Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/199: Weltsportstandard - Demokratieabbau (SB)


Gelenkte Demokratie in Ost und West: Zonierung der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit



Wer die hiesigen Mediendarstellungen über die erlaubten "Demonstrationszonen" im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen in Sotschi (7. bis 23. Februar) liest, könnte den Eindruck haben, der "demokratische" Westen sei ein Hort der Freiheit und nur in autokratisch regierten Ländern wie Rußland oder China würden elementare Bürgerrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit unterdrückt. Dies mutet schon deshalb absurd an, weil demokratische Sicherheitsstaaten selbst in massiver Weise Grundrechte einschränken, Ausnahmezustände proklamieren und präventiv-polizeiliche Sonderbefugniszonen festlegen, die Bürgerinnen und Bürger der Willkür staatlicher Verfügungsgewalt aussetzen.

Im SPD-regierten Hamburg waren vor dem Hintergrund gewaltsamer Ausschreitungen um den Erhalt der "Roten Flora" als selbstverwaltetes Kulturzentrum gerade erst mehrere Stadtteile zum "Gefahrengebiet" erklärt worden. Zehntausende Menschen, linke Aktivisten ebenso wie Anwohner und Besucher der Stadtteile, standen plötzlich unter Generalverdacht und konnten von der Polizei anlaßlos kontrolliert, durchsucht, mit Aufenthaltsverbot belegt oder in Gewahrsam genommen werden - "ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland", empörte sich selbst die "Verbotspartei" Bündnis 90/Die Grünen. Weil die Polizei Krawalle bei Demonstrationszügen in Zusammenhang mit dem Erhalt der "Roten Flora" sowie zum Bleiberecht der Lampedusa-Flüchtlinge und zu den evakuierten "Esso-Häusern" befürchtete, war kurzerhand das Recht auf Versammlungsfreiheit in der Hamburger Innenstadt ausgesetzt worden. Ebenso hatte das Oberverwaltungsgericht eine weitere angemeldete Versammlung vor der Handelskammer unter dem Motto "Politische Räume statt Konsummeilen - Gegen die Aushebelung des Versammlungsrechts! Die Stadt gehört allen!" untersagt und an einen Ort außerhalb der Innenstadt verlegt. Der Anmelder hatte die Demo daraufhin nach Polizeiangaben abgesagt. [1]

Bei dem wohl größten Konsumereignis der Welt, den Olympischen Spielen, werden ebenfalls regelmäßig Versammlungs-, Rede- und Meinungsfreiheiten eingeschränkt, unterdrückt oder in speziell genehmigte und überwachte Sonderzonen verlegt. Aktuell in Rußland, das die politisch geschürten Ängste, sicherheitsstaatlichen Begehrlichkeiten und polizeipraktischen Wünsche aus dem In- und Ausland mit "Spielen im Hochsicherheitstrakt" (seit Athen 2004 beliebte Medienfloskel zur Gewöhnung) auf das Nachhaltigste bedient. Wo sie auch ausgerichtet werden, internationale Sportgroßereignisse haben sich längst zu Laboratorien polizeilicher und militärischer "crowd control" entwickelt. Kein Megaevent mehr, das nicht mit den größten und technisch aufwendigsten Sicherheitsvorkehrungen der Landesgeschichte prahlen würde. Das schließt die Kanalisierung, Einschüchterung und Infiltration von Protestbewegungen, die den von multinationalen Konzernen gestifteten Frieden der olympischen Unterhaltungsindustrie stören könnten, zweifellos mit ein. Im Einklang mit der Olympischen Charta des IOC, die jede Demonstration oder politische, religiöse oder rassische Propaganda an den olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen olympischen Bereichen verbietet, hat Rußland nahe Sotschi die erste Demonstrationszone eingerichtet, nachdem der Kreml zunächst überhaupt keine Proteste zulassen wollte. Bei der Sonderzone handelt es sich um eine Parkanlage in Chosta, einer Kleinstadt 18 Kilometer entfernt vom Olympiapark. Jeder Protest muß zudem von den Behörden - einschließlich des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB - genehmigt werden.

Mit der Zonierung und behördlichen Einhegung von Protesten folgt Sotschi nur dem Beispiel anderer Ausrichterstädte. "2008 zu den Spielen in Peking hatten die chinesischen Machthaber Demo-Zonen weit entfernt von den Sportstätten gestattet - allerdings wurden diese kaum genutzt. Ob in Sotschi eine weiteres Protestareal in der Bergregion eröffnet wird, blieb fraglich", verbreitet auch der Sportinformations-Dienst (sid) nur halbe Wahrheiten. [2] Denn bei den letzten Winterspielen 2010 in Kanada und den Sommerspielen 2012 in Großbritannien - Länder, die gemeinhin mit der "freien westlichen Welt" assoziiert werden - hatte es ebenfalls massive Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit gegeben. Diese werden allerdings in öffentlichen Darstellungen weitgehend unterschlagen. Einerseits, um das selbstgefällige Rezeptionsmuster der hiesigen Mehrheitsgesellschaft nicht ins Wanken zu bringen, andererseits, um vom allgemeinen Verfall bürgerlicher Rechtsstandards (siehe die affirmativen Diskussionen um polizeirechtliche Ausnahmezustände, legale Folter, Ausspähung oder Tötung durch Drohnen, Bundeswehreinsatz im Innern, geheimdienstliche Massenüberwachung, Vorratsdatenspeicherung etc.) durch eine sich aufplusternde Berichterstattung über autoritäre Gesellschaftsordnungen abzulenken.

So kramte beispielsweise der Deutschlandfunk die Originalstimme von Tilman Zülch, Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker, aus dem Archiv heraus, der 2008 mit Blick auf die chinesischen Protestzonen erklärte: "Aus den Olympischen Spielen, der Freude, der Versöhnung, der Völkerfreundschaft und damit auch der Offenheit ist eine Olympiade geworden, bei der dominiert: Ein polizeilicher Unterdrückungsapparat ungeheuren Ausmaßes und die Verbannung von Dissidenten und anderen in eine kleine Protestzone, in die natürlich niemand gehen kann, weil die Leute sonst wissen, sie werden Opfer von Lager oder Folter." [3]

Nur der Vollständigkeit halber: Sowohl in Vancouver als auch in London gab es Sicherheitszonen rund um die Olympiastätten, in denen sich niemand unberechtigt aufhalten durfte. Schon gar nicht durften dort spontane oder unangemeldete Demonstrationen abgehalten werden. Während die Medien in aktuellen Darstellungen die Einschränkung der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in Sotschi explizit hervorheben, wurden damals, als Vancouver die Spiele ausrichtete, diese Einschränkungen quasi zum Ausdruck für "Freiheit" umplakatiert. "Friedliche, legale Proteste gegen die Olympischen Spiele werden nicht nur erwartet, sie sind ausdrücklich erlaubt. In Vancouver werden dazu spezielle 'Free Speech'-Zonen eingerichtet, in denen jeder seine Meinung kundtun darf - solange Protestschilder nicht als Waffen missbraucht werden", schrieb seinerzeit die Deutsche Presse-Agentur (dpa). [4]

Nur aufgrund öffentlicher Aufschreie und Klageerhebungen bei Gerichten wurde Demonstranten schließlich zugestanden, auch außerhalb überwachter Sicherheitszonen ("Safe Assembly Areas") ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen - allerdings nur unter einer Vielzahl behördlicher Auflagen und Beschränkungen. Im Rahmen von staatlichen Sicherheitskonzepten der Früherkennung und Vorbeugung waren unabhängige Journalisten, Aktivisten und Gegner der Olympischen Winterspiele, die nach Kanada einreisen wollten, immer wieder stundenlangen Verhören unterzogen worden, teilweise wurden auch Einreiseverbote für Mitglieder und Sympathisanten der Olympic Resistance Networks (ORN) erteilt. Im Inland wurden die Aktivitäten von Nolympia- und Umwelt-Aktivisten von der kanadischen Polizei frühzeitig ausgespäht, zudem kam es zu Hausbesuchen und Nachbarschaftsbefragungen. Verkauft wurden diese Präventivoperationen als Sicherheitsmaßnahmen, über die dann die internationalen Medien, wenn überhaupt, nur mit verhaltener Kritik berichteten. Wenn jedoch Rußland im Zusammenhang mit den Winterspielen Festnahmen, Verhöre oder Hausbesuche bei Aktivisten durchführt, dann steht die westliche Presse sofort Gewehr bei Fuß und läßt überaus sicherheitsverständige Vertreter von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) aufmarschieren: "Die russische Regierung ist vor Olympia in Sotschi zurecht besorgt wegen der Terrorgefahr (...) und hat voll und ganz die Pflicht, die Sicherheit der Spiele zu gewährleisten", sagte HRW-Expertin Jane Buchanan. "Aber sie kann Sicherheitsinteressen nicht als Vorwand benutzen, um Kritiker zu bedrängen und einzuschüchtern." [5]

Natürlich kann sie, das ist ja Sinn und Zweck des Angst und Einschüchterung kultivierenden Sicherheitsstaats, der den Bürger selbst unter Verdacht stellt, ein potentieller Störer, Gefährder oder Terrorist zu sein, wenn er abweichende Meinungen vertritt oder Sozialproteste anzetteln will, an denen Staat und Kapital kein Interesse haben. Mit dem wohlfeilen Sicherheitsargument läßt sich alles durchsetzen. Da sind sich die Sicherheitsexperten aus Politik, (Geheim-)Exekutive und privater Sicherheitsindustrie vollkommen handelseinig. Polizei- und Militärspiele wie in Sotschi sind nur ein weiterer Baustein in der globalen Sicherheitsarchitektur, in der das Mehr an Unterdrückung das Weniger begründet und zur Pflichtübung für alle macht. Daß Rußland einem Dissidenten wie Edward Snowden, der das alle Dimensionen sprengende Überwachungs- und Ausspähsystem des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA und befreundeter Agenturen enthüllt hat, vorübergehendes Asyl gewährt, während die europäischen Herrschaftseliten dem Whistleblower die kalte Schulter zeigen, macht deutlich, daß der neuformierte Feind der kapitalistischen Weltordnung innen steht und sich letzte Differenzen bei der repressiven Behandlung von kriminalisierter Dissidenz, zumal wenn sie in das Raster der Terrorismusbekämpfung fällt, auch noch nivellieren lassen.

"Es ist schwierig, eine Balance zwischen Sicherheit und den Freiheitsrechten von Besuchern und Athleten herzustellen", zeigte der deutsche Ex-Polizist Helmut Spahn viel Verständnis für das Problem der russischen Organisatoren. Jede sportliche Großveranstaltung habe eine latente Bedrohung im Bereich Terrorismus. "Ich kann 70.000 Polizeibeamte einsetzen, Überwachungskameras und Drohnen. Eine hundertprozentige Sicherheit aber gibt es nicht." [6]

Darf's auch ein bißchen mehr sein? 100.000 Polizisten für 99, 50 oder 1 Prozent Sicherheit? Vielleicht hundert Drohnen mehr beim nächsten Sicherheitssportevent in Brasilien, wo sich bereits massive Sozialproteste angekündigt haben? Helmut Spahn ist ein gewandter Sicherheits-Verkäufer. Das expandierende Unternehmen "International Centre for Sport Security" (ICSS), dem er als Direktor vorsteht, wird vom superreichen Emirat Katar finanziert und wirbt mit dem Slogan "security, safety and integrity" (Sicherheit, Schutz und Integrität) um weltweite Aufträge, Nachfragen und Anerkennung. Der Lobbyverein knüpft emsig Verbindungen zwischen wichtigen Funktionsträgern aus Sportunterhaltung, Politik, Wissenschaft und Kriminalitätsbekämpfung und sorgt dafür, daß die Frage, wessen Interessen auf Weltsportveranstaltungen eigentlich geschützt und gesichert werden, den Geldkofferträgern aus Sportbusiness und Industrie niemals ernstlich zur Gefahr geraten kann.

Fußnoten:

[1] http://www.neues-deutschland.de/artikel/918830.polizei-macht-hamburg-zum-gefahrengebiet.html. 21.12.2013.

[2] http://www.zeit.de/news/2014-01/11/oly-off-the-pitch-sotschi-demonstrations-zone-eingerichtet-11195806. 11.01.2014

[3] http://www.deutschlandfunk.de/sotschi-2014-protestieren-in-sotschi. 1346.de.html?dram:article_id=274379. 12.01.2014.

[4] http://www.merkur-online.de/sport/olympia-2010-vancouver/olympia-groesste-operation-friedenszeiten-626942.html. 12.02.2010.

[5] http://www.neues-deutschland.de/artikel/920943.druck-auf-gegner-der-winterspiele-steigt.html. 16.01.2014.

[6] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1535421. 15.01.2014.

20. Januar 2014