bezogen auf die Wettkampfhöhepunkte, sondern bereits zur Bewältigung des ganz normalen Trainingspensums. Um allein die muskulären Mikrotraumen, Krämpfe, Verspannungen oder Schmerzzonen auf ein Erträglichkeitsmaß zu bringen, das die Athleten trainings- und wettkampffähig hält, bedarf es nahezu ständiger Massagen und physiotherapeutischer Interventionen.

Teilweise sind die Athleten insbesondere in den Kraft- und Spezialdisziplinen so hochgezüchtet, daß ihnen ganz normale Alltagsbewegungen Schwierigkeiten bereiten. "Wenn ich mit meiner Freundin spazieren gehe, kann ich am nächsten Tag nicht werfen, weil mir alles wehtut, weil so langsame Bewegungen was ganz anderes sind, als was ich trainiere...", verriet kürzlich Diskusweltmeister Robert Harting in bemerkenswerter Offenheit. Er sieht sich "quasi in einem Zuchtprogramm", alles sei auf seine Disziplin geeicht, "nur auf den Moment, dass du irgendwann Weltmeister bist oder Olympiasieger". [1]

Die Entsorgung der Kritik an den vielfältigen Gesundheitsrisiken mit Hilfe des Doping-Konstrukts mag zwar Sportanwälte reich machen und -journalisten unendlich Stoff für Betrugsskandalgeschichten liefern, den grundlegenden Problemen des geradezu körperfeindlichen Hochleistungssports wird dies bestimmt nicht gerecht. Offensichtlich ist es leichter, die sündigen Athleten wie im Mittelalter an den Dopingpranger zu stellen oder "regelkonform" zu verknasten, als sich mit den Dysfunktionen, Widersprüchen und Schrecknissen auseinanderzusetzen, welche die erlaubten oder tradierten Mittel der Leistungsmanipulation und -steigerung bergen.

Es fängt schon damit an, daß aufgrund des positiven Leistungsbegriffs in unserer Gesellschaft in der Alltagswahrnehmung die "guten" Hochleistungen (Siege, Erfolge, Rekorde) von den "bösen" Verletzungen unterschieden werden, obwohl sie doch untrennbar miteinander verknüpft sind. Wer seinen Körper dauerhaft malträtiert, mag er dies auch auf sportwissenschaftlich geschickte Weise tun, der wird über gewisse Fristen vielleicht zu spektakulär anmutenden Leistungsschüben imstande sein, die mit sozialem Prestige, emotionalen Höhenflügen, außergewöhnlichen Erfahrungen oder finanzieller Münze vergolten werden, doch jeder Körper, der nach dem progressiven Last- und Überlastungs-Prinzip beansprucht wird, geht irgendwann einmal zu Bruch. Dennoch wird so getan, als ob einseitige Dauer- und Mehrbelastungen, zumal unter leistungssportlichen Steigerungsprämissen, tatsächlich im intendierten Sinne möglich wären. Wenn dann die Achillessehne trotz aller Prophylaxen und Regenerationsphasen reißt, das Kreuzband zerfetzt oder der Meniskus platzt, werden die schadhaften Einzelteile eben wie bei einer Maschine repariert oder ersetzt! Aber nicht, um daraus die Lehre zu ziehen, sich künftig nicht mehr an selbstzerstörerischen Leistungsmaximen oder verschleißträchtigen Trainingsmethoden zu orientieren, sondern um die Athletenmaschine in den gleichen einseitigen Funktionszusammenhängen wieder auf Hochtouren zu bringen. Schließlich muß das Arbeitssoll erfüllt, sprich die Medaille errungen oder der Titel verteidigt werden.

Der Druck auf den Athleten, sich zum Automaten ständiger Selbstüberbietung zu machen, ist sozial determiniert und spiegelt die innere Verfaßtheit der Leistungsgesellschaft, die den totalen Körpereinsatz fordert, selbst wenn die Verwertung der eigenen Physis mit Leid und Pein verbunden ist. Seit Monaten plagt sich Diskuswerfer Robert Harting aufgrund einer lädierten Partellasehne mit Schmerzen im Knie herum. "Eigentlich ist es der Super-Gau und ich müsste Pause machen, aber das geht nicht. Es gab Wochen, da war ich teilweise zweieinhalb Stunden täglich bei den 'Physios'", erklärte der WM-Teilnehmer [2]. Nur mit Hilfe von Schmerzmitteln konnte sich der Zweimeterriese überhaupt bewegen. Harting unterzog sich im Vorwege einer Schmerzmittelkur, von deren Auswirkung er freimütig berichtete: "Meine Augen sind gelb geworden und meine Nieren wahrscheinlich doppelt so groß." [3] Trotz der Gefahr, daß die entzündete Sehne beim Wettkampf reißt, hatte sich der 26jährige Berliner entschlossen, den Titel in Daegu zu verteidigen. Bestimmt nicht aus freien Stücken, sondern weil es Geld bringt (60.000 Dollar WM-Titel-Prämie, 15.000 Euro Sporthilfeprämie, Sponsoren etc.) und seine Zukunft absichern soll. Nicht ohne bittere Ironie diktierte Harting den Journalisten in die Blöcke, daß das Geld auch zur Begleichung der anschließenden Kosten für die Rehamaßnahmen nötig sei. Schließlich wolle er sich auch nach seiner Karriere ordentlich bewegen und irgendwann mal seinen Enkel hochheben können.

Während Harting in der Öffentlichkeit recht unumwunden seine Beweggründe darlegte und sich vor den Gefahren gesundheitlicher Folgeschäden oder gar Invalidität in Galgenhumor flüchtete, bevorzugte Deutschlands beste Tennisspielerin Andrea Petkovic eine andere Variante der Zweckrationalisierung. Die 23jährige Hessin hatte sich kürzlich beim Turnier in Cincinnati einen Riß im Meniskus zugezogen. "Ich habe drei oder vier Stunden geweint, weil ich mir sicher war, mein Kreuzband sei gerissen", sagte Petkovic, nachdem sie ein verdächtiges Knackgeräusch gehört hatte und ihr rechtes Knie immer mehr angeschwollen war. Bereits vor drei Jahren hatte sie ihren persönlichen "Weltzusammenbruch" erlebt, als sie gewahren mußte, wie ihr Kreuzband riß. Dick bandagiert und versorgt mit Schmerzmitteln bestritt Petkovic dann noch das Halbfinale des mit rund zwei Millionen Dollar dotierten Hartplatz-Turniers in Cincinnati. Begründung: "Ich weiß, wie es ist, wenn ich zu Konzerten gehe, die Band kommt zwei Stunden zu spät und spielt nur 40 Minuten, und ich bin stinksauer. Die Leute bezahlen viel Geld, ich habe so viel gegeben, wie ich konnte." [4] Zudem bezeichnete sie ihren Einsatz trotz Verletzung als "guter Test für die US Open", bei denen sie rund eine Woche später tatsächlich unter Schmerzen und der Gefahr weiterer Schäden antrat. Ihr Ziel sei, sich für das WTA-Finale der besten acht Tennisspielerinnen Ende Oktober in Istanbul zu qualifizieren.

Die Medien sind voll mit diesen Berichten von angeschlagenen oder verletzten Leistungssportlern und -sportlerinnen, die trotz erheblicher körperlicher Beschwerden und voll mit pharmakologischen Dämpfungsmitteln letzte Leistungsreserven mobilisieren wollen. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, hier soll nicht für ein Verbot von Schmerzmitteln plädiert und Leistungssportler als "verantwortungslos" gebrandmarkt werden. Ein Verbot würde nur dazu führen, daß die Athleten trotz großer Schmerzen ihre Haut zu Markte trügen, da weder die sozioökonomischen Zwänge noch die leistungssportlichen Knechtschaftspraktiken aufgehoben wären.

Das Publikum, das sich in den Arenen und Stadien an den kraftzehrenden Leistungen und Erschöpfungszuständen der Athleten ergötzt, sollte sich vielmehr klarmachen, daß es nur einen ganz kleinen Ausschnitt der Plackereien und Lebensreglementierungen sieht, denen sich die modernen Sport-Gladiatoren in zunehmendem Maße aussetzen. Wer indessen Doping anprangert, dies mit Gesundheitsgefahren begründet und dazu noch den moralischen Zeigefinger hebt, nicht aber die unter sozialen und medialen Glorifizierungsnarkosen betriebenen Quälprogramme und Bewegungstorturen des Hochleistungssports verurteilt, die den Kindern und Jugendlichen in den Eliteschulen des Sports schon mit der Muttermilch eingegeben werden, möchte wohl, daß mit ihm nicht anders umgegangen wird. Sportler stünden für einen "positiven Leistungsbezug" in der Gesellschaft, heißt es in wohlfeilen Politikerreden, wenn einmal mehr die Vorbildfunktion der Eliteathleten propagiert wird. Wer da wen über den Leisten schlägt und ob der Leisten nicht aus bewegungsmechanischem Stumpf- und sozialpädagogischem Schwachsinn besteht, fragt in einer Gesellschaft, die Sportler als rechenbaren Wirtschaftsfaktor sieht, deren Körper wie tote Kraftmaschinen dem endlichen Verbrauch anheimgestellt sind, kaum noch jemand.

Anmerkungen:

[1] www.dradio.de. Sendung Nachspiel. "Wie Weltmeister wachsen". Autorin: Jantje Hannover. 28.08.2011.

[2] www.leichtathletik.de. Interview mit Robert Harting. "Verletzung ist mein Gegner". Von Peter Schmitt. 24.08.2011.

[3] www.jungewelt.de. "Es kommt darauf an". Mit sid. 24.08.2011.

[4] www.fr-online.de. Halbfinalaus für Petkovic. 21.08.2011.

1. September 2011