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KOMMENTAR/156: Sportevents als Knüppel der Politik - was sonst? (SB)




Wenige Wochen vor der Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine (8. Juni bis 1. Juli) ist eine Boykott-Kampagne ausgebrochen, die das symbiotische Verhältnis von Sport und Politik nicht deutlicher vor Augen führen könnte. Nicht die Frage der politischen Instrumentalisierung des Sports steht dabei im Raum, sondern welche Interessenvertreter es am geschicktesten vermögen, den Eindruck zu erwecken, nicht sie, sondern die anderen würden den Sport zum Instrument der politischen Einflußnahme machen. Das gipfelt in so einseitigen Vorwürfen vermeintlicher Vorzeigedemokratien, der vom ukrainischen Volk gewählte Präsident Viktor Janukowitsch, dessen Land wahlweise als Diktatur, Unrechtsregime oder ähnliches verunglimpft wird, wolle die Fußball-EM als Bühne der eigenen Selbstdarstellung und internationalen Imageaufwertung nutzen.

Ja, geht's denn noch? Als Deutschland 2006 die Fußball-WM im eigenen Land abfeierte, da wurde das Großevent, angestoßen von "Medienkanzler" Gerhard Schröder (SPD), von der Bundesregierung und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) auch zu einer breiten Imagewerbekampagne für den "Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland" genutzt - und zwar mitten im damaligen Bundeswahlkampf. Der sich mit dem Motto "Die Welt zu Gast bei Freunden" eine vergnügte Maske schminkende "Exportweltmeister" gebärdet sich heute unverblümter denn je als europäischer Zuchtmeister und treibt die abgehängten Euroländer mit rigorosen Spardiktaten immer tiefer in Hunger und Verarmung. Während die Demokratie in Griechenland praktisch ausgehebelt und unter die Kuratel von EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank gestellt wurde, die Arbeitslosigkeit unter 15- bis 24jährigen in der Europäischen Union Höchststände erreicht (aktuellen Einschätzungen zufolge liegen Griechenland und Spanien bei etwa 50 Prozent!), werden in Deutschland höchstrichterlich Versammlungs- und Demonstrationsverbote gegen kapitalismuskritische Occupy-Camps und Blockupy-Aktivisten durchgesetzt. Zeitgleich werden emotional überkippende Sportanlässe wie das Bundesliga-Relegationsspiel Fortuna Düsseldorf gegen Hertha BSC vom Sport-Medien-Politik-Komplex genutzt, um mit Angstdramatisierungen die Repressionsspirale im Fußball anzukurbeln und die Aufmerksamkeit der Massen von den eigentlichen gesellschaftlichen Konflikten abzulenken.

Angesichts der eigenen Probleme läßt sich natürlich gut vor fremden Türen kehren. Die Ukraine, deren Zugehörigkeit zu den GUS-Staaten im Interesse der Sezessionsbewegungen unterstützenden NATO-Mitglieder wackelt, bietet sich dafür an. Wie niedrig bereits die Schwelle für symbolpolitische Beschimpfungskampagnen gegen Länder liegt, die noch nicht zu orangegemalten Statthaltern deutscher Wirtschaftsinteressen degradiert sind, ließ der menschenrechtspolitische Sprecher und Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, erkennen. "Ich erwarte lautstarke Kritik von den Sportlern, den Funktionären und von unserer Regierung. Die einzige Chance besteht darin, die Probleme des Landes in den Mittelpunkt zu rücken und dem Regime einen Image-Erfolg zu verweigern", erklärte Beck [1], der im Chor mit zahlreichen Politikern die Absage von Bundespräsident Joachim Gauck zu einem Treffen mit anderen zentraleuropäischen Staatschefs in der Ukraine ausdrücklich begrüßte. Weil mehrere europäische Staats- und Regierungschefs ihre Teilnahme ebenfalls absagten, mußte das Gipfeltreffen in Jalta aufgegeben werden, was sich die deutschen Pressure-Groups nun als Erfolg ans Revers heften.

Auch die verbandskonformen Fußballmillionäre lieferten, wie von Beck und anderen gefordert, artig ihre Statements ab. Philipp Lahm, Kapitän der DFB-Mannschaft, gab dem Spiegel ein Interview, in dem er sich "eindeutig positioniert", wie die Hofpresse lobend hervorhob. "Meine Ansichten zu demokratischen Grundrechten, zu Menschenrechten, zu Fragen wie persönlicher Freiheit oder Pressefreiheit finde ich in der derzeitigen politischen Situation in der Ukraine nicht wieder", erklärte Lahm. "Wenn ich sehe, wie das Regime Julia Timoschenko behandelt, dann hat das nichts mit meinen Vorstellungen von Demokratie zu tun." [2] Lahm wolle sich sogar offenhalten, ob er im Fall einer Finalteilnahme bei der Siegerehrung Präsident Janukowitsch die Hand reichen werde.

Man möchte seinen Augen und Ohren nicht trauen: Ausgerechnet der Nationalspieler, der noch im August 2011 nach öffentlichen "Irritationen" hinsichtlich einiger harmloser Passagen in seinem neuen Buch "Der feine Unterschied" vor laufenden Kameras dafür Abbitte geleistet hatte, daß er Trainer "sachlich kritisiert" respektive "öffentlich beurteilt" habe, und der unter den Augen von DFB-Teamchef Joachim Löw brav versicherte, daß er dies, wenn der Trainer es so wolle, nicht mehr tun werde [3], wirft der Ukraine - im Einklang mit der DFB-Linie, die bis ins Berliner Establishment reicht - Demokratiedefizite vor. Als ob es im professionellen Fußball keine Maulkorbträger und Gehorsamshierarchien gäbe und der Deutsche Fußballbund nicht selbst unter erheblichen Demokratiegebrechen litte, wie die kürzliche "Wahl" des DFB-Präsidenten Niersbach ohne Programm und Gegenkandidaten einmal mehr vor Augen geführt hat!

In Anbetracht solcher Heucheleien läßt sich natürlich mit leichter Zunge aus den Schlagwortkatalogen rezitieren, wie sie für offizielle Anlässe vorgesehen sind, wenn schmucke Demokratiebekenntnisse verlangt werden. Lahms Worten schloß sich wenig später auch sein Übungsleiter an. Wie Joachim Löw formulierte, identifiziere er sich "mit Werten wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Schutz von Minderheiten, auch einem humanitären Umgang mit Julia Timoschenko. Es ist egal, ob so etwas in Nordkorea, China oder der Ukraine passiert." Die DFB-Elf werde aber nicht als "Weltpolizei" in die Ukraine reisen. Einen Boykott der EM lehnte der Bundestrainer ab. Zudem versicherte Löw, daß die Spieler ihre Meinung zur Lage in der Ukraine sagen dürften. [4]

Was aber, wenn Nationalspieler in der Öffentlichkeit die Meinung vertreten würden, daß sie den Auftritt der wegen diverser krimineller Vergehen einsitzenden Julia Timoschenko für eine gut geschauspielerte "Schwalbe" hielten, oder zumindest Zweifel an den Darstellungen westlicher Medien äußerten, die die schwerreiche "Gasprinzessin" zur Freiheitsikone stilisieren? Es wäre schließlich nicht das erste Mal, daß Politiker/-innen zu Mitteln der Täuschung oder Übertreibung griffen. Weil aber die Gefahr nicht besteht und alle Spieler vom DFB gut "informiert" wurden, wie es heißt, kann es sich die Verbandsführung auch leisten, keinen Verhaltenskodex in Meinungsfragen auszugeben. Was aber nicht heißt, daß prinzipielle Meinungsfreiheit herrscht, sondern nur, daß (diesmal) keine gesonderten Einschränkungen nötig sind. Da junge, von morgens bis abends Sport treibende Athleten, wie hohe Verantwortungsträger gleichfalls betonen, "total überfordert" seien (Willi Lemke, UN-Sonderbeauftragter für Sport), fundierte politische Meinungen abgeben zu können, werden von ihnen ohnehin nur Politikbekenntnisse oberflächlichster und pauschalster Art erwartet - aber die auf jeden Fall, und möglichst mit "deutlicher Positionierung" zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, wie von deutschen Politikern gleichwohl gefordert wird. Mit anderen Worten: Die von Staat und Kapital zu reinen Leistungserbringern funktionalisierten Vorzeige-Athleten, denen politische Stellungnahmen im Rahmen sportlicher Wettbewerbe bei Strafe untersagt sind, sollen nicht nur konsumenten-, medien- und sponsorengerecht das Phrasenschwein füttern, nun sollen sie außerhalb des Wettkampfes den westlichen Wertekriegern auch noch als symbolpolitische Kampagneträger dienlich sein.

Warum indessen in Löws Aufzählung "schurkischer" Staaten nicht ein Land wie Katar auftaucht, das die PR-Strategen in der Öffentlichkeit als eine Art "liberale" Diktatur zu vermarkten pflegen, dürfte ebenfalls klar sein. Schließlich soll in der erdgasreichen Golfmonarchie neben anderen Sportevents auch die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 stattfinden. Daß dem autokratischen Herrscher von Katar, Hamad bin Chalifa al-Thani, eine politische Bühne bereitet wird, löst bei den Menschenrechtskriegern hierzulande bislang noch keine Entsetzensrufe aus, schließlich soll der nahöstliche Kriegs- und Wirtschaftspartner Berlins in den zehn Jahren bis zum Großereignis noch kräftig abgemolken werden - spätere Alibikritiken oder den geostrategischen Großwetterlagen angepaßte Stimmungsumschwünge nicht ausgeschlossen. Auch Bayern-Kapitän Philipp Lahm, dessen Mannschaft sich für die Bundesliga-Rückrunde in Katar vorbereitet hatte, prangerte nicht etwa an, daß im Scheichtum bis heute harte Körperstrafen verhängt werden, Drogenmißbrauch die Todesstrafe zur Folge haben kann, katarische Medien einer "Selbstzensur" unterliegen oder daß der Bauboom auf der Ausbeutung zu billigsten Konditionen ins Land geholter Arbeitsmigranten beruht. Er kritisierte die WM-Vergabe nach Katar allein deswegen, weil im Sommer Temperaturen bis 50 Grad und eine hohe Luftfeuchtigkeit herrschten und dies eine äußerste Anstrengung für alle Spieler darstelle, was ja durchaus stimmt.

Wenn sich indessen ein lupenreiner Wirtschaftslobbyist wie DOSB-Präsident und IOC-Vize Dr. Thomas Bach (FDP, Adidas, Siemens, Deutsch-Arabische Industrie- und Handelskammer, CAS etc.) gegen Vereinnahmungsversuche mit den Worten wehrt, der "Sport darf nicht zum Knüppel der Politik werden", dann darf man gespannt sein, wann der Multifunktionär mit besten Verbindungen in den nahen und mittleren Osten all seine Ämter niederlegen wird, die seine Rhetorik Lügen strafen. Selbst die kommerziellen Sportmedien, die Teil der Verwertungskette sind und erhebliche Eigeninteressen haben, daß der sich in körperlichen Frondiensten übende Athlet ein weitgehend fremdbestimmtes Funktionspartikel im durchkapitalisierten Sport bleibt, räumen in Anbetracht der überbordenen Widersprüche inzwischen samt und sonders ein, daß nicht die hehren Ideale oder Werte des internationalen Sports für die Sportorganisationen und -verbände handlungsleitend sind, sondern wirtschaftliche Interessen und neue Marktchancen.

Doch nun soll offensichtlich auch noch die Menschenrechtsfrage den Kapitalinteressen unterworfen und der Bock zum Gärtner gemacht werden. Die Verträge von Sportrechtevermarktern, Sponsoren oder Ausrüstern mit den Verbänden oder Ausrichterländern sollten um Ausstiegsklauseln für Menschenrechtsverletzungen und Korruption ergänzt werden, lauten entsprechende Medienforderungen. So appelliert Thomas Kistner, sportpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung, in der Wochenzeitschrift Das Parlament an "die Politik", die aktuelle Debatte zum Anlaß zu nehmen, um eine Charta für Sportevents zu erstellen: "Eine Festlegung, dass sich die in der EU versammelten Länder nur noch dann um Sportevents bewerben, für die Mindeststandards an Menschenrechten festgeschrieben sind." Um eine Rechtsbasis zu legen, aus der sich "jede Konsequenz" ziehen ließe, könnten Werte wie Menschenrechte, Rede- und Informationsfreiheit in die Veranstalter-Verträge gehören. "Nur so macht man die globale Sportbühne unattraktiv für Autokraten", meint Kistner, der natürlich findet: "Selbstverständlich soll ein Janukowitsch nicht im EM-Land mit Spitzenvertretern westlicher Demokratien posieren dürfen." [5]

So kann auch die Süddeutsche Zeitung, immer vornean, wenn es darum geht, die Verhältnisse im Mediensport mit sozialrepressiven Herrschaftskonzepten zu verschärfen, an der deutschen Selbstherrlichkeit doppelt genesen: Auf der einen Seite die Glorifizierung der warenförmigen Sportkonkurrenz, auf der anderen Seite das Anprangern von Sportbetrügern, Autokraten, Despoten, Scheichs, Oligarchen und anderen Poseuren, die nicht die unsrigen sind. Und alles im Sportunterhaltungsteil. Daß "Spitzenvertreter westlicher Demokratien" in ihren Ländern einen rapiden Sozial-, Kultur- und Demokratieabbau betreiben und insbesondere die Bundesrepublik immer mehr dazu übergeht, ihre Außen- und Handelspolitik zu militarisieren, so daß ihr ein mit Sponsorenklauseln gespickter Menschenrechtsprügel gegen nicht in ihr Politikmodell passende (Partner-)Regime gerade recht käme, muß dem SZ-Redakteur im Gottvertrauen auf "die Politik" wohl entgangen sein.

Anmerkungen:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/menschenrechtsverletzungen-in-der-ukraine-was-wird-aus-der-em-11725769.html. 23.5.2012.

[2] http://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-em-philipp-lahm-kritisiert-ukrainisches-regime-a-831445.html. 23.5.2012.

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek130.html

[4] http://www.sueddeutsche.de/politik/fussball-em-loew-spricht-sich-gegen-em-boykott-aus-1.1350792. 23.5.2012.

[5] http://www.das-parlament.de/2012/20-21/temp/39011339.html. 23.5.2012.

25. Mai 2012