Schattenblick →INFOPOOL →THEATER UND TANZ → REPORT

BERICHT/038: Kaltstart Theaterfestival Hamburg vom 2. bis 14. Juli 2012 (SB)


Kaltstart Theaterfestival Hamburg 2012 - Fast zu schön, um wahr zu sein...

© Kaltstart e.V. - Foto: 2012 by Schattenblick

© Kaltstart e.V.
Foto: 2012 by Schattenblick

Wenn sich Ausbildung oder Studium langsam dem Ende neigen und die letzten Semester ins Land gehen, stellt sich für praktisch jeden Hochschulabsolventen die Frage: Was kommt jetzt? Entdeckt zu werden, war noch nie leicht - für Künstler schon gar nicht. Was also kann ein junger Theaterschaffender tun, um möglichst schnell Kontakte zu knüpfen, die ihn weiterbringen? Diesen und anderen Mysterien kann auf dem Kaltstart Theaterfestival Hamburg nachgegangen werden, das vom 2. bis 14. Juli 2012 an verschiedenen Spielorten im Schanzenviertel, auf St. Pauli und in Altona stattfinden wird.

Mit der "Plattform junges Theater" bekommen Schauspiel-, Regie- und Autorenanwärter die Möglichkeit, ihr Können sowohl den Hamburger Zuschauern als auch einem möglichen Fachpublikum zu zeigen. Auf diese Weise ein Forum zu bieten, in dem sich Ideen verwirklichen lassen, ist das Ziel der Kaltstartfestivalleiter Timo von Kriegstein, Emily Keller, Christian Psioda, Andrea Tietz und Falk Hocquél, die allesamt selbst aus dem Theaterbereich stammen und langjährige Erfahrungen in das seit 2006 bewährte Konzept einfließen lassen. Dabei stehe die Solidarität im Vordergrund und nicht der Wettbewerb. Es gehe nicht darum, Preise zu verleihen und die Konkurrenz unter den am Festival Teilnehmenden zu fördern, sondern Kontakte zu knüpfen, Erfahrungen zu sammeln und zu teilen.

Das immer wiederkehrende Zauberwort heißt auch hier "Netzwerk". Wer heute seine Kunst außerhalb prekärer Lebensverhältnisse ausüben möchte, der muss sich, um nicht durch die Maschen zu fallen, wohl oder übel einer Szene fügen, deren Rahmenbedingungen von den Gebern und Verwaltern öffentlicher und privater Fördermittel bestimmt werden. - Aber ist der junge Theaterschaffende so nicht drauf und dran, sich möglichst schnell in den Verwertungsapparat der Kulturindustrie zu werfen? Ist nicht sogar der Off-Off-Theater-Bereich, in dem von der öffentlichen Hand völlig unabhängige Gruppen ihr eigenes Theater machen, der einzige Ort für jene, die ihre kreative Arbeit selbstgestützt und ohne das Gängelband öffentlicher Förderung oder privater Nutznießer verwirklichen möchten? Frei, auf kleinen Bühnen oder auf der Straße?

Fringe, Kaltstart Finale, Kaltstart Pro, Kaltstart Jung, die Autorenlounge und das Echolot sind die fünf Festivalsparten des Kaltstarts, die auf dem knallblauen Programmheft durch schwarze Schiffe einer Festivalarmada dargestellt werden. Für Fringe, das durch ein Piratenschiff symbolisierte Off-Theater-Festival, treten zehn Produktionen an fünf open air Spielorten für Spenden auf und geben unter anderem atemberaubende Feuerartistik zum Besten (Flamba Feuershow), bauen eine begehbare Installation aus Menschen und Kabeln (Cörper Cabel Construction), erfinden das Cabaret unserer Träume neu (Träschkowskayas) oder erwecken Puppen, die so tun, als seien sie Menschen, zum Leben (Figurenkombinat).

Foto: © Achim Vogt

Bauchladenmonopol
Öffentlichkeitsarbeit 2011
Foto: © Achim Vogt

Die Problematik der meist unter extrem schwierigen Arbeitsbedingungen frei auftretenden Gruppen wird durch die Existenz dieser Abteilung im Kaltstartgefüge zwar kurz angerissen, jedoch nur insofern, als dass Fringe erklärtermaßen versucht, auch diese gesetzlosen Freibeuter in eine feste und womöglich staatlich finanzierte Bühne zu integrieren. Somit dürften hier kaum Vertreter einer Offtheaterkultur beteiligt sein, die sich bewusst der kommerziellen Verwertung ihres Engagements im Kulturbetrieb verweigern, um sich mit ihrer Kunst "frei" bewegen zu können.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Christian Psioda, Andrea Tietz, Timo von Kriegstein und Falk Hocquél (v.l.) auf der Pressekonferenz im Haus 73
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf dem Kaltstart Finale bespielen die Absolventen der Hochschule für Musik und Theater die Zeisehallen in der Friedensalle mit ihren Abschlussarbeiten. Innerhalb der Studienprojekte I - III gibt es Theaterstücke wie "Einige Nachrichten aus dem All", in dem Heinrich von Kleist oder der Politiker Ronald Pofalla dazu aufgefordert werden, ihre Nachricht an den Weltraum zu senden, oder "Fauts - eine Tragödie", in der wir einen absurden und doch folgerichtigen Bestandteil der "fautsischen Wirklichkeit" kennen lernen dürfen; und es werden Darbietungen des Musiktheaters zu sehen sein, wie das melancholische Kneipenmusical "Boulevard der Traurigkeit" oder "Aufbau eines Bildes", eine Collage zu dem Thema "Wirkung der Musik". Die jungen Hamburger Schauspieler, Regisseure und Bühnenleute arbeiten dabei unentgeltlich und "unplugged", also ohne die gewohnten technischen Möglichkeiten der großen Studienbühnen Kampnagels oder des Thalia Theaters.

Stolz betonte Andrea Tietz von der Theaterakademie, eine der Gesamtkoordinatorinnen des Festivals, auf der Pressekonferenz am 22. Juni 2012 das große Engagement, mit dem sich die auftretenden Künstler am Kaltstartfestival beteiligen.

Ich finde es immer wieder erstaunlich: Wenn ich mir alle Programmpunkte angucke und sie dann ins Verhältnis zu unserem Budget setze - dann weiß ich, das Festival wäre überhaupt gar nicht möglich ohne die Initiative der Künstler, die einfach sagen, 'okay, wir machen das hier letztendlich umsonst, für Essensgutscheine und ein Zimmer im Hotel Pacific' - was sie sich dann auch noch teilen müssen. Ich finde es wirklich wichtig, darauf hinzuweisen!

Bei Kaltstart Pro, dem "Riesendampfer" des Festivals, steht der Gedanke des sich Vernetzens besonders im Vordergrund. Denn auch, wenn sie bereits in mehr oder weniger festen Anstellungen sind, so der künstlerische Leiter Timo von Kriegstein, ist "die Situation von jungen Theatermachern auch an großen Häusern alles andere als einfach." Deshalb haben die Festivalgründer, die diese Situation aus ihrem eigenen Leben kennen, überlegt, wie man einander stärken könnte.

Wir wollen einen Austausch über diese Plattform gewährleisten, so dass sie sich gegenseitig sehen, dass sie gesehen werden, sowohl von dem großen Publikum in Hamburg, als auch im Kulturhaus 73 im Schulterblatt, wo einige Leute darüber stolpern, die sonst vielleicht aus anderen Gründen herkommen und plötzlich mit dem Theater konfrontiert sind. Da entsteht also ein ganz guter Schneeballeffekt.

Dieses Jahr kommen zum Kaltstart Pro unter anderem Ensembles vom Theaterdiscounter Berlin, dem Schauspielhaus Graz, der Schaubühne am Lehniner Platz, dem Mehrsichttheater Braunschweig, dem Göstner Hoftheater Nürnberg und dem Landestheater Tübingen. Aufgrund zurückliegender Vorwürfe, dass das Festival die Künstler in ihrem Wunsch, sich zu zeigen, ausbeute, sei man, so erklärte Falk Hocquél diesen Anwurf nicht wirklich entkräftend, von der früheren Idee, das Festival in den Ferien zu machen, dazu übergegangen, die Veranstaltungen in der Spielzeit stattfinden zu lassen, so dass die Häuser sie als reguläre Gastspielproduktion einplanen könnten.

Da wir mittlerweile so gute Partnerschaften mit den Häusern haben, sagen sie inzwischen - in vielen Fällen, nicht in jedem Fall -'gut, wir schicken euch das Auto, wir schicken euch die Techniker, wir schicken euch die Leute, die sowieso über uns bezahlt sind, und ihr sorgt für Kost und Logis und die Bedingungen vor Ort'.

Im weiteren Gesprächsverlauf der Pressekonferenz wurde allerdings deutlich, dass die Theater, die ihre Jungensembles zum Kaltstartfestival senden, dies meist nicht so freimütig tun können, wie es in Hocquéls Beschreibung zunächst den Anschein hatte, denn Emily Keller, die sich unter anderem für das Kaltstart-Fundraising einsetzt, muss sich nach Aussage des Festivalteams oft mit großem organisatorischen Aufwand darum bemühen, die Gastspielproduktionen für das Kaltstartfestival zu engagieren.

Foto: © sennur.cagla@gmx.de

Szene aus 'Kohlhaas. Frei nach Kleist'
Foto: © sennur.cagla@gmx.de

Debattenanregend könnten die 2012 zum ersten Mal installierten Gesprächsabende des Echolots werden - gerade was die spannenden Fragen betrifft, welche positiven und negativen Folgen die Organisation solcher Theaterkulturevents wie das Kaltstartfestival für die Nachbarschaft im Schanzenviertel haben könnte oder wie sich die stark senatsgeprägte Kulturpolitik Hamburgs entwickeln will. Festivalbeobachter aus Kultur, Theaterszene und Presse werden jeden Abend nach der letzten Vorstellung ihre Eindrücke schildern und zusammen mit dem Publikum jeweils nach der letzten Abendvorstellung den Tag Revue passieren lassen. An den Gesprächen werden sich Repräsentanten der städtischen Hamburg Kreativ Gesellschaft, des Hamburger Abendblatts, der Pferdestall Kultur GmbH und des Vereins Stadtkultur Hamburg beteiligen. - Und hoffentlich auch Anwohner aus dem Schanzenviertel, die sich in den Erhalt und die Entwicklung ihrer ganz eigenen Stadtteilkultur einbringen wollen.

Die Autorenlounge unternimmt seit letztem Jahr erfolgreich den Versuch, auch jenen Raum zu geben, die sonst unsichtbar und hinter den Kulissen arbeiten. Sechs Autoren haben jeweils einen ihrer unfertigen Texte im Gepäck und bekommen nach dem Zufallsprinzip einen Dramaturgen an die Seite gestellt. In einem internen Workshop arbeiten diese Paare die Textentwürfe gemeinsam aus und entwickeln innerhalb von eineinhalb Tagen eine szenische Lesung, die dem Publikum dann von ehrenamtlich agierenden Schauspielern vorgetragen wird. "Und es ist ein Fakt, dass es solch ein Forum für so etwas hier in Hamburg einfach nicht gibt", so Anne Rietschel, Leiterin der Autorenlounge, die sich gerade im Abschlussemester ihres Studiums an der Hamburger Theaterakademie befindet. "Wir als interessierte Dramaturgiestudentinnen haben einfach festgestellt, dass es, seit die Theatertage nach Berlin gewandert sind, kein Forum für diese Art von Nachwuchsdramaturgie mehr gab. Darum haben wir damit begonnen, das wieder aufzubauen."

Auch durch diesen Part des Festivals zieht sich der Netzwerk- und Vermittlungsgedanke. Kooperationen zwischen den Teilnehmern seien in den letzten Jahren zahlreich entstanden, und auch Vertreter verschiedenster Verlagshäuser wurden eingeladen, um dieser besonderen Dynamik beizuwohnen. Doch wie Rietschel betont: "Ganz wichtig ist dabei, dass es nicht nur ein internes Gemuschel sein soll, sondern auch zwei Abende mit tollen Lesungen, die wirklich Spaß machen." So ist im Zuge dieses Projektes ein umfassendes Themenspektrum zu erwarten, das in Aufführungen wie "Mensch Maschine", in dem Konstantin Küspert unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit hinterfragt, oder in der Geschichte "Die alte Kunst der Dressur" von Juliana Bardolim, in der eine "kämpferische Eliteinitiative gegen bürgerliche Verantwortungslosigkeit" zu Felde zieht, zur vollen Entfaltung kommt. Getrieben von dem Wunsch, gemeinsam an den eigenen Projekten zu forschen, stellt sich die Autorenlounge als vielleicht innovativster Programmpunkt des Kaltstart Festivals dar und verspricht einige interessante Lesungen.

Das Kaltstart Jung macht dieses Jahr mit den zwei Produktionen "Feiert! Facebookt! Folgt!" und "Realität/Platon" einen leisen Anfang für das Kaltstart-Vorhaben, zukünftig auch den 13 - 18 jährigen praktische Zugänge zum Theater zu vermitteln und ihnen Mut zu machen, die Berührungsängste davor zu verlieren.

Die kritische Reflexionsfähigkeit der jungen Beteiligten erweist sich gerade am Übergang zwischen Studium und Berufsleben als besonders sensibel. Sei es den Kaltstartbesuchern auf oder vor der Bühne überlassen, ihre Umgebung zu betrachten, ihre Wünsche zu formulieren und einen widerständigen Funken zu zünden.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Kulturhaus 73 - Festivalzentrum im Schulterblatt
Foto: © 2012 by Schattenblick

1. Juli 2012