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KOMMENTAR/250: Nichts tun verboten ... (SB)


Selftracking als Schüler- und Studentenpflicht?


Self-Tracking-Armbänder und Health-Apps haben ohne Zweifel Hochkonjunktur. Fitnessbranche, Gesundheits- und Lifestyleindustrie, aber auch IT-Unternehmen und Sportartikelkonzerne bringen ständig neue "Wearables" auf den Markt. Das Versprechen auf gesteigerte "Gesundheit", "Leistungsfähigkeit" oder "Effizienz" ködert in zunehmenden Maße auch Schüler und Studenten, die ebenfalls einem harten Wettbewerb um Noten, Lernleistungen und Karrierechancen ausgesetzt sind. Seit einigen Jahren macht sich den USA eine Entwicklung breit, Schüler und Studierende zum "freiwilligen" Tragen von Self-Tracking-Armbändern zu verpflichten. In vielen Fällen sollen diese digitalen, am Körper getragenen Meßgeräte, die zahlreiche Vitalwerte und Bewegungsdaten erheben können, nur im Sportunterricht angelegt werden. Einige Bildungseinrichtungen verlangen aber auch eine Überwachung rund um die Uhr und fangen an, Trackingsdaten und schulische Leistungen bzw. Benotungen miteinander zu verschmelzen.

In Partnerschaft mit dem US-Konzern Interaktive Health Technologies (IHT) hat das deutsche DAX-Unternehmen Adidas kürzlich einen Fitnesstracker speziell für amerikanische Grundschulkinder präsentiert, mit dem SportlehrerInnen die Kinder angeblich zu mehr Aktivitäten anspornen und zugleich besser überwachen können. IHT wirbt auf seiner Website damit, die individuelle Fitness der Schüler mit den schulischen Leistungen korrelieren, die Unterrichtsführung optimieren, alle Beteiligten verbinden und die Schüler befähigen zu können, Gesundheit und Wohlbefinden selbständig zu managen - "für das Leben"! [1]

Damit die Heranwachsenden frühzeitig lernen, worauf es im Leben ankommt, wird ihnen schon im zarten Kindesalter ein Überwachungsreif um das Handgelenk gelegt, der sie "vom Kindergarten bis zum Schulabschluß", so die Zielvorgabe des "IHT Spirit Systems", an die Fitness-Leine legt. Auf diese Weise können auch Eltern und Lehrer (und später die Gesundheitsbehörden oder Versicherer) ständig überprüfen, ob die Schüler noch Bewegungs- oder Gesundheitsdefizite abzuarbeiten haben. Freies Spielen ohne Algorithmen und Datenabgleiche findet indessen immer weniger statt. Die kindliche Aufmerksamkeit wird schon früh auf Scores, Level oder Rankings gelenkt. "Fat Shaming" droht insbesondere übergewichtigen oder fettleibigen Kindern, die mit den "positiven" Zahlenwerten oder Verlaufskurven ihrer Klassenkameraden nicht mithalten können.

"Das Leben leben ohne Grenzen" lautet das Freiheitsversprechen der IHT-Werbetexter, was die Träger offenbar vergessen machen soll, daß ihre Bringschuld in der Endlosschleife der Selbstvermessung in der Tat grenzenlos ist. IHT bringe alle Daten auf seiner Plattform zusammen und ermögliche es den "Entscheidungsträgern", so heißt es auf der Website, Leistungspotentiale auszuschöpfen: "Die Erfassung und Korrelation von Herzfrequenz, Fitness-Tests und aller Beurteilungen zu schulischen Leistungen - Tag für Tag, Jahr für Jahr, bei jedem Schüler." [1] Im vergangenen Jahr sollen in den USA rund 600.000 Schüler das IHT-Netzwerk genutzt haben. Mit Hilfe von Adidas soll 2016 die Millionen-Marke überboten werden.

Lebensprotokollierung wird zunehmend zur Schüler- und Studentenpflicht. Anfang des Jahres sorgte die Oral Roberts University in Tulsa (Oklahoma) für Schlagzeilen, weil sie ihren Erstsemester-Studenten auferlegt hat, Fitnesstracker zu tragen, um ihre sportlichen Aktivitäten überprüfen zu können. Die private Uni rechtfertigt ihr Vorgehen mit einem ganzheitlichen Konzept, das sowohl die Gesundheit von Körper und Geist der Studenten als auch ihre akademischen Leistungen heben soll. Dabei gehen die sportlichen Aktivitäten der Studenten (auch der unsportlichen) zu 20 Prozent in deren Noten ein. Die Studierenden sollen dazu gebracht werden, jeden Tag mindestens 10.000 Schritte zu gehen bzw. 150 Minuten in der Woche aktiv zu sein sowie am Ende des Semesters einen 1,5-Meilen-Lauf zu absolvieren. Die Meßwerte, darunter auch Daten über Gewicht, Schlafdauer und Aufenthaltsort, sendet das Gerät der Marke "Fitbit" automatisch an ein Management-System auf dem Server der Schule. Wer sich den Auflagen der christlich-konservativen Uni nicht unterwerfen möchte, muß sich woanders einen Studienplatz suchen.

Da die Oral Roberts University (ORU) die erste Bildungseinrichtung ihrer Art in den USA ist, die elektronische Bewegungsdaten über ihre Studenten sammelt und diese in direkten Zusammenhang mit Lernleistungen bringt, befindet sich alles noch im Experimentierstadium. Schon melden sich in den USA besorgte Stimmen zu Wort, die davor warnen, daß Fitnesstracker bei Menschen, die z.B. unter Eßstörungen leiden oder anfällig dafür sind, dazu führen könnten, daß sie noch mehr unter sozialen oder physischen Streß geraten, dem Druck zum Kalorienzählen oder -abarbeiten Folge zu leisten. Eßstörungen könnten nicht nur verstärkt, sondern vor dem Hintergrund von Schlankheitswahn und höchst zweifelhafter Schönheitsideale in der Gesellschaft bei vielen überhaupt erst ausgelöst werden.

In Reaktion auf die Anforderungen für Erstsemester an der ORU hat Kaitlin Irwin von "Proud2BMe", ein Abzweiger der National Eating Disorders Association (NEDA) für Jugendliche, eine Petition gestartet und die Uni aufgefordert, das Fitbit-Tracking- und Bewertungsprogramm zu beenden. Das Erfassen und Benoten der Aktivitäten von Studenten fördere eine ungesunde Umgebung, was zu unfairen Vergleichen zwischen Studenten führen kann, kritisiert Kaitlin Irwin. Es schaffe für alle gesundheitliche Einheitsstandards, sporne zu Leistungsüberziehungen an und übe noch mehr Streß auf das Leben von College-Studenten und ihre Betätigungen aus - als Last und nicht als Spaß an täglicher Aktivität. [2]

Was für manche Studierende in den USA bereits zur Pflichtübung geworden ist, könnte sich auch in Deutschland, wo Testläufe noch im Modus der Freiwilligkeit stecken, zum Ein- und Ausschlußkriterium entwickeln. Unter dem Motto "Mit Beurer fit fürs Studium und fit im Leben" stattet seit neustem ein Ulmer Gesundheitsunternehmen alle Erstsemester der privaten praxisHochschule in Köln und Rheine mit dem Aktivitätssensor "AS 81" aus, der mit verschiedenen Health-Apps kompatibel ist. Mit dem Aktivitäts- und Schlaftracker würden die Studierenden Schritt für Schritt durchs Studium begleitet, heißt es in einer Pressemitteilung. Das helfe dabei, die Gesundheit zu stärken und die Lernfähigkeit zu steigern. [3]

Wer nicht der "Jeder-Schritt-zählt"-Kirche beitritt, so läßt sich schließen, schwächt "absichtlich" seine Gesundheit und schöpft seine Lernfähigkeit nicht zu hundert Prozent aus. Mit einer solch "negativen" Einstellung zum Leben sollte er am besten auch gar nicht studieren dürfen. Oder, wie drückte es Kathaleen Reid-Martinez, Leiterin der Oral Roberts University in Oklahoma, in einem Spiegel-Interview aus: "Wer den Fitness-Tracker nicht tragen will, muss ja nicht bei uns studieren." [4]

Fußnoten:

[1] https://ihtusa.com/

[2] https://www.change.org/p/oral-roberts-university-oral-roberts-university-stop-grading-students-on-their-fitbit-activity

[3] http://www.praxishochschule.de/media/com_acymailing/upload/187_160810_pm_beurer.pdf. 10.08.2016.

[4] http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/us-universitaet-studenten-muessen-fitness-armband-tragen-a-1075206.html. 02.02.2016.

30. August 2016


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