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KOMMENTAR/160: "Regime change" - tödlicher Freifahrtschein zu den Spielen nach London (SB)




Wie wären wohl die Reaktionen der westlichen Medien ausgefallen, wenn die Ukraine eigens für die Fußball-Europameisterschaft Kriegsschiffe auf dem Dnepr, ein Fluß, der sich durch Kiew schlängelt, hätte kreuzen lassen? Was wäre geschehen, wenn die ukrainische Regierung unter dem in Westeuropa unbeliebten Präsidenten Janukowitsch beschlossen hätte, Flugabwehrraketen mitten in Wohnsiedlungen und Parks von Kiew zu installieren? Wie hätten hiesige Politiker reagiert, wenn über den Köpfen der Besucher Militärflugzeuge russischen Bautyps Patrouillen geflogen wären, um möglichen Sicherheits- und Terrorgefahren zu begegnen? Welche Protestnoten hätten wohl deutsche Politiker/-innen verfaßt, wenn beispielsweise Rußland sich ausbedungen hätte, seine Nationalspieler nur in Begleitung von Hundertschaften des eigenen Inlandsgeheimdienstes FSB zur EM reisen zu lassen?

Wenn aber all diese "Vorsichtsmaßnahmen" in der vermeintlich "freien westlichen Welt" erfolgen, dann treffen die Gastgeberländer von Sportgroßereignissen meist auf vollstes Verständnis. So löst die Ankündigung, daß die USA 500 FBI-Beamte zu den Olympischen Sommerspielen in London (27. Juli bis 12. August) schicken wollen, weil sie die britischen Sicherheitsmaßnahmen für ungenügend halten, hierzulande allenfalls Kopfschütteln aus. Und wenn die britische Regierung zum "Schutz vor Terroranschlägen aus der Luft" Raketenabwehrsysteme in Wohngebieten installieren läßt, so daß darüber gerätselt werden kann, ob der Abschuß eines feindlichen Flugzeugs über der britischen Metropole die Einwohner nicht eher gefährden denn schützen würde, dann hat die Diskussion in der West-Presse höchstens Skurrilitätswert. Daß Großbritanniens größtes Kriegsschiff, die HMS Ocean, welche noch bis November vor der libyschen Küste im Einsatz war, auf die Themse verlegt wurde, ruft hierzulande nicht mehr als ein Achselzucken hervor. Vergebens sucht man in der Sportberichterstattung nach Hinweisen, was der Hubschrauberträger vor Libyen überhaupt zu suchen hatte.

Zur Erinnerung: Um einen Regimewechsel herbeizuführen, hatte sich Großbritannien an vorderster Front am Bombenangriff der NATO-Länder auf Libyen beteiligt. Das Königreich schickte nicht nur Kriegsschiffe, Flugzeuge und Hubschrauber, sondern schleuste ebenso Elitesoldaten, Militärausbilder und Geheimagenten in das nordafrikanische Land. Britische Spezialeinheiten nahmen schließlich auch an Bodenkämpfen teil, obwohl die UN-Resolution militärische Maßnahmen nur zur Sicherung des Flugverbots und zum Schutz der Zivilbevölkerung erlaubte. Ohne daß es Konsequenzen für die Siegermächte des Libyenkrieges zeitigte, war es auch auf seiten der Rebellenmilizen und der sie unterstützenden NATO-Streitkräfte zu massiven Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen gekommen. Das geht aus einem Report hervor, der am 19. Januar 2012 von mehreren arabischen Menschenrechtsgruppen veröffentlicht, in der internationalen Berichterstattung allerdings kaum wahrgenommen wurde [1]. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen wiesen in jüngster Zeit darauf hin, daß in Libyen Tausende von Menschen - in der Regel gaddafitreue Gefangene des Bürgerkriegs - in verschiedenen geheimen Gefängnissen festgehalten, mißhandelt und in einigen Fällen zu Tode gefoltert werden. Von den Zuständen nach der gewaltsamen Machtübernahme durch die Milizen des Nationalrats berichtete u.a. der Leiter der UNO-Mission in Libyen, Ian Martin, dem Sicherheitsrat in New York [2]. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch fordern die NATO-Allianz auf, die Todesfälle unter Zivilisten zu untersuchen und betroffene Angehörige gegebenenfalls zu entschädigen. Auch die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international mahnte die vergessenen Opfer der Militärschläge der NATO an.

Doch auch Menschenrechtsfragen unterliegen politischen Interessenslagen und Auslegungen. Während westliche Regierungen anläßlich der Fußball-EM die Menschenrechtssituation in der Ukraine mit strengem Blick in den Fokus rückten, wird über die massiven Menschenrechtsverletzungen im Rahmen westlicher Militäroperationen und ihren Auswirkungen großzügig hinweggesehen.

"Menschenrechtsverstöße" werden aus westlicher Sicht vor allem mit "autoritären" oder "diktatorischen" Gesellschaftssystemen assoziiert, nicht mit "demokratischen". Diese Sichtweise spiegelt sich auch in einem aktuellen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wider, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, Menschen- und Bürgerrechte bei der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen stärker zu berücksichtigen. Sportgroßveranstaltungen trügen nicht notwendigerweise zu einer verbesserten Menschenrechtslage bei, vielmehr nutzten autoritäre Staaten diese Veranstaltungen häufig für ihre eigenen Zwecke, um sich auf internationaler Ebene als respektiertes Mitglied der Staatengemeinschaft darzustellen, heißt es in einem Antrag der Grünen vom 12. Juni 2012 (17/9982). Wohl um sich nicht politischer Betriebsblindheit zeihen zu lassen, haben die Grünen noch einen kleinen Alibisatz eingefügt: "Wenn wirklich strenge Maßstäbe angelegt werden, könnten nach heutigem Stand nur in einer Minderheit der Staaten sportliche Großereignisse stattfinden." Und das ist sicherlich noch sehr wohlwollend für die Minderheit ausgedrückt.

Daß auch demokratische Staaten Sportevents nutzen, um sich als honorige Mitglieder der Staatengemeinschaft darzustellen, während sie gleichzeitig Kriege führen oder vorbereiten, ist den Grünen im Falle Großbritanniens keiner Erwähnung, geschweige denn eines Aufrufes zum Boykott der Sommerspiele wert. Man sitzt offensichtlich in einem Boot mit den englischen Falken, die nach dem Strickmuster des Libyenkrieges auch einen Regimewechsel in Syrien anstreben.

Während in westlichen Mediendarstellungen Syriens Präsident Bashar al-Assad gnadenlos verteufelt wird, bleibt die Rolle vom Westen mit Waffen und Knowhow unterstützter "Rebellen" an den Gewaltexzessen meist unterbelichtet. Selbst als die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung am 7. Juni einen die offizielle Version des Hula-Massakers (25. Mai: Tötung von 84 Zivilisten, darunter 49 Kinder) in Frage stellenden Bericht veröffentlichte, das dem Assad-Regime in die Schuhe geschoben worden war, obwohl höchstwahrscheinlich dafür Kommandos der sunnitischen Rebellen-Armee verantwortlich waren, wurden international weiterhin die Kriegstrommeln auf Kosten der syrischen Regierung geschlagen. Die USA und Großbritannien hatten als Reaktion auf das Massaker den Abzug ihrer Diplomaten aus Syrien veranlaßt.

Das interessensgeleitete Gut-Böse-Schema der westlichen Berichterstattung soll auf keinen Fall durchbrochen werden. Dazu diente auch die Kolportage britischer Medien, General Muwaffak Joumaa, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) von Syrien, sei die Einreise zu den Sommerspielen in London verwehrt worden. Während das britische Innenministerium und das Auswärtige Amt Stellungnahmen verweigerten, beförderten deutsche Presseagenturen die entsprechende Propaganda dazu: Der NOK-Chef unterhalte zu enge Beziehungen zum Regime von Präsident Baschar al-Assad, zudem werde die syrische Regierung von Großbritannien und vielen anderen vornehmlich westlichen Regierungen wegen der Unterdrückung von Demonstranten und der Ausuferung des Bürgerkriegs mit Tausenden Toten scharf kritisiert.

Einen Monat zuvor, just am Tag des Hula-Massakers, hatte die britische Regierung angekündigt, während der Olympischen Spiele und Paralympics ein rigoroses Einreiseverbot gegen Politiker zu verhängen, die sich Verstößen gegen die Menschenrechte schuldig machten. "Sofern unabhängige und vertrauenswürdige Beweise vorliegen, dass eine Person gegen die Menschenrechte verstoßen hat, wird diese Person nicht ins Vereinigte Königreich einreisen dürfen", verlautete das Auswärtige Amt. Passend dazu wurde im Juni bei einer öffentlichen Rede von Jonathan Evans, Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, vor "einheimischen Terroristen" gewarnt, die nach Syrien oder Libyen reisten, um dort das Töten zu lernen. Seinen Angaben zufolge planten "einige hundert" dieser in Großbritannien aufgewachsenen Islamisten Anschläge in der Heimat. Olympia sei ein besonders attraktives Ziel, so der MI5-Chef [3]. Daß britische Experten in Libyen (und wahrscheinlich auch Syrien) das Töten lehrten und die Heißsporne mit Waffen versorgten, war indessen nicht Bestandteil von Evans' Rede.

Der syrische NOK-Chef Mowaffak Joumaa, dessen Land auf der Kippe zum "regime change" steht, hat unterdessen bestritten, ein Einreiseverbot während der Sommerspiele in London erhalten zu haben. Auch von den neuen Freunden Londons in Libyen ist nicht bekannt, daß sie Probleme bei der Visaerteilung hätten. Das von britischen Raketen und Menschenrechtsverletzungen schwer gezeichnete Libyen hat den Regimewechsel bereits hinter sich. Allein Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad bestätigte, er dürfe die Olympischen Spiele nicht besuchen. "Ich wäre gerne mit den iranischen Athleten in London, aber die Briten haben Probleme mit meiner Anwesenheit", sagte Ahmadinedschad der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA. Und die Moral von der Geschicht': Nur wer einen "regime change" mit Hilfe westlicher Bomben, Sanktionen und Propaganda vorweisen kann, darf unbeschwert zum "friedlichen Völkerfest" nach London reisen.

Anmerkungen:

[1] Nato accused of war crimes in Libya. By Rachel Shabi. 19.01.2012.
http://www.independent.co.uk/news/world/africa/nato-accused-of-war-crimes-in-libya-6291566.html

[2] UN-Gesandter kritisiert geheime Gefängnisse in Libyen. Stand 11.05.2012.
http://www.tageschau.de/ausland/libyen1660.html

[3] London in Terror-Sorge. Von Alexei Makartsev. 06.07.2012.
http://www.rp-online.de/sport/olympia-sommer/london-in-terror-sorge-1.2899863

11. Juli 2012