Schattenblick →INFOPOOL →THEATER UND TANZ → REPORT

BERICHT/025: Hamburger Theaternacht eröffnet neue Perspektiven (SB)


Hamburger Theaternacht eröffnet neue Perspektiven

von Julia Barthel


Sie möchten für ein paar Stunden dem Alltag entfliehen, vor der eigenen Haustür eine andere Welt entdecken oder einfach nur neue Leute kennen lernen? Dieser verlockende Gedanke führt im Spätsommer diesen Jahres ausnahmsweise mal nicht vor den Fernsehschirm, in die nächste Kneipe oder ins Internet, sondern raus auf die Straße und hinein ins echte Leben.

Am Samstag dem 10. September 2011 bietet die Hamburger Theaternacht allen Abenteuerlustigen und Neugierigen die Möglichkeit, sich auf die lebendige Kulturszene der Stadt einzulassen wie auf eine Reise durch unbekanntes Terrain. Ob man sich dabei als Zuschauer von Kostproben aus dem Repertoire bekannter Häuser wie dem Thalia Theater inspirieren lassen möchte oder gar in einem Kultursalon nach dem Vorbild der 20er Jahre ein Teil der Performance werden will, bleibt dabei jedem selbst überlassen. Das Spektrum des künstlerischen Programms reicht vom klassischen Stück über experimentelle Multimedia-Installationen bis hin zum gesellschaftspolitischen Denkanstoß aus dem unbekannten Stadtteil von nebenan.

Bild Mitte: Isabella Vértes-Schütter, Intendantin des Ernst Deutsch Theaters, und Ohnsorg-Intendant Christian Seeler sowie links und rechts die Inperspekt-Mitmacher Felix Zilles-Perels und Henry Grotkasten - Foto: © Inperspekt 2011

Bild Mitte: Isabella Vértes-Schütter, Intendantin des Ernst Deutsch Theaters,
und Ohnsorg-Intendant Christian Seeler sowie links und rechts
die Inperspekt-Mitmacher Felix Zilles-Perels und Henry Grotkasten
Foto: © Inperspekt 2011

In dieser besonderen Nacht gibt es keine verschlossenen Türen, denn 40 Hamburger Theater öffnen nicht nur ihre Pforten, sondern verlegen so manche Inszenierung aus den Häusern an ungewöhnliche Orte wie ausrangierte Busse oder auf die Straße. Allen Beteiligten ist es wichtig, dass die Besucher die Bühnen nicht als hermetisch abgeschlossene Kulturstätten erleben, zu denen man nur mit einer lange im Voraus erworbenen Karte Zutritt erhält, um eine präzise durchgeplante Aufführung bewundern zu dürfen. Deswegen bringen Schauspieler, Tänzer, Sänger, Regisseure und alle anderen Künstler das Schauspiel so dicht wie möglich an die Menschen heran. Reinschnuppern, Ausprobieren und Mitmachen ist ausdrücklich erwünscht. So feiern Darsteller und Zuschauer im September nun schon zum achten Mal gemeinsam die Eröffnung der Spielzeit.

Die Erkundungstour beginnt um 19.00 Uhr an der zentralen Bühne am Jungfernstieg, die bis zu später Stunde vom NDR bespielt wird. Von hier aus können die Besucher der Theaternacht in alle Richtungen ausschwärmen. Für schlappe 11 Euro dürfen jene, die ihr Ticket im Vorverkauf erworben haben, alle Veranstaltungen besuchen und vor allem sämtliche Verkehrsmittel vom Alsterschiff über die U-Bahn bis zum Bus benutzen. Die freie Wahl der Transportmittel soll den Trip durch die Nacht so reizvoll und angenehm wie möglich machen. "Man muß sich nicht nur auf die Shuttle-Linien beschränken, sondern kann den gesamten Nahverkehr nutzen. Viele Leute wissen immer noch nicht, dass sie mit ihrer Karte wirklich auch die nächste U-Bahn entern und so von A nach B fahren können", bekräftigte der Intendant des Ohnsorg Theaters, Christian Seeler auf der Pressekonferenz im Juni, wo schon einige spannende Programmpunkte der kommenden Theaternacht vorgestellt wurden. Der Vorverkauf der Tickets beginnt ab dem 1. August und spontane Besucher können ihre Karte an der Abendkasse für günstige 14 Euro bekommen.

Das nächtliche Spektakel zu Wasser, zu Land und in den Theatern bietet dem Publikum bis 24.00 Uhr 300 Programmpunkte zur freien Auswahl. Dabei werden viele klassische Formen wie die Oper, das Ballett und das Kabarett sich auf dieser Plattform neu erfinden oder den Glanz bewährter Traditionen für Liebhaber und Neueinsteiger erstrahlen lassen. Die Staatsoper, das Hamburg Ballett und das Schmidts Tivoli sind nur einige der bekannten Größen, die bei der Hamburger Theaternacht mitmachen. Nach Zwölf klingt das bunte Treiben auf den Bühnen dann langsam aus, jedenfalls soweit es die regulären Inszenierungen betrifft. Passend zur magischen Uhrzeit beginnt dann die 'Verrückte Stunde', in der ganze Ensembles einfach das Theater tauschen und unter schrillen Überschriften wie 'Vom Reeperway zur Broadbahn' auftreten. Irgendwann ist natürlich auch diese spezielle Kulturzeit zu Ende, aber der Spaß muss deswegen noch lange nicht vorbei sein. Diesmal findet die grosse Abschlussparty der Theaternacht im Zelt der Fliegenden Bauten am Heiligengeistfeld statt und es darf bis in die frühen Morgenstunden gefeiert werden.

Quer durch die Stadt fahren, überall neue Eindrücke mitnehmen und lange wachbleiben, um das ganze Unterhaltungsprogramm zu erleben, macht Laune, zehrt aber auch an den Kräften. Wer sich jetzt fragt, wie man bei all dem frisch und munter bleiben soll, dem kommt der Hamburger Theaterbecher sicher gerade recht. Dieser Becher begleitet die Besucher der Theaternacht schon seit Jahren durch den kulturellen Ausnahmezustand und ist inzwischen schon zum Sammlerstück geworden. Seine wundersame Eigenschaft als Talisman der Nachtschwärmer besteht darin, dass er in allen teilnehmenden Theatern immer wieder kostenlos mit frischem Kaffee aufgefüllt wird. Man kann das gute Stück für 9 Euro an den Kassen der Schauspielhäuser kaufen und wird dafür ständig mit neuer Energie versorgt. Jedes Jahr wird der Becher von einem anderen Künstler gestaltet, doch der Erlös fließt immer in den Rolf-Mares-Preis. Die Auszeichnung wird an Darsteller, Bühnen- und Kostümbildner sowie für Inszenierungen vergeben, die auf Hamburgs Bühnen durch besondere künstlerische Leistungen hervorstechen. Den Gratis-Kaffee gibt es übrigens auch für alle, die ihren Theaterbecher aus einem der vergangenen Jahre mitbringen.

Inperspekt Dreh Junges Schauspielhaus - Foto: © Inperspekt 2011

Inperspekt Dreh Junges Schauspielhaus
Foto: © Inperspekt 2011

Obwohl die Hamburger Theaternacht mittlerweile schon ein bewährtes Konzept ist, sollen die Reisenden auf ihrer Expedition keineswegs auf ausgetretenen Pfaden wandeln. Jeder darf sich seine ganz persönliche Route durch die Stadt zusammenstellen und genau das anschauen, was ihn am meisten interessiert. Diese Freiheit fordert den Entdeckergeist der Besucher heraus und bringt sie dazu, sich nach individuellem Geschmack durch die kulturellen Angebote der Nacht zu navigieren. So können die Zuschauer die Theaternacht immer wieder neu erleben und mitgestalten. Als kleine Orientierungshilfe vorab sei gesagt, dass man in der Zeit zwischen 19.00 und 24.00 Uhr im Durchschnitt etwa fünf bis sieben Veranstaltungen gut bewältigen kann.

Damit das Ganze nicht in Stress ausartet, bieten die Organisatoren noch zusätzliche logistische Unterstützung an. Erstmals steht für I-Phone Besitzer eine kostenlose Theaternacht App zur Verfügung, in der die Standorte der Spielstätten, das Programm und Bushaltestellen zu finden sind. Die ganze Veranstaltung ist ein lebendiges Konstrukt und es können sich daher im Laufe der Nacht Änderungen im Ablauf oder unerwartete Situationen ergeben. Falls zum Beispiel alle Plätze in einem Theater plötzlich voll sind und es sich empfiehlt, zu einer anderen Veranstaltung auszuweichen, erfahren die Besucher dies über den Theaternacht-SMS-Service. Zusätzlich bringt ein Newsticker im Internet alle Reisenden regelmäßig auf den neuesten Stand. Wem die vorliegenden Informationen nicht ausreichen, dem kann der Theaternacht-Podcast weiterhelfen. App, SMS-Service, Ticker und Podcast finden Sie kostenlos auf www.hamburger-theaternacht.de.

Wer den Trip ins Ungewisse wagt, ist dabei also mit komfortablen Transportmitteln, einer stehenden Verbindung zum Missionskontrollzentrum und heißem Kaffee ausgerüstet. Viel wichtiger ist jedoch die Gesellschaft, in der man sich befindet. Schließlich ging es beim ersten Gedanken zum Thema Theaternacht ja auch darum, neue Leute kennen zu lernen. Natürlich liegt es bei jedem selbst, ob er es vorzieht, sich als Forscher in Sachen Kultur ganz dem eigenen Erleben zu widmen, oder sich lieber in einer kleinen Gruppe mit anderen zusammenschließt. In jedem Fall reist man nicht alleine und trifft unterwegs viele potentielle Gesprächspartner. Nach sieben Jahren Erfahrung wissen die Veranstalter der Theaternacht, dass schon das gemeinsame Warten auf eines der beliebten Alsterschiffe oft recht gesprächig macht. "Es hat sich im Rahmen der Theaternacht herausgestellt, dass die Leute große Lust haben, miteinander auch zu kommunizieren. Also, wer mal beobachtet, was hier am zentralen Platz am Jungfernstieg passiert, da stehen die Leute mit ihren kleinen Booklets und tauschen sich aus und sprechen sich an. Das ist eine ganz besondere Qualität der Theaternacht", erzählt Christian Seeler vom Ohnsorg Theater begeistert.

Die diesjährige Theaternacht stellt dem geneigten Zuschauer auch einige ungewöhnliche Projekte vor, die geeignet sind, den eigenen Horizont zu erweitern. Im Theatersalon 'Die 2te Heimat' reservieren die Gäste üblicherweise mit ihrem vollen Namen, damit man sie später von der Bühne aus ansprechen kann. Mit dem Ticket für die Vorstellung buchen sie auch ein 3-Gänge Menü und es wird von allen gegessen, was auf den Tisch kommt. Dabei entsteht eine private Atmosphäre nach dem Vorbild der Kultursalons der 20er und 30er Jahre. Die Menschen kommen beim gemeinsamen Essen leichter ins Gespräch als in steifer Pose auf einem Zuschauerstuhl. Die Darsteller wissen, wen sie vor sich haben und können die Anwesenden direkt ansprechen. Natürlich muss sich niemand auf einen Dialog einlassen. Ins Rampenlicht wird keiner gezerrt, zumal der gesamte Raum oft erhellt ist, um die Distanz zwischen Publikum und Bühne aufzubrechen. So entsteht Platz für Improvisation und Interaktion, die Performance entwickelt sich durch die Beteiligung der Besucher. Die Macher der '2ten Heimat' nennen ihr Konzept auch gern "4-D Theater", weil mitunter sogar Live auf der Bühne gekocht wird, wie in dem Stück 'Grüezi & Mahlzeit' über uns und unsere Schweizer Nachbarn. Während der Theaternacht wird ein Ausschnitt aus diesem Bühnenstück gezeigt.

Christopher Weiß, Regisseur am Hamburger Sprechwerk - Foto: © 2011 by Schattenblick

Christopher Weiß, Regisseur
am Hamburger Sprechwerk
Foto: © 2011 by Schattenblick
Das Off-Theater 'Sprechwerk' hingegen fordert sein Publikum mit ambitionierten Gastspielen und Eigenproduktionen, die oft für und mit den Menschen vor Ort entstehen. Manchmal führen die künstlerischen Konzepte Darsteller und Zuschauer sogar raus aus den üblichen Räumen, auf die Straße oder an ganz andere Orte. Der Regisseur Christopher Weiß arbeitet im Sprechwerk mit verschiedensten Menschen zusammen, damit sie auf der Bühne als Akteure eigene Gefühle und Erfahrungen zu einem spannenden Stück verdichten können. Er greift in seinen Produktionen das echte Leben auf und legt dabei den Finger auf schwierige gesellschaftliche Themen wie das Älterwerden oder Suchtverhalten unter Jugendlichen. Im Künstlerkollektiv 'Die Azubis' formt er gemeinsam mit seinem Kollegen Kai Fischer aus den komischen, tragischen und seltsamen Elementen des Daseins ein bühnenreifes Schauspiel.

Für das Projekt 'Treffpunkt Borgfelde' haben die Azubis und Madeleine Koenigs mit den Bewohnern eines relativ unbekannten Hamburger Stadtteils einen szenischen Rahmen für die Aspekte ihres täglichen Lebens erarbeitet. Die Sorgen, Nöte und Herzensangelegenheiten der Menschen an diesem Ort waren der Stoff, aus dem Theater gemacht wurde. Ob es sich dabei um echten Zündstoff handelt wie bei der alten Dame, die ihre Wohnung behalten möchte oder ein ganz anderer Besuch beim Bäcker von nebenan auf dem Plan steht, wird nicht gewertet. Schließlich stehen auch im wahren Leben all diese Aspekte täglich nebeneinander. Dennoch findet Christopher Weiß die ganz großen Fragen im kleinen, täglichen Dasein wieder und macht sie sichtbar. Er ist sicher, dass die Zuschauer den besagten Stadtteil nach seinem Theaterparcours mit anderen Augen sehen. "Sie wissen dann, dass hinter jedem Fenster eine Geschichte steckt", erklärte er auf der Pressekonferenz. Auch 'Treffpunkt Borgfelde' wird in der Theaternacht in kleinerem Maßstab stattfinden.

Auch am Ernst Deutsch Theater suchen junge Menschen nach einer Möglichkeit, ihre Umwelt neu zu gestalten. Die Medien-Jugendgruppe 'Inperspekt' verändert die Realität eines Ortes durch räumlich-musikalisch-visuelle Installationen. Dabei kommen Beamer und Leinwände ebenso zum Einsatz wie das Spiel mit Licht und Schatten oder speziell gemischte Musik. Immer geht es darum, mit dem direkten Umfeld zu arbeiten und es für den Zuschauer zu verstärken. Diese ungewohnte Perspektive auf die Wirklichkeit kann man beim Streifzug durch die Theaternacht ebenfalls auf sich wirken lassen.

Es wird also am 10. September in Hamburg ein 'Fest des Augenblicks' stattfinden, bei dem die so oft kritisierte Künstlerszene, die seit Jahren unter dem ständigen Vergleich mit Berlin zu leiden hat, ihr volles Potential entfalten kann.


Die Theaternacht findet statt am Samstag, dem 10.09.2011 ab 19.00 Uhr - Tickets kosten im Vorverkauf 11,00 Euro und an der Abendkasse 14,00 Euro pro Person, darin enthalten ist der Zutritt zu allen Veranstaltungen sowie die freie Nutzung von Alsterschiffen, S-Bahn, U-Bahn und Bussen.

Der Vorverkauf startet am 01.08.2011. Tickets erhalten Sie dann in allen bekannten VVK Stellen, online unter www.hamburger-theaternacht.de oder unter der Telefon-Hotline 040-69650578

Programm online ab dem 1. August 2011

Link:
www.hamburger-theaternacht.de

Das Café des Ohnsorg Theaters als Treffpunkt für angeregte Gespräche über die Hamburger Theaternacht 2011 - Foto: © 2011 by Schattenblick

Das Café des Ohnsorg Theaters als Treffpunkt für angeregte Gespräche
über die Hamburger Theaternacht 2011
Foto: © 2011 by Schattenblick

5. Juli 2011