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KOMMENTAR/176: Der Sporttribut an Twitterwelten (SB)




Den Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) war auf dem 13. Olympischen Kongreß 2009 in Kopenhagen nicht nur stolz ein neues Rekordergebnis von 455 Millionen US-Dollar Rücklagen trotz weltweiter Finanz- und Wirtschaftskrise verkündet worden. Ebenso wichtig war, den Damen und Herren die Früchte der "digitalen Revolution" schmackhaft zu machen. "Wir müssen sicherstellen, dass sich die iPod- und iPhone-Generation ein- und nicht abschaltet", beschwor Sir Martin Sorrell, Chef der wohl weltgrößten Medien- und Kommunikationsagentur WPP, die rund 1200 Delegierten. Der Sport-Informations-Dienst faßte die Diskussionsrunden in Kopenhagen mit den Worten zusammen, "dass Olympias einzige Überlebenschance der Weg in die digitale Welt ist, wo sich die Jugend tummelt". [1]

Die Eroberung des Internets ist das erklärte Ziel des kommerziellen Olympismus. Waren Facebook und Twitter bei den Sommerspielen 2008 in Peking noch ein Randphänomen, gingen die Spiele vier Jahre später in London bereits als "die ersten Social-Media-Spiele" in die Geschichte ein. "Ein Paradigmenwechsel in der Kommunikation", schwärmte Alex Hout, Social-Media-Chef des IOC. In London gebe es dank der Sozialen Medien die ersten "Gesprächsspiele" (conversational games).

Um die Viralität der Olympischen Spiele in den sozialen Netzwerken zu steigern, launchte das IOC einen "Olympic Athlet Hub", der als zentrale Kommunikationsschnittstelle die vielen Netzaktivitäten etwa bei Facebook, Twitter, Instagram oder Foursquare zusammenführte. Versprochen wurde den Konsumenten, daß ihnen mit Hilfe der Updates von Sportlern und Reportern ein Blick hinter die Kulissen ermöglicht werde. Olympioniken und Fans seien sich so nahe wie nie zuvor.

Um aus den Versprechungen virtueller kommunikativer Nähe erstmals richtig Kapital zu schlagen, ging Twitter mit der US-Senderkette NBC eine Kooperation ein. Der Kurznachrichtendienst und der Fernsehgigant, der riesige Summen für TV-Rechte in den Olympiazirkus pumpt, pushten sich gegenseitig mit Meldungen und Bildern, um Werbeeinnahmen, Clickzahlen und Einschaltquoten zu erhöhen. Den größten Marketing-Coup landete dabei Twitter, der aus den dürren Inhalten seiner 140-Zeichen-Kurznachrichten einen emotionalen Popanz entfachte, der seinesgleichen sucht.

Um die Stimmung der Twitternutzer auf britischem Territorium zu visualisieren, wurden alle Tweets mit dem Hashtag #Energy2012 in bezug auf den Gebrauch verschiedener Worte, Satzzeichen oder Smileys (Emoticons) nach einem bestimmten Algorithmus ausgewertet und auf ein simples Darstellungsschema zurückgebrochen. Als "Farbdisplay" diente das Riesenrad an der Londoner Themse. Gelb erstrahlte das "London Eye" bei überwiegend positiven Wortmeldungen, grün bei neutralen und lila bei negativen. Das absurde "Stimmungsbarometer" wurde vom französischen Energieversorger EDF Energy finanziert. Der IOC-Sponsor warb in London für die Senkung von CO2-Emissionen und den Schutz der Umwelt durch Elektroautos - ein gelungener Beitrag zum Greenwashing der Spiele. Auf der Website www.londoneye.com, wo der Konzern sein Engagement darstellte, wurde wortreich verschleiert, daß sich hinter EDF Strom aus Atomkraftwerken verbirgt.

Doch wo nicht Volkes kritische Stimme gefragt ist, sondern das maulaffenfeilhaltende Reagieren auf Lichtsignale, die sich aus den "Emo-Werten" der Tweets ergeben, ist die Retardierung des Massenpublikums nicht weit. Stolz nahm das Konsumentenvolk zur Kenntnis, daß das London Eye auch die "Energy of the Nation" (Energie der Nation) widerspiegele. Ein Land, das solch eine Social-Media-Lightshow hat, muß den sozialen Massenprotest auf der Straße nicht fürchten - allenfalls eine Hashtag-Demo oder ein Shitstörmchen im Internet, der nach ein paar Tagen wieder abgeflaut ist. Daß sich Twitter auch den Vorwurf von Zensur einhandelte, weil er zwischenzeitlich den Account eines Journalisten sperrte, der kritisch über den Medienpartner NBC schrieb, kommt allenfalls einer Marginalie gleich, hatte sich der Nachrichtendienst doch die allgemeine Wertschätzung erworben, als er Olympiateilnehmern zur vorzeitigen Abreise verhalf, deren Tweets grob beleidigende Äußerungen enthielten.

Durch den Social-Media-Hype ist es dem IOC und seinen Wirtschaftspartnern gelungen, die Kritik der verschiedenen Protestgruppen während der Spiele in einer Flut aus Tweets, Posts und Likes regelrecht zu ertränken. Nachrichten, die die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des kommerziellen Olympismus problematisierten, konnten durch die omnipräsenten "Quasselspiele" weitgehend neutralisiert werden. Was ganz im Sinne der vielfach in der Kritik stehenden Topsponsoren des IOC war, die sich ebenfalls kräftig am Rummel im Social Web mit eigenen Marketing-Kampagnen beteiligten. Am erfolgreichsten präsentierte sich dabei der Konsumgüterhersteller Procter & Gamble, der mit seiner rührseligen "Thank you, Mom"-Kampagne, die Mütter olympischer Athleten ehrte, bei Twitter, Facebook und Youtube die größten Aufmerksamkeitswerte erzielte.

Während das IOC und seine Werbepartner die stolzen, mit Sponsorengeschenken großzügig ausgestatteten Mütter feierten, wurden ihre in London meist schwerarbeitenden Kinder an der kurzen Leine durch die Sportarenen geführt. Das IOC ermutigte zwar die Athleten, zu bloggen, twittern oder zu facebooken, aber nur so weit, wie es die Markenpolizei des IOC zum Schutz der eigenen Sponsoren und Rechte erlaubte. Um die eigene Vermarktung voranzubringen, wurde die Selbstvermarktung der von finanzieller Alimentierung abhängigen Sportler rigoros unterbunden. So wurde den Athleten in den "Social Media Blogging And Internet Guidelines" vorgeschrieben, persönliche Beiträge nur in der "Ich- und Tagebuch-Form" zu schreiben. "Aus der Perspektive eines Journalisten" durften die Sportler schon gar nicht berichten. Verboten waren ebenso Berichte über die Wettkämpfe oder Kommentare über die Aktivitäten anderer Olympioniken. Werbung für Sponsoren, die nicht offizielle Olympiapartner sind, war strikt untersagt. Ebenso war die Nutzung von Twitter oder Facebook-Mitteilungen zu kommerziellen Zwecken verboten. Um nicht in Konflikt mit den IOC-Wächtern zu geraten, legten viele Athleten ihre persönliche Homepage für die Zeit der Spiele lahm oder verlegten ihre Aktivitäten ganz auf die Social-Media-Kanäle. Dort durften die Sportler nur Postings, Blogs und Tweets updaten, die dem Olympischen Gedanken und den Grundprinzipien des Olympismus, wie sie in der Olympischen Charta dargestellt sind, entsprachen. "Sie sollen ehrwürdig und geschmackvoll gestaltet sein und keine vulgären oder obszönen Wörter oder Bilder enthalten." Da die Olympische Charta den Athleten jegliche Art von Demonstration oder politischer Propaganda nicht nur in den olympischen Stätten, sondern auch "in anderen Bereichen" verbietet, herrschte allenthalben die Netiquette. Trotz der juristisch umstrittenen IOC-Barrieren wollten die Athleten lieber keinen Rechtsstreit riskieren.

Verlinken durfte die offiziellen Webseiten von London 2012 nur, wer sich verpflichtete, die Spiele und ihre Veranstalter in seiner Berichterstattung nicht in einem "falschen, irreführenden, abfälligen oder sonstwie anstößigen Licht erscheinen zu lassen". Eine verlinkte Berichterstattung mit einer deftigen Satire oder gesalzenen Kritik am marktförmigen Olympismus schied so von vornherein aus. Nur die emotionalisierende, Konkurrenz, Leistung und Dopingverdacht befeuernde Sportberichterstattung war gefragt. Bei Verstößen gegen die IOC-Vorgaben drohten Teilnehmern oder anderen Personen Geldstrafen oder der Entzug der Akkreditierung und damit der Ausschluß von den Wettbewerben.

Deutschen Athleten wurde vom DOSB nahegelegt, eine eigene Sammelplattform, die unter dem Motto "Wir für Deutschland" stand, anzusteuern. Der Hub wurde im Auftrag der Deutschen Sport-Marketing (DSM) konzipiert. Dort sollten Teilnehmer und Fans kommunikativ verbunden werden. Die Deutsche Sporthilfe (SDS) stellte zudem einen "Heldenticker" als iPhone-App zur Verfügung, die sämtliche Twitter- und Facebook-Meldungen aus dem Team aggregierte. Zugleich wurde insbesondere dem deutschen Olympiateam von Online-Experten der Vorwurf gemacht, daß lediglich 42 Prozent der 392 Athleten eine - oftmals semi-professionell gestaltete - Homepage besäßen, nur 30,2 Prozent eine Facebook-Seite und 18,2 Prozent einen Twitter-Account. Wie könnten sie sich dann, lautete die Frage, für die Fans und potentiellen Sponsoren interessant machen? In der angloamerikanischen Sphäre seien die Spitzensportler schon viel weiter. Während US-Star Michael Phelps 5,4 Millionen Friends auf Facebook zähle, habe sein deutscher Widersacher Paul Biedermann nur ein Bruchteil davon.

Das olympische Rattenrennen um Medaillen und Anerkennung spiegelt sich längst auch in den Social-Media-Rankings wider. Angeheizt durch Marktforscher werden die Sportler danach verglichen, wieviel Tweets und Retweets sie pro Minute generieren und wer den größten "Social Olympic Buzz" im Netz entfacht. Was als große Kommunikations- und Vermarktungschance für Sportler propagiert wird, kehrt sich mehr und mehr gegen sie selbst: Wer zu wenig "Follower" oder "Friends" hat, zu wenig "Traffic" auf seiner Website, fällt durchs Aufmerksamkeitsraster und kann sich auch gegenüber potentiellen Sponsoren schlechter verkaufen. Wer seine Homepage nicht marktkonform aufhübscht oder zu wenig zu seiner - selbstverständlich - "authentischen" Imagebildung beiträgt, muß sich Kommunikationsdefizite oder mangelnde Bindung zu Fans und Sponsoren vorhalten lassen.

Der Warencharakter der Selbstpräsentation hat unterdessen Motivationsform angenommen. So wollen Wissenschaftler herausgefunden haben: "Leistungssportler, die in den sozialen Netzwerken aktiv werden und dort verstärkt mit Fans kommunizieren, schöpfen daraus einen beträchtlichen Motivationsgewinn für den Wettkampf." In der Nachspiel-Sendung von Deutschlandradio Kultur [2] wurde ein Loblied auf die neuen Social Media-Plattformen mit der Einschränkung gesungen, daß noch nicht jeder Sportler und jede Sportlerin einen Twitter-Account, eine Facebook- oder Google+-Seite habe und so "Motivationschancen, die am Ende über Sieg oder Nichtsieg entscheiden können", verschenkten.

Zu einem gänzlich anderen Eindruck, was die vermeintlich positiven Seiten multimedialer Selbstdarstellung betrifft, kamen hingegen WissenschaftlerInnen der Humboldt-Universität und der Technischen Universität Darmstadt. "Die Teilnahme in sozialen Netzwerken wie Facebook kann bei den Nutzern starke negative Emotionen hervorrufen und die Lebenszufriedenheit beeinträchtigen", lautet kurz zusammengefaßt das Ergebnis einer Studie unter knapp 600 Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern. Über ein Drittel der Befragten empfand vornehmlich negative Gefühle wie Frustration. Die ForscherInnen sprechen von einer regelrechten "Neidspirale", die der soziale Vergleich mit den vielen positiven Nachrichten und Profilen von vermeintlich erfolgreichen Freunden erzeugt. Neidgefühle der Nutzer führten häufig zu einer ausgeprägteren Selbstpräsentation auf Facebook, die wiederum Neidgefühle bei anderen hervorrufe. [3]

Auf den sozialen Distinktions- und Überbietungszwang bauen auch die geschäftstüchtigen Olympiamacher, wenn sie den Leistungsdarwinismus zum positiv konnotierten Movens von Jugendlichen stilisieren, die sich sowohl in den körperlichen Tretmühlen des Hochleistungssports als auch in den sozialen Neidspiralen des Internets abzustrampeln haben, um als produktive Mitglieder der Gesellschaft anerkannt zu werden.

Tatsächlich hat die beschleunigte Selbstdarstellungskultur in den Sozialen Medien den Anpassungsdruck auf den einzelnen noch erhöht. Wer offline ist, der treibt nicht nur seine soziale Exklusion voran, sondern macht sich auch verdächtig, dem Arbeitgeber wichtige (private) Informationen über seine berufliche Eignung und Verfügbarkeit vorzuenthalten. Längst haben sich in den Sozialen Medien verschiedenste Sport-Communitys etabliert, die sich anhand persönlicher Meßdaten gegenseitig ihren Body-Workout vorrechnen. Was auf Facebook schöne Urlaubsfotos, interessante Freizeitabenteuer oder geile Partyhighlights darstellen, die den Freunden wort- und bildreich unter die Nase gerieben werden, sind bei den vernetzten Sportjunkies Schrittzahlen, verbrauchte Schweiß- und Kalorienmengen oder erfolgreich absolvierte Trainingslevel; vermittelt via Fitness-App, digitalen Armbändern oder GPS-Sender im Turnschuh. Wer durchhält, wird mit virtuellen Auszeichnungen (Badges) belohnt und kann seine sportlichen Erfolge und Rekorde bei Facebook oder Twitter ventilieren. Die "Quantified-Self"-Bewegung geht noch einen Schritt weiter. Um sportliche Leistungen zu verbessern und optimal eingestellt zu leben, werden permanent alle Körper- und Lebensdaten erhoben, in ein kausales Beziehungsgeflecht gesetzt und über ein spezielles Monitoring online gestellt. Die großen Sportartikel- und Elektronikkonzerne, die die kommunikative Nähe zwischen Self-Trackern, Wissenschaft und Online-Community zu schätzen wissen, haben bereits das Massengeschäft im Visier und basteln an neuen Tools, Features und Apps, damit auch der Durchschnittskonsument angefixt und in die Endlosschleifen von digitalem Fitness-Scoring und Sozialfeedbacks eingespeist werden kann. Viele der Konzerne, die den Tracking-Markt bedienen, sind auch Sponsoring-Partner des IOC, die wiederum über ihre Kommunikationsprofis unter den Schlagwörtern "Sichtbarkeit" und "Imageverbesserung" den sozialen Vergleichsstreß in den digitalen Medien schüren, um die profitable Verwertung des Sports insgesamt voranzutreiben. Was auch immer sich die Athleten und Fans vom Social-Media-Marketing erhoffen, ist längst schon mehrfach durch den Fleischwolf fremder Interessen gedreht worden, welche den Partizipienten nun als ihre ureigensten verkauft werden.

Fußnoten:

[1] http://www.handelsblatt.com/sport/sonstige-sportarten/olympia-ioc-olympia-sucht-den-draht-zur-jugend/3274214.html. 05.10.2009.

[2] Der neue Stammtisch. Social Media im Sport. Von Birgit Galle. 20.01.2013
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/nachspiel/1965202/

[3] Studie - Facebook-Nutzung macht neidisch und unzufrieden (idw). Pressemitteilung Humboldt-Universität zu Berlin. 21.01.2013
https://www.schattenblick.de/infopool/medien/fakten/mfam0429.html

5. Februar 2013