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BERICHT/017: "Patterns Beyond Traces" - Eine ghanaisch-deutsche Befreiung (SB)


Der Zorn der Dance Factory Accra auf dem Simple Life Festival 2010


"Patterns Beyond Traces" heißt das Stück, das die Choreographin Gerda König mit dem fünfköpfigen mixed-abled dance Ensemble "Dance Factory" 2009 in Ghanas Hauptstadt Accra entwickelte. Es wurde am Dienstag im Rahmen des noch bis zum 21. November 2010 stattfindenden "Simple Life Festivals" auf Kampnagel nach Stationen in Dortmund, Bremen, Münster und Köln, wo sich der Hauptsitz von Gerda Königs Tanzkompanie "DIN A 13" befindet, endlich auch in Hamburg aufgeführt.

Patterns Beyond Traces - Tänzerin der Dance Factory Accra - © 2010 DIN A 13/Dance Factory Accra

Tänzerin der Dance Factory Accra in "Patterns Beyond Traces"
Foto: J. Mweu
© DIN A 13/Dance Factory Accra

Hochkonzentriert und mit explosiver Wirkung legt die Performance offen, wie wir in unseren menschlichen Körpern gefangen sind, deren Kontrolle doch schon längst von dem Budenzauber westlicher Traditionslosigkeit übernommen worden ist. - Oder? Eine Lösung für dieses Problem gibt es nicht; doch ist es möglich und höchst erstrebenswert, gemeinsam den Kampf gegen gesellschaftliche Gewalt aufzunehmen. In der Rückbesinnung auf die ursprüngliche Bedeutung sehr alter Rituale und Geschichten, das zeigen Gerda König und die Dance Factory Accra, lässt sich ein individueller Weg finden, unsere Körper, wie auch immer sie beschaffen sein mögen, wiederzuerkennen und für uns zu gewinnen.

Blutrote, auf dem schwarzen Boden zu einem großen runden Schneckenhaus gelegte Bänder umschließen die in der Mitte gänzlich niedergebeugt kniende Tänzerin, die zu ruhigen vollen Klängen langsam beginnt sich zu erheben. Mit einer einzigen kraftvollen Geste ihrer ausgebreitet nach oben weisenden Arme nimmt sie den orange-rot beleuchteten Raum vollständig ein. Sie zieht sich mit den Armen nach vorn und kriecht durch die rote Schneckenbahn, setzt sich wieder auf, hebt ihr Bein mit der Hand, kippt ihren Fuß einmal und stellt sich schließlich mit Hilfe ihrer Arme und Hände auf alle Viere, ohne im Stand auf mehr als die feste Statik ihrer schmalen, fast vollständig gelähmten Beine zurückgreifen zu können. Anmutig hebt sie einen Arm senkrecht über ihren waagerechten Oberkörper, begibt sich langsam wieder hinunter und zieht ihre Beine unter ihren Rumpf, um sich auf der Bahn weiter voran zu bewegen, den Kreislauf von neuem beginnend.

Jedesmal tritt ein weiterer Tänzer an das Ende der roten Spirale, nimmt die Bewegungen auf und geht der Tänzerin in der Mitte entgegen. Doch Moment! Ich traue meinen Augen nicht. Als der fünfte Tänzer am Boden sitzt und sein Bein hebt, geht mein Blick plötzlich ins Leere, denn er hebt ein Bein, das er gar nicht hat! Wie kann es sein, dass ich das nicht gleich gesehen habe, als er auf die Bühne kam? Nur langsam begreift der Zuschauer, dass die Choreographie tatsächlich zum größten Teil aus Bewegungen zu bestehen scheint, die von den gehbehinderten Tänzern aus ihren besonderen Körpergegebenheiten entwickelt worden sind. So wird im Tanz eine lebendige Bewegungswelt geschaffen, in der das Ensemble scheinbar jenseits jeglicher Monotonie zu einer Ganzheit verschmilzt. Diese Kunst wahrt die filigranen Einzelheiten der Bewegungen und stellt sie zu keiner Zeit irgendeiner bedingungslosen und hastig zu konsumierenden Perfektion anheim, denn alle Tänzer haben sich das federnde Auf und Ab des einbeinigen Tänzers, der ohne Gehhilfe läuft, angeeignet und zeitgleich mit seinem Kommen in ihre Bewegungen aufgenommen, und alle ziehen sich genauso wie die nahezu gänzlich von der Hüfte abwärts gelähmte Tänzerin bedächtig und kraftvoll mit den Armen über den Boden.

Gerda König, die mit ihrem Engagement bereits 2005 Projekte für mixed-abled dance in Brasilien und Kenia initiierte und seit 2009 in Ghana aktiv ist, erarbeitet mit den zuvor in Auditions ausgewählten behinderten und nichtbehinderten Tänzern Choreographien, die aus den eigenen Ideen und Wünschen der Teilnehmer entstehen und die spezifischen Körpergegebenheiten der Projektteilnehmer in den künstlerischen Prozess einbeziehen. Zu Beginn der Arbeit ist nichts festgelegt, jede einzelne Bewegung wird während des intensiven Trainings und in Gesprächen, die sich bei "Patterns Beyond Traces" insbesondere um Tradition und Rituale der Ghanaischen Kultur und der afrikanischen Gesellschaft drehten, gemeinsam mit den Tänzern entwickelt. Die Ansicht, dass dies keine Einschränkung bedeutet, sondern für ausnahmslos alle eine Möglichkeit darstellt, unkonventionelle Bewegungsabläufe zu erlernen und auszuloten, die sogar für professionelle Tänzer völlig neu sind, teilen auch die Mitglieder des mixed-abled dance Ensembles der Dance Factory Accra. "Die körperlich behinderten Tänzer machen so viele einzigartige Bewegungen, die sogar ich als profe ssioneller Tänzer nicht einfach so machen kann, das musste ich erst lernen", sagt einer der beiden Tanzprofis im Gespräch mit dem Publikum, das nach jeder Vorstellung die Möglichkeit hat, Fragen an das Ensemble zu stellen, "andere Freunde, die nichts mit dem Projekt zu tun hatten, sahen mich dann diese Bewegungen tanzen und fragten mich: 'Wie machst du das?', und ich sagte: 'Ihr müsst diese Techniken von ihnen lernen'." Und ein Laientänzer berichtet: "Als wir das Projekt begannen, gab es an jeden von uns die Frage: 'Welche perfekte, besondere Bewegung kannst du machen?' Es war großartig, als wir anfingen diese speziellen Bewegungen voneinander zu lernen und es war nicht leicht, denn jeder Körper bewegt sich auf einmalige Weise. Das zu lernen ist eine große Herausforderung."

Kann man durch lautes Klatschen und auf den Boden schlagend eine Geschichte erzählen, Zusammenhänge erklären? Man kann. Der Tänzer, der in vollständiger Stille auf der Bühne steht, beklopft, nachdem er grob den Boden bearbeitet hat, vorsichtig mit der Hand die Fläche seines Oberkörpers. Er tanzt ein intensives Solo und verursacht damit einen Sog, der alle Aufmerksamkeit in sich hineinziehen will. Auch das laute Händeklatschen des kräftigen Mannes durchbricht nur von Zeit zu Zeit diese fesselnde Trance. Wo kurz zuvor noch eine Person getanzt hat, es war doch ein Mensch mit Kopf, führen in schlängelnden Wellen jetzt allein Hände und Arme seinen ganzen Körper. Er beschwört, was ihn ausmacht, er zeigt, dass es möglich ist, seinen eigenen Leib so zu kontrollieren, dass der Zauber der Bewegung den ganzen Raum verändert. In dieser Bewegung zieht er sein rotes Seidenband wieder auf dem Boden aus, formt es zu einem Kreis und dann zu einem Quadrat mit einem roten Kreuz von Ecke zu Ecke im Inneren. Vielleicht das ghanaische Adinkra-Symbol für Heiligkeit und glückliche Zufälle oder für ein von Sturm umwehtes doch standhaftes Haus?

Der Tanzende weist einen anderen Mann, der an den Rand des Geschehens getreten ist, mit einer bestimmenden Geste an, sich in dieses Symbol zu stellen. Mit derselben Geste, nur fragend, folgt der Mann, dessen linkes Bein leicht verkürzt und sehr dünn ist, seinem Befehl. Der erste zieht dem zweiten das rote Band unter den Füßen weg, kurz steht die Angst im Saal, er könnte fallen, doch das Band löst sich und umfließt seine Beine. Sein Stand ist sicher und er beginnt mit dunkler, tiefer Stimme zu singen. Nach und nach fallen alle Tänzer in den Chor des Liedes ein, das nun in ein rockiges Rapstück übergeht, in dem das Feuer des singenden Tänzers vollends aufflammt. Mit voller Wucht entfesselt er sein ganzes Breakdance-Können. Den Refrain des Liedes spricht er immer wieder, nicht anklagend, nicht vorwurfsvoll, vielmehr als einen Schlachtruf: "A nation without tradition is vanity!"

Ensemble der Dance Factory Accra in Patterns Beyond Traces - © 2010 DIN A 13/Dance Factory Accra

Das Accra Dance Factory-Ensemble in "Patterns Beyond Traces"
Foto: J. Mweu
© 2010 DIN A 13/Dance Factory Accra

Nicht die Behinderung ist den Körpern als Makel immanent, sondern der Makel klebt hinter den Blicken der "Normalen". Nicht die Unfähigkeit, bestimmte Körperteile so benutzen zu können, wie andere, klebt an den andersgeformten Menschen. Das gesellschaftliche Ideal behindert uns ausnahmslos alle, auch körperlich. Gnadenlos bekräftigt wird diese Analyse im szenischen Zusammenspiel der fünf Tänzer, die sich nun in Blechschalen gestellt oder gesetzt haben und in dieser fragilen, balanceintensiven Lage auch noch damit beginnen, ein eigenes rotes Band jeweils um ein Körperteil zu winden. Sie umschlingen ihren Kopf, das Bein, die Hand, den Bauch, den Beinstumpf oder beide Hände. Unvermittelt und in aufreibender Musik fangen die rotmarkierten Körperstücke zu zittern an und scheinen von fremdartigen Impulsen kontrolliert, denen das Ensemble gegen seinen Willen folgen muss. Wie auf ein Kommando steht alles Rote, bebend in eine Richtung gehalten, ab und die hockenden, sitzenden oder aufrechten Tänzer werden von diesen entfremdeten Gliedern, die dem groben Wechsel dieser Richtung bedingungslos folgen, immer wieder umgerissen. Ja! Das muss er sein! Der gewaltige Strudel, der alles abzureißen droht, das nicht der Norm entspricht.

Ein akrobatisch hochanspruchsvolles Schattenboxen zwischen einem der körperlich normalen Tänzer und demjenigen, dem das rechte Bein fehlt, beginnt. Er lässt seine hölzerne hohe Gehhilfe nun vollständig mit seinem Körper verschmelzen und ist ein Teil des fallenden und steigenden Kampfes der beiden sich gegenseitig besetzenden Geister. Unantastbar erscheint der eine dem anderen, keiner von ihnen wird es schaffen, seinen Gegner auch nur zu berühren. In ihrem Schatten, den das Rampenlicht an die pink-rot beleuchtete Wand hinter ihnen wirft, ersetzt das Bein des einen kurz das Nicht-Bein des anderen. Je länger der Kampf, bei dem alles erlaubt zu sein scheint, anhält, desto mehr schwindet die anfänglich feindliche Distanz der Kämpfer, die Ungleichheit weicht ehrenvoller Achtung des gegnerischen Kriegers.

Die Idee für dieses Duo sei von den beiden Tänzern selbst eingebracht worden, schildert Gerda König, und sei aus einer Geschichte von einem Ritual entstanden, mit dem man sich unantastbar macht, bevor man in den Kampf zieht. Die Arbeit an der Choreographie sei jedes Mal wieder überraschend für alle, weil sie nie wüssten, wo es hingehe, und es sei ein Prozess, eine gemeinsame Reise. Besonders wichtig aber sei ihr, so die Choreographin und Tänzerin, die aufgrund einer Nervenkrankheit seit langem im Rollstuhl sitzt, dass ihre Arbeit auch ein kultureller Ausbruch sei, dass beide, die Europäer und die Leute, die vor Ort leben, sich gegenseitig beeinflussen. Auch wenn hinter jeder Szene eine Idee stecke und jede einzelne Bewegung für das Ensemble im Kontext der Szenen eine Bedeutung trage, so König weiter, sei es in "Patterns Beyond Traces" gelungen einen interpretativen Freiraum zu erhalten, der dem Zuschauer die Möglichkeit lässt, sich selbst wieder zu finden, ohne jede Bewegung "verstanden" haben zu müssen.

Ein funkensprühendes Percussionstück, für das die Tänzer ihre zuvor so körperisolierenden Blechschalen einfach zum vielseitigen Trommelinstrument umfunktionieren, löst die über der Bühne liegende Spannung, und ihr trommelnder Gesang provoziert mehr als die Freude darüber, diesem ghanaischen Befreiungsfest beiwohnen zu dürfen. Dass hier der sich rhythmisch steigernde Zorn, die wilde Verschworenheit der Tanzenden kaum auf die Zuschauer im Saal überspringt, obwohl viele mit Sicherheit liebend gern mitgestampft oder geklatscht hätten, liegt vielleicht daran, dass das deutsche Publikum die Trennung von Bühne und Zuschauerraum noch nicht wirklich aufzuheben weiß. - Aber zum Glück verfehlt auch eine einseitige Befreiung niemals ihr Ziel. Und sie trifft direkt!

19. November 2010