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KOMMENTAR/179: Sport ist Mord? (SB)


Sporthilfe präsentiert neue Auftragsstudie über die Dysfunktionen und Gefährdungen im Spitzensport



Die Stiftung Deutsche Sporthilfe (DSH) versucht seit einigen Jahren, die Akzeptanz- und Ansehensverluste des Hochleistungssports in Deutschland auch mit Hilfe von eigenen Studien abzumildern. Mit ihrer jüngsten Auftragsstudie an das Institut für Sportökonomie und Sportmanagement in Köln, die den Titel "Dysfunktionen des Spitzensports: Doping, Match-Fixing und Gesundheitsgefährdungen aus Sicht von Bevölkerung und Athleten" [1] trägt, schreibt die Sporthilfe diesen Versuch fort. Indem sie einen Abgleich unterschiedlicher Wahrnehmungen respektive Assoziationen bei Spitzensportlern und Sportkonsumenten in den Vordergrund rückt, bestätigt sie medienkompatibel, was ohnehin nicht mehr zu verbergen oder zu beschönigen ist. Durchaus mit Erfolg. Ein Leitmedium wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), deren früherer Sportchef seit vergangenem Jahr als "Direktor Kommunikation" in der Deutschen Sporthilfe die Fäden zieht, attestierte dem nationalen Elitenförderer postwendend eine "neue Ehrlichkeit" und zollte ihm großen Dank "für die Veröffentlichung teils erschreckender Aussagen deutscher Athleten zu ihrem Leben und Leiden im Spitzensport" [2]. Könnte man dem umstrittenen Leistungssportsystem in Deutschland besser dienen, als ihm von seiner Kehrseite her unverwandt zu huldigen? Erinnert das nicht an die neue Offenheit der Politik, das wachsende Prekariat in der Bevölkerung einzuräumen, ohne auch nur einen Jota von der Erfolgs- und Leistungsideologie der neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft abzuweichen?

Im Rahmen der Studie, die von der Sporthochschule Köln unter Federführung des Sportökonoms Prof. Dr. Christoph Breuer durchgeführt wurde, wurden 2.008 Personen der deutschen Wohnbevölkerung (telefonische Befragung, Zufallsauswahl) und 1.154 von der Sporthilfe geförderte Athleten (Online-Befragung) befragt. Echte Profisportler, die von der Sporthilfe nicht unterstützt werden, sind nicht dabeigewesen, dafür aber Topathleten aller olympischen und paralympischen Sportarten. Fußballer gehörten ebenfalls nicht zu den Befragten. Schon das schränkt den Aussagegehalt der Studie erheblich ein. Man denke hier nur an die vielen Fälle von Burn-out und Depressionen im hochprofessionellen Kickergewerbe, die insbesondere nach dem Suizid von Nationaltorwart Robert Enke an die mediale Oberfläche gedrungen waren. Gerade die Athletengruppe, auf die auch der Sporthilfe-Vorstand Dr. Michael Ilgner im Vorwort der Studie Bezug nimmt, wenn er mit vorsichtigen Worten konstatiert, daß die Professionalisierung und Funktionalisierung des Sports in Politik oder Wirtschaft seinen "spielerischen Charakter manchmal in den Hintergrund" drängten, bleibt vollkommen im dunkeln. Mit anderen Worten: Die Studie blendet jenen Teil der Topathleten aus, die wohl am besten Aufschluß über die vielbeklagten Schattenseiten des kommerzialisierten Spitzensports geben könnten. Daß es einen marktwirtschaftlichen Zusammenhang zwischen dem vermögenden Teil der Profisportler und der großen Mehrheit von der Hand in den Mund lebenden Elitesportlern gibt, fällt damit ebenfalls unter den Tisch, obwohl die Brecht'sche Sentenz, "Wär' ich nicht arm, wärst du nicht reich", aktueller denn je ist.

Gemäß der von der Studie erfaßten Spitzensportler leiden 9,3 Prozent an psychischen Erkrankungen wie Depressionen, 11,4 Prozent an Burn-out sowie 9,6 Prozent an Eßstörungen. Mehrfachnennungen waren möglich. Die Zahl der Nicht-Antworten lag bei jeweils rund 40 Prozent. Elf Prozent der Athleten geben die regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln zu (keine Antwort: 37,9 Prozent), 34,3 Prozent bekennen sich zur Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln (25,4). 40 Prozent aller Athleten nehmen nach eigener Aussage bewußt gesundheitliche Risiken in Kauf. Daß in den vielzitierten "Leitgedanken" der Sporthilfe ("Leistung, Fairplay, Miteinander") nicht der Wertbegriff "Gesundheit" auftaucht, läßt das Desaster erahnen, würde die Förderwürdigkeit des Hochleistungssports nicht nur am sozioökonomischen Nutzen seiner Sachwalter und Profiteure gemessen, sondern auch am humanistischen Ideal des "Mens sana in corpore sano" (Gesunder Geist im gesunden Körper).

10,2 Prozent sehen absichtliche Regelverstöße als legitimes sportliches Mittel an - was vermutlich mit der durch Fairneßgebote nicht zu lösenden Problematik des Fouls im Sport zusammenhängt, ohne daß in der Studie näher darauf eingegangen wird. 8,7 Prozent erklären, schon an Absprachen über den Spiel- oder Wettkampfausgang beteiligt gewesen zu sein. Auch dieser in den Medien vielbeachtete Wert bleibt vollkommen unklar, denn darunter können auch "taktische Niederlagen" fallen - etwa aus Gründen der Generosität (dem Schwächeren wird der Sieg geschenkt), der Kräfteschonung oder weil Sportler/Mannschaften auf eine günstigere Position im weiteren Wettbewerbsverlauf spekulieren. All das sind sportkonforme Verhaltensweisen, die sich allerdings nicht mit dem knallharten Wettbewerbsgedanken vertragen, wie ihn der kommerzielle Sport zum Schutz der "Integrität des Wettbewerbs" - gemeint ist das Milliarden-Geschäft mit Wetten, Spielen und Wettkämpfen - vertritt. Durch die jüngsten Skandalwellen um illegale Wett- und Spielabsprachen, die von Spitzenfunktionären aus der Sportwirtschaft inzwischen zur "größten Bedrohung des Sports" hochstilisiert werden, geraten diese mehr oder minder abgesprochenen Verhaltensweisen ebenfalls unter Manipulationsverdacht. Hier scheint sich eine neue Welle des Generalverdachts im Sport aufzutürmen, deren Zerstörungspotential bezogen auf das gesellschaftliche Allgemeinwohl überhaupt noch nicht abgeschätzt werden kann.

Als Wasser auf die Mühlen der Scharfmacher entpuppte sich die Angabe von 5,9 Prozent der Athleten, regelmäßig Dopingmittel einzunehmen. 40,7 Prozent wollten sich zu dieser heiklen Frage, trotz zugesicherter Anonymität durch eine spezielle Fragetechnik, lieber nicht äußern. Das ist vor dem Hintergrund, daß sündige Sportler in der Medienöffentlichkeit wie das personifizierte Böse vorgeführt werden, verständlich. Die Studie selbst gibt den Vorbehalten der Sportler im nachhinein recht. Kaum hatten sie Fehlverhalten zugegeben, da wurde ihnen aus ihrer Ehrlichkeit - oder sollte man von Dummheit sprechen? - auch schon ein Strick gedreht. Wie vorherzusehen, lasteten Leichtathletik-Verbandspräsident Clemens Prokop und seine auch im Bundestags-Sportausschuß wirkende Stellvertreterin Dagmar Freitag (SPD) der Nationalen Anti-Doping Agentur (NADA) sofort ineffiziente Strukturen an, da 2011 nur vier Positivfälle bei knapp 8000 Kontrollen registriert worden waren. Mit Verweis auf die "Ethik des Sports" erklärte Clemens Prokop, jeder Verstoß müsse "im Ansatz permanent und gnadenlos" verfolgt werden [3]. Damit wurde der Amtsgerichtsdirektor aus Bayern seinem Ruf als glühender Verfechter eines harten Strafregimes einmal mehr gerecht. Prokop rief betroffene Sportler auf, von der Kronzeugenregelung Gebrauch zu machen, forderte mehr Geld für die Dopingbekämpfung und warb erneut für die Einführung eines Anti-Doping-Gesetzes, das den Besitz von Arzneimitteln oder Wirkstoffen zu Dopingzwecken ab dem ersten Milligramm (siehe Bayerisches Justizministerium) unter Strafe stellt.

Darüber hinaus wiesen Leichtathletik-Funktionäre darauf hin, daß der Verband sich seit 2005 um die dualen Karrieren seiner Athleten kümmere und seit drei Jahren Sportpsychologen und Ernährungswissenschaftler in die Kader schicke. Daß insbesondere Sportpsychologen produktive Bestandteile des leistungssportlichen Drückersystems sind, indem sie dort ausbessern oder optimieren, wo Schwächen, Hemmungen oder Ängste bei den Athleten dazu führen könnten, daß sie die hochgesteckten Erfolgs- und Leistungsnormen verfehlen, ließen die Verantwortlichen lieber unerwähnt. Einerseits beklagt der Vize-Präsident Leistungssport im DLV, Günther Lohre, daß der Gesellschaft zusehends die Begeisterung und das Verständnis für den Leistungssport fehle und auch viele Vereine den Spitzensport vernachlässigen würden, andererseits liefert er selbst einen Hinweis, woran das wohl liegen könnte. Spitzensport sei schließlich "keine himmelrote Reise, sondern eine harte Geschichte mit Druck", so Lohre gegenüber dpa [4].

Da sowohl die Inszenierung als auch die Wahrnehmung des Spitzensports in der Bevölkerung im wesentlichen ein Marketing- und Medienprodukt darstellen, kann es nicht überraschen, daß die mit Skandalen und Sensationen bombardierten Sportkonsumenten auf die Fragen nach möglichen Gründen für ein Fehlverhalten von Athleten oftmals ganz anders antworteten als die Betroffenen selbst. "Während nur 12,7% der Bevölkerung 'Existenzangst' als mögliches Motiv nennen, sind dies unter den Athleten 57,7%. 'Druck durch das Umfeld' nennen 26,9% der befragten Öffentlichkeit, aber 79,8% der Athleten; 'Erfolgsdruck' als mögliche Begründung nennen 63,6% der Bevölkerung, jedoch 88,6% der Athleten", heißt es in einer Pressemitteilung der Sporthochschule Köln. Obwohl die vielgerühmten Werte des Sports kaum mehr in der Lage sind, die normativen Abweichungen in Praxis und Realität des Spitzensports zu überdecken, scheinen sie dennoch geeignet, die Sehnsüchte und Wunschträume der Bevölkerung nach einer heilen Welt projektiv zu verankern: "Einig sind sich die Öffentlichkeit sowie die Spitzensportler in Deutschland darüber, dass die Einnahme von Dopingmitteln klar gegen die Werte des Sports, wie Leistung, Fairplay oder Teamgeist/Solidarität, verstößt." [5]

Daß die Sporthilfe, die normalerweise mit dem Werte-Motto "Leistung, Fairplay, Miteinander" wirbt, das "Miteinander" in den Fragekatalogen der Studie durch das Begriffspaar "Teamgeist/Solidarität" ersetzt hat, wirft die Frage nach dem Sinn und Zweck dieser Wortwahl auf. Abgesehen von der inflationären Verwendung des Begriffs Solidarität, der heute mehr und mehr zum Kommunikationsinstrument für beliebige Werbebotschaften verkommt, handelt es sich bei ihm immer noch um einen linken Kampfbegriff, aus marxistischer Sicht um eine "Waffe im Klassenkampf". Im vergangenen Jahrhundert war Solidarität auch ein zentraler Terminus in sozialdemokratischen und sozialistischen Parteiprogrammen, u.a. in der Sportgroßmacht DDR. Es drängt sich der Eindruck auf, daß die Sporthilfe nun auch aus den Reminiszenzen im einstigen Sportwunderland Kapital schlagen will, indem der Solidaritäts-Begriff zur normativen Zementierung des gesamtdeutschen Fördersystems beitragen soll. Ein Solidaritätsverständnis indes, das die weltweit immer repressiver durchgesetzten Regeln, Normen und Werte des Sports in Kauf nimmt, ist nicht mehr in der Lage, Verbundenheit mit den sozial geächteten Abweichlern und Aussätzigen des vorherrschenden Systems zu erzeugen, sondern muß ihre verschärfte Disziplinierung und Sanktionierung verteidigen. Diese Solidarität ähnelt der im alten Rom, als die Gladiatoren dem Kaiser vor den Kämpfen zuriefen, "die Todgeweihten grüßen dich", statt gegen eine Ordnung aufzubegehren, die Brot und Spiele als Herrschaftsmittel einsetzt - bis zum heutigen Tag.

Als die Sporthilfe vor rund anderthalb Jahren die gemeinsam mit der Sporthochschule Köln durchgeführte Studie "Die gesellschaftliche Relevanz des Spitzensports in Deutschland" [6] präsentierte, erntete sie trotz des vermeintlich erbrachten Belegs, daß "Spitzensportler in der Bevölkerung eine überwältigende Zustimmung erfahren" (DSH-Vorstand Dr. Michael Ilgner), viel Kritik. Die einige tausend Euro billige Studie, die aus einer Telefonumfrage und der Auswertung von Sekundärdaten über die Internetsuchmaschinen Google und Facebook bestand, förderte das für die Sporthilfe schmeichelhafte Ergebnis zutage, daß im Schnitt 85 Prozent der Befragten den Spitzensportlern eine Vorbildfunktion in puncto Leistungsfähigkeit, Fairneß oder Gemeinschaftsgefühl zuwiesen und dies hinsichtlich des Leistungswillens sogar 90 Prozent täten, wie Prof. Breuer laut FAZ.net (05.10.2011) konstatierte. Zudem erfragten die Forscher, daß der Spitzensport für die Außendarstellung von Deutschland wichtiger als Kultur und Politik sei. Im Deutschlandfunk (23.10.2011) zweifelte der Darmstädter Sportsoziologe Karl-Heinrich Bette die Seriosität der Untersuchung an. Wenn die problematischen Seiten des Spitzensports wie Dopingproblematik, Wettbetrug, Kinderhochleistungssport, sexuelle Übergriffe von Trainern usw. angesprochen worden wären, wäre die Studie sicherlich in ein völlig anderes Fahrwasser geraten, sagte Bette. [7]

Auch in der neuerlichen Studie wird nur ein kleiner Ausschnitt der Mißbräuche und Fehlentwicklungen des Hochleistungssports problematisiert. Weder werden sie gründlich untersucht noch von sportunabhängiger Seite wissenschaftlich verifiziert. Eine Allgemeinplätze abfragende Untersuchung unter Topsportlern und Konsumenten, die zudem mit erheblichen Mängeln der sozialen Erwünschtheit und assoziativen Beliebigkeit behaftet ist, mag allerdings ausreichen, in der FAZ [2] einen "Zauber", nämlich den "des beflügelnden Anfangs" zu erzeugen. Dort schreibt der Sportchef: "Denn nur mit dem Mut der Sporthilfe, die Realität in ihrer Welt ungeschminkt zu benennen, lässt sich Glaubwürdigkeit wiederherstellen." Stimmt - aber nur in "ihrer Welt".

Fußnoten:

[1] "Dysfunktionen des Spitzensports: Doping, Match-Fixing und Gesundheitsgefährdungen aus Sicht von Bevölkerung und Athleten". Von Christoph Breuer und Kirstin Hallmann.
https://www.sporthilfe.de/upload/Dysfunktionen_des_Spitzensports_30637.pdf

[2] "Ehrlicher Sport" von Anno Hecker. 01.03.2013.
http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/leistungssport-ehrlicher-sport-12098195.html

[3] Interview mit DLV-Präsident Clemens Prokop. 23.02.2013.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/2020020/

[4] http://www.nwzonline.de/leichtathletik/dlv-goennt-topathleten-verschnaufpause_a_2,0,2011407468.html. 24.02.2013.

[5] http://www.dshs-koeln.de/werte-des-spitzensports/#more-296. 21.02.2013.

[6] https://www.sporthilfe.de/upload/Die_gesellschaftliche_Relevanz_des_Spitzensports_in_Deutschland_23642.pdf

[7] Prof. Karl-Heinrich Bette am 23.10.2011 im Deutschlandfunk: "Für mich hat diese Studie den gleichen Wert wie die Studien, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder politische Parteien in Auftrag geben, um ihre jeweiligen Positionen mit Daten zu untermauern."
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/sport/1586450/

13. März 2013