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INTERVIEW/006: Armut, Flucht und Nöte - Kompromißlos helfen und versöhnen ...    Cansu Özdemir im Gespräch (SB)


Die soziale Frage zwischen Megaevent und Machtpolitik

Veranstaltung der Hamburger Linksfraktion am 15. Oktober 2015


Cansu Özdemir ist Kovorsitzende der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Am Rande einer Veranstaltung der Fraktion zum Thema "Armut in Hamburg und der Traum von Olympia" beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu den sozialen Umständen der Olympiabewerbung Hamburgs wie zur jüngsten Entwicklung in der Türkei.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Cansu Özdemir
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Frau Özdemir, das Thema der heutigen Veranstaltung lautet "Armut und Olympia". Wo wären die Mittel besser eingesetzt, die für diesen Megaevent verwendet werden sollen?

Cansu Özdemir: Wir haben in Hamburg eine steigende Armut, das heißt, die Armutsquote ist innerhalb von zwei Jahren von 15 auf 17 Prozent gestiegen. Wir haben die Situation, daß Sozialwohnungen fehlen, wir haben aber auch die Situation, daß es auf dem Arbeitsmarkt nicht so rosig aussieht und daß prekäre Beschäftigung anwächst. Auf der anderen Seite haben wir die Situation, daß immer mehr Flüchtlinge in die Stadt kommen, was auch bedeutet, daß die Bedarfe der alten BewohnerInnen, aber auch der neuen BewohnerInnen in Hamburg immer weiter steigen. Und da wäre das Geld, welches mit dem Argument der Einhaltung der Schuldenbremse nicht herausgerückt wird, besser eingesetzt als bei Olympia, wo wir allerdings sehen können, daß es einfach mal so aus der Stadtkasse fallen kann.

SB: Was sagen Sie zu dem Argument, daß durch Olympia Aufwertungsprozesse in Gang gesetzt werden könnten, die am Ende insgesamt als Nettogewinn verbucht werden?

CÖ: Wir diskutieren heute auch die Frage: Wer profitiert eigentlich von Olympia? Da kann man ganz deutlich sagen, daß es eben nicht diejenigen sind, die unter Armut leiden. Schauen wir uns doch einmal die Infrastruktur der Stadtteile an: Was wird zum Beispiel in Steilshoop aufgewertet? Brauchen wir wirklich Olympia, damit in die Stadtentwicklung investiert wird, damit die Infrastruktur aufpoliert wird? Und wenn es so wäre, dann betrifft es wahrscheinlich nur die Innenstadt, was zudem heißen könnte, daß am Ende Obdachlose, die sich ja vermehrt dort aufhalten, vertrieben werden.

SB: Heute ist im Bundestag mit dem Asylpaket eine Verschärfung des Asylrechts verabschiedet worden. Die Linke hat eine klare Position und dagegen gestimmt. Die allgemeine Stimmung, die jetzt geschürt wird, lautet eher "wir wollen das nicht schaffen". Was ist Ihrer Ansicht nach möglich für die Bundesrepublik in bezug auf anwachsende Flüchtlingsmengen?

CÖ: Olaf Scholz hat gestern in seiner Regierungserklärung zum Beispiel gesagt, daß Ressourcen da sind, und daß mit diesen Ressourcen eben auch diese Situation bewältigt werden kann. Aber wenn wir uns die Zustände in den Flüchtlingsunterkünften anschauen, scheint das in der Praxis nicht so zu sein. Das Asylpaket, das angeblich Verbesserungen hervorbringen soll, bedeutet auf kommunaler Ebene, sprich in Hamburg, zum einen, daß in der zentralen Erstaufnahme die Aufenthaltsdauer auf sechs Monate erhöht wurde und die Menschen länger als drei Monate in Massenunterkünften leben müssen. Zum andern werden Hotspots an den EU-Grenzen eingerichtet, damit die Menschen davon abgehalten werden, nach Deutschland oder in die anderen Länder zu ziehen.

Ich gehe davon aus, daß sich die gesellschaftliche Situation durch eine Politik der Abschottung, bei der die Menschen gar nicht erst ins Land hereingelassen werden sollen, nicht verbessern, sondern verschärfen wird. Wir waren schon früher, als die Gastarbeiter kamen, aber auch in den 90er Jahren, damit befaßt, daß mehr Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland kamen, und sind damals auch damit fertig geworden. Natürlich ist es jetzt eine der größten Einwanderungsbewegungen, die man seit langem gesehen hat. Aber man muß sich auch die Frage stellen, was hat Europa dazu beigetragen, daß die Flüchtlinge jetzt zu uns nach Deutschland kommen? Wer ständig Waffen in Krisengebiete wie Saudi-Arabien oder die Türkei schickt, der muß sich nicht wundern, daß von dort auch Flüchtlinge kommen, Menschen, die es einfach nicht mehr aushalten in diesen Ländern und bei uns Schutz suchen. Und da finde ich diese Panikmache "Oh nein, Flüchtlinge kommen nach Deutschland, wie sollen wir das schaffen?" schon ziemlich heuchlerisch.

Ich glaube einfach, daß Deutschland die Ressourcen besitzt, das zu schaffen. Und man sieht ja auch in der Zivilgesellschaft, daß die Menschen es sich zur zentralen Aufgabe gemacht haben, den Flüchtlingen zu helfen. Natürlich gibt es Ausnahmen wie in Freital oder anderen deutschen Dörfern oder Städten, aber ich habe hier vor allem bei den Jugendlichen gesehen, daß die meisten sich dafür aussprechen, mehr Flüchtlinge zu akzeptieren.

SB: Die Bundesregierung beziehungsweise die EU bemüht sich darum, in der Türkei im Vorfeld große Flüchtlingslager errichten zu lassen. Präsident Recep Tayyip Erdogan war in Brüssel und wurde dort vom Präsidenten des EU-Parlaments Martin Schulz und dem Chef der EU-Kommission Jean-Claude Juncker hofiert. Beide erklärten, die Türkei müsse ein sicheres Herkunftsland sein, weil sie ja EU-Beitrittskandidat ist. Gleichzeitig haben wir den Anschlag von Ankara erlebt, und es war nicht der erste Anschlag gegen Kurden und Linke in den letzten Monaten. Was sagen Sie zu der Behauptung, daß die Türkei ein sicheres Herkunftsland ist, so daß Flüchtlinge, die hier politisches Asyl beantragen, dorthin zurückgeschickt werden können?

CÖ: Diejenigen, die behaupten, die Türkei sei ein sicheres Herkunftsland, wissen, daß sie die Unwahrheit sagen. Sie wissen, daß die Türkei eben kein sicheres Herkunftsland ist vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung, aber auch vor dem Hintergrund der letzten Jahre, in denen massenhaft JournalistInnen, GewerkschafterInnen, politische AktivistInnen, also viele Menschen, die in einer demokratischen Bewegung aktiv sind, festgenommen wurden, ja auch hingerichtet wurden auf offener Straße. Zuletzt kam es zur international kritisierten Ausgangssperre in Cizre.

Ich war selber in Suruc an der Grenze zu Kobane und habe mir dort die Situation der Flüchtlinge angeschaut. Mir wurde auch berichtet, daß ständig bewaffnete IS-Kämpfer über die Grenze durchgelassen werden. Während der Schlacht um Kobane wußte eigentlich die ganze Welt, daß Erdogan den IS medizinisch, waffentechnisch unterstützt, das ist kein Geheimnis mehr. Ich glaube zudem, daß der AKP-Regierung nicht nur eine politische Verantwortung für die Anschläge zukommt, sondern daß sie auch in sie verstrickt ist. Sie hat Kontakte zum IS und wußte auch, daß es einen solchen Anschlag geben wird, der das Land ins Chaos stürzt. Und in der Türkei gibt es momentan bürgerkriegsähnliche Zustände, und zwar nicht nur im Südosten des Landes, sondern auch in anderen Städten werden Menschen massenhaft verfolgt. Und von daher darf es keine schmutzigen Deals mit Erdogan geben.

SB: Angesichts dessen, daß ungefähr drei Millionen Türken und Kurden hier in Deutschland leben, weist das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Türkei auch innenpolitische Aspekte auf, wenn etwa die verschiedene Gruppen, wie es teilweise schon geschehen ist, aufeinander losgehen. Was würden Sie an der Stelle der Bundesregierung tun, um dieses Verhältnis zu befrieden?

CÖ: Die letzten Ereignisse wie die von türkischen Nationalisten in Deutschland durchgeführten Demonstrationen haben gezeigt, daß die Bundesrepublik hier ein Problem hat, das sie lange Zeit ignoriert hat. Es gibt ein Problem mit türkischen Nationalisten, ganz konkret den Grauen Wölfen. Wir wissen, welche Ideologie sie vertreten, wir wissen, daß sie auch bereit sind zu töten. Im Wahlkampf in der Türkei wurden Menschen von den Grauen Wölfen umgebracht. Ich glaube, daß die Bundesregierung auch auf die Grauen Wölfe ein Auge haben sollte, anstatt angebliche Mitglieder der PKK zu beobachten, bei denen es sich um kurdische Aktivisten handelt, die einfach nur auf Demonstrationen gehen und das meistens friedlich.

Ich finde aber auch, daß die Bundesregierung mehr beitragen könnte, wenn sie eine deutliche Position in bezug auf den Friedensprozeß in der Türkei einnehmen würde. Wenn Steinmeier nicht gegenüber Erdogan erklären würde, ihn im Kampf gegen den Terrorismus, also gegen die PKK, zu unterstützen, sondern sagen würde, wir möchten, daß die Türkei sich mit der PKK und Abdullah Öcalan an den Tisch setzt und den Friedensprozeß voranbringt, dann wäre das ein positiver Schritt, den die Bundesregierung machen könnte. Aber sie läßt sich momentan von Erdogan erpressen.

SB: Das tote Flüchtlingskind, das in Griechenland an den Strand gespült wurde und dessen Bild um die Welt ging, war ein kurdischer Junge aus Kobane. Finden Sie, daß der in Rojava gestartete Versuch, eine selbstorganisierte friedliche Enklave inmitten des Kriegsgebiets zu bilden, von europäischen Regierungen, die ja eigentlich ein Interesse daran haben müßten, daß die Menschen dort den angerichteten Schaden minimieren, genügend Unterstützung bekommt?

CÖ: Ja, das Foto von Aylan Kurdi stand natürlich auch symbolisch dafür, daß der Westen die Kurden nach der Schlacht um Kobane im Stich gelassen hat. Daß dabei zugeschaut wurde, wie die Menschen dort - jetzt naht der Winter - in diesen Trümmern versuchen, die Stadt wieder aufzubauen, und sich auch nicht dafür eingesetzt wurde, daß ein humanitärer Korridor nach Kobane und Rojava geöffnet wird. Das Foto hat auch deutlich gezeigt, wie viele Opfer die Kurdinnen und Kurden im Kampf gegen den IS, im Kampf gegen Kräfte, die man eben nicht als progressiv bezeichnen kann, sondern die mit islamistisch-faschistischer Ideologie vorgehen und versuchen, all das, was ihnen in die Quere kommt, abzuschlachten, alleingelassen hat. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie sich das weiterentwickelt, nachdem Rußland sich eingemischt hat. Aber es scheint mir momentan so zu sein, als würden die großen Mächte Syrien als ein Schlachtfeld betrachten, auf dem sie demonstrieren wollen, wer der Stärkere ist.

SB: Die Linkspartei ist mit zehn Abgeordneten in der Bürgerschaft vertreten. Ist Ihre Fraktion in der Lage, hier in Hamburg zum Beispiel in bezug auf Probleme von Migrantinnen und Migranten wie diejenigen zwischen Türken und Kurden aus der Opposition heraus eine Politik zu machen, die sich positiv auf deren Situation auswirkt?

CÖ: Klar, wir versuchen auf jeden Fall, bei vielen Aktionen dabei zu sein. Als die Nationalisten hier demonstriert haben, wollten sie auch die kurdischen Vereine angreifen, da waren wir vor Ort und haben versucht, zu schlichten und deeskalierend einzuwirken. Wir versuchen aber auch, auf parlamentarischem Wege immer eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Ländern und Hamburg zu ziehen. In Hamburg leben viele Menschen aus anderen Ländern und gehören jetzt zur Gesellschaft der Hansestadt. Und das ist wirklich ein Kampf, endlich in der Bürgerschaft zu erreichen, daß die Menschen oder auch andere Parlamentarier verstehen, daß sie ein Teil von Hamburg sind und es bei Konflikten nicht heißt, da gehen Türken und Kurden aufeinander los, sondern da haben hamburgische Jugendliche einen Konflikt, in den man deeskalierend eingreifen muß, wie man es sonst auch macht, wenn es etwa eine Schlägerei auf dem Oktoberfest gibt.

Und der andere Punkt ist, was mich gestern in der Bürgerschaft sehr verärgert hat, daß alle Fraktionen außer uns immer wieder unterstreichen mußten, daß alle Menschen, die hierher kommen, sich an die Gesetze und an europäische Werte zu halten haben. Da frage ich mich, wird jetzt den Menschen, die zu uns kommen, unterstellt, daß sie keine Werte haben? Da fühle ich mich natürlich auch persönlich angegriffen, weil für mich gibt es nur universelle Werte, also Menschenrechte und Demokratie, und die sollten für alle gelten. Die Menschen wären gar nicht geflüchtet, wenn sie nicht diese Werte hätten.

SB: Frau Özdemir, vielen Dank für das Gespräch.

19. Oktober 2015


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