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BERICHT/042: "Vom Fischer und seiner Frau" - nicht nur für Kinder (SB)


THEATER TRIEBWERK
Vom Fischer und seiner Frau (ab 6 Jahren)
Regie: Johanna Stapelfeldt
Ein szenisches Konzert mit Irene Eichenberger, Uwe Schade, Heino Sellhorn
Reihe "Hamburger Bühnenflug"

am 29. Dezember 2012 im Thalia Theater in der Gausstraße, Hamburg

Thalia Theater in der Gausstraße, Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Es ist eine zeitlose Geschichte, die im Märchen der Gebrüder Grimm "Vom Fischer und seiner Frau" erzählt wird, eine Geschichte über Gier, Unterdrückung und Unterwerfung - und sie führt bis zum heutigen Tage eindrucksvoll vor, welche verheerenden Konsequenzen aus dieser Triade entstehen können. Sie beginnt, so wie ein Märchen es nun gerne tut, mit dem immer wieder so harmlos anmutenden "Es war einmal..."

Es war einmal ein Fischer, der mit seiner Frau unter einfachen Umständen in einer kleinen Hütte lebte. Eines Tages fängt der Mann einen sprechenden Butt, der sich als verzauberter Prinz zu erkennen gibt und so lässt der Fischer ihn schwimmen. Doch seine Frau verlangt es nach einem besseren Leben, der Wunsch, ihren prekären Lebensumständen zu entfliehen, nagt an ihr, und so schickt sie den Mann wieder an die See, der verzauberte Butt solle ihnen ein größeres Haus schenken.

Bühnenszene - Foto: © 2013 by Schattenblick

Drei Holzkisten, Chello, Bass, ein Metronom und ein Plastikeimer sind die ganzen Requisiten.
Foto: © 2013 by Schattenblick

Manntje' Manntje, Timpe Te,
Buttje' Buttje in der See,
Meine Frau, die Ilsebill,
Will nicht so, wie ich gern will." [1]

Doch ist der erste Wunsch einmal erfüllt, beginnt der Wahn nach immer mehr in der Fischersfrau zu keimen. Wenn er ein Haus schenken kann, warum nicht auch ein Schloss? Warum sich mit Wohlstand und Sorglosigkeit zufrieden geben, wenn man auch Macht besitzen kann? Und so schickt sie den Mann, der sie immerzu anfleht, genügsam zu sein, immer wieder und wieder zurück an die See und zum Butt, der ihr jeden Wunsch erfüllt. Die Gier reift zur Blüte, König, Kaiser und Papst will sie sein und an jedem Tag, den der Mann zum Butt geht, tobt die See etwas mehr, zieht sich der Himmel weiter zu, wird schwarz, bis nur noch ein winziger Flecken Blau in der Ferne zu erkennen ist. Doch schlussendlich - wie Gott will sie sein, Sonne und Mond auf- und untergehen lassen, unaushaltbar ist der Drang nach grenzenloser Macht. Und so schickt sie ihren Mann ein letztes Mal zum Butt.

"Geh nur hin ...", sagt da der Butt, "... sie sitzt schon wieder in ihrer Fischerhütte", und da sitzen die beiden bis ans Ende ihrer Tage.

Ist es eine Lektion, die in dieser Geschichte enthalten ist? Ein erhobener Zeigefinger, der uns aufmerksam machen soll, dass man doch bloß zufrieden sein muss, mit dem was man hat? Oder demonstriert das Märchen uns schlicht das Unausweichliche, ist es vielleicht gar ein kosmisches Prinzip, das den Menschen dazu treibt, immer mehr zu wollen, ein determinierter, dem Leben an sich innewohnender Zwang des unendlichen Fressens? Wenn dem so sein sollte, dann bleibt in letzter Instanz so oder so nur eine leblose Wüste.

Macht, Unterdrückung, der Wunsch nach grenzenloser Naturbeherrschung und Göttlichkeit - dem ein Ende zu setzen, dazu wäre ein einfacher Fischer in der Lage gewesen, lange bevor alles kollabierte. Wäre er nur aufgestanden von seinen Knien, hätte er die Frau nicht angefleht, sie möge doch zufrieden sein, sondern sich ihr entgegengestellt und sich von dem emanzipiert, was ihm unüberwindbar schien und doch mit einem Schwertstrich zu bezwingen gewesen wäre. Was dieses Märchen lehrt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ob am Ende die tobende See zu einer kosmischen Wüste werden muss oder ein Fischer den Mut fassen kann, für den winzigen blauen Fleck, der noch durch die Wolken scheint, zu kämpfen, auch wenn es eine Königin, Kaiserin, Päpstin oder Göttin anders befiehlt.

Eine dieser Geschichten erzählten womöglich die Musiker und Schauspieler Irene Eichenberger, Uwe Schade sowie Heino Sellhorn von der freien Theatergruppe "Theater Triebwerk"[2] unter der Regie von Johanna Stapelfeldt auf eine besondere Art und Weise am 29.12.2012 im Thalia Theater in der Gausstraße in der Jahresabschlussaufführung der Reihe "Hamburger Bühnenflug"[3], ein Gastspiel-Projekt aus der Kooperation der Hamburger Kulturbehörde und verschiedenster Theater in Hamburg, welche einmal monatlich ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, um ein neues Theaterprojekt der freien Kinder- und Jugendtheaterszene zu zeigen.

Ein szenisches Konzert, so kann man es wahrhaftig nennen, was die Künstler dort auf die Bühne brachten: eine Aufführung, wie man sie in einem Kinder- und Jugendtheater kaum zu erwarten vermag. Wer von den vielen anwesenden Familien dachte, man ginge in ein einfaches Märchen für Kinder, der war wohl überrascht von der unerwartet vielschichtigen und kreativen Art, in der hier Theater gemacht wurde.

Foto: © 2012 by Schattenblick

'Wir machen seit Jahren ein Theater, das wir ausdrücklich Familientheater nennen.'
Foto: © 2012 by Schattenblick

Zwei Männer mit bewusst clownesk wirkenden Perücken und eine Frau, gekleidet in etwas, das wie eine alte Polizeiuniform wirkt, betreten die Bühne und führen einen kleinen, stummen Tanz auf. Noch scheint alles so friedlich und etwas ulkig, was hier passiert, doch jedes Märchen beginnt mit einem "Es war einmal..." Drei Holzkisten, Chello, Bass, ein Metronom und ein Plastikeimer sind die ganzen Requisiten. Die Schauspieler? Drei Menschen, die teils im Kanon sprechen, keine festen Rollen, mal ist es einer, mal sind es alle, der Zuschauer bleibt lange ungewiss und kann kaum mit den angelernten audiovisuellen Erfassungsmechanismen hantieren. Die Musik, ein Auszug aus Johann Sebastian Bachs "Die Fuge", ist immer gleich, aber doch immer anders, wird immer intensiver und epochaler. Was hier geschieht, ist Klangkunst vom feinsten: Mit zwei Streichern und dem kunstvollen Einsatz von Stimmen werden Bilder gemalt, die weit mehr vermitteln, als es aufwändige Rhetorik und Bühnenbild je könnten. Je weiter das Stück fortschreitet, desto bedrückender wird es. Der Himmel über der immer stärker tosenden See zieht sich zu, wird schwarz, und der Wind peitscht, ausgedrückt nur durch das immer weiter anschwellende, wunderschöne Dröhnen der Streicher. Der Text wird unverständlicher, gestammelt und geflüstert, plötzlich wird geschrien, was passiert hier eigentlich vor meinen Augen? Auf grandiose Weise wird der Zuschauer in die Geschichte gesogen, die fast schon surreal und bedrückend wirkt, weil nichts so ist, wie man es erwartet. Und dann ... geh nur hin, sie sitzt schon wieder in ihrer Fischerhütte ... ist das Stück vorbei. Fünfzig Minuten, in denen sich all jene Dinge finden lassen, die nur Theater zu vermitteln vermag.

All das klingt nicht nach Kinder- und Jugendtheater und wer glaubt, nur weil das Stück mit "ab sechs Jahren" und aufwärts tituliert ist, sei ab diesem Alter Schluss, der irrt gewaltig, denn da fängt es gerade erst an. Trotz all der furchterregenden Dunkelheit bleiben genug heitere Elemente, um es für Kinder zu einem Erlebnis zu machen, doch der geradezu epochale Aufbau und Klangraum dieses Stückes macht es zu etwas, das sich für jede Altersgruppe wahrhaft zu erfahren lohnt. Wenn Kindertheater so sein kann, ist für mich gewiss, dass auch aus dem einen oder anderen jungen Zuschauer eines Tages ein Fischer heranzuwachsen vermag, der für den blauen Fleck in der Ferne das Schwert zieht.


Gespräch mit Uwe Schade

Im Anschluss an die Aufführung nahm sich Uwe Schade, Mitinitiator des Hamburger Bühnenflugs und Mitglied des Verbands der freien Kinder- und Jugendtheaterszene kitz.ev [4] Zeit für ein Gespräch mit dem Schattenblick.

Schattenblick (SB): Herr Schade, würden Sie uns erzählen, wie die Zusammenarbeit zwischen der Hamburger Kulturbehörde, den Theatern und dem "Hamburger Bühnenflug" entstanden ist?

Uwe Schade (US): Das kann ich ganz knapp umreißen. Vor zwei Jahren haben wir von "kitz", das ist der Verband der freien Kinder- und Jugendtheaterszene, bei Frau Barbara Kisseler vorgesprochen, als sie sozusagen ihre Amtszeit als Kultursenatorin der Stadt Hamburg übernommen hat. Wir regten an, so etwas wie ein Stück des Monats zu initiieren, da es für die freie Kinder- und Jugendtheaterszene keine Spielstätten in der Stadt gibt und wir Unterstützung brauchen. Das empfand Frau Kisseler als ausgesprochen gute und unterstützenswerte Idee. Es gibt dafür natürlich sehr wenig Geld, aber die einzelnen Theater finden sich alle bereit, die Aufführungen in irgendeiner Form mitzutragen. Für uns geht es jetzt darum, dass man es überhaupt als eine Serie wahrnimmt. Es ist mit so wenig Presse, wie sie nun mal leider da ist, sehr schwierig, bei den Zuschauern ein Gefühl von einer Reihe zu entwickeln, also dass einmal im Monat in einem Theater etwas aus der freien Kinder- und Jugendszene für sie präsentiert wird. Das sind unsere Bemühungen. Die Hamburger Kulturstiftung unterstützt uns dabei noch sehr mit Geld und Spenden im letzten und im nächsten Jahr. Die Hamburger Kulturbehörde ist zwar sehr engagiert, aber leider gebunden. Das ist die Hamburger Politik.

SB: Welchen Stellenwert nimmt die Kulturförderung für die Kinder- und Jugendszene in Hamburg denn ein? Gehen die Gelder eher an die großen, staatlichen Theater?

US: Nein, die Gelder gehen nicht unbedingt an die großen, staatlichen Theater, das ist nicht das Problem. Es gibt im freien Bereich eigentlich fast keine Förderung. Wenn man das prozentual betrachtet, dann ist Hamburg so weit hinten, dass man gar nicht darüber reden mag. Wenn man das nachschaut, sieht man, dass im Kinder- und Jugendbereich etwa 120.000 Euro bereitgestellt werden. Wenn man sich zum Beispiel Stuttgart ansieht, dann sind das Millionenbeträge. Und das sind vergleichbare Städte. So betrachtet muss Hamburg sich eigentlich schämen, was die Kulturförderung angeht. Es gibt tolle Sachen in Hamburger Theatern, wie drüben im Schauspielhaus oder hier im Thalia, ganz ohne Frage, aber es deckt bei weitem nicht den Bedarf, den es hier in der Stadt gibt. Zudem existiert kein wirklich unterstütztes Angebot. Frau Kisseler selbst hat geäussert, dass sie auch nicht daran glaubt, die Stadt ändern zu können. Es liegt einfach daran, dass man in Hamburg keine Kultur ermöglichen möchte, sondern sie lieber einkauft. Man kauft tolle Sachen ein und damit hat sich die Sache erledigt.

SB: In welche Richtung geht das dann, große Musicals und ähnliches?

US: Was auch immer. Alles, was irgendwie eingekauft werden kann, wird bevorzugt und für die anderen Bereiche wird von den Finanzausschüssen nicht in dem Sinne Geld ausgespuckt, wie es eigentlich sein müsste. Vor zwei Jahren wurde von der Kulturbehörde eine Evaluation in Auftrag gegeben, in der festgestellt wurde, dass man, um den freien Theaterbereich an das anzupassen, was bundesweit Standard ist, Millionenbeträge ausgeben müsste, um ihn zu fördern und stützen. Das ist ein Armutszeugnis für Hamburg, ich muss das nochmal ganz deutlich und ausdrücklich so sagen! Ich kann jeden Künstler verstehen, der sich überlegt, wo man sonst hingehen könnte, weil es hier einfach keine Perspektive gibt.

SB: Obwohl es eine Millionenstadt ist.

US: Das hat damit nichts zu tun. Es sind ganz eingefahrene Standards, die hier schon immer gewütet haben. Es gibt hier ja auch die Gelder, aber wie gesagt, es werden damit schöne Dinge gekauft, aber nicht Kultur ermöglicht, nicht an den Stellen, wo in der freien Kultur etwas vorhanden ist. Es gibt in Hamburg eine starke Szene, aber sie wird einfach nicht gefördert.

SB: Welchen Stellenwert nimmt denn das Theater in einer Welt mit Fernsehen, Internet und all den digitalen Medien überhaupt noch ein?

US: Das ist so eine Frage, auf die man nur vage antworten kann. Theater ist lebendig, der Zuschauer sieht, dass etwas passiert und es wird einen Stellenwert behalten. Es ist vielleicht vergleichbar damit, dass ein Konzert mit echten Menschen eine andere Qualität hat, als eine gute Stereoaufnahme. Es ist da, es ist lebendig und es werden Sachen verhandelt, die einfach interessant sind.

SB: Es ist also auch nicht vom Aussterben bedroht?

US: Das denke ich nicht. Kultur im allgemeinen ist vom Aussterben bedroht, aber das Theater an sich, das wage ich zu bezweifeln. Im Theaterraum kann sich jeder ohne großes Hintergrundwissen mit Dingen, Situationen und Problemen fühlbar auseinandersetzen, die man eben nirgends sonst so gebündelt miterleben kann.

SB: Warum haben Sie ein Märchen der Gebrüder Grimm gewählt? Ging es um die zeitlose Nachricht über das Thema "Gier"?

US: Es hat uns einfach interessiert. Natürlich war das Thema der Gier das, was uns den Anlass gegeben hat. Wir hatten das vor mehreren Jahren schon angedacht und geplant, als die Thematik richtig brennend war. Natürlich bekommt man gerade in einer Stadt wie Hamburg nicht genug Geld, um das zeitnah umzusetzen. Aber das Thema ist immer noch zeitnah. Und die Form, die wir gewählt haben, fanden wir aufgrund unserers musikalischen Hintergrundes sehr interessant. Gerade sprachliche Redundanz ist etwas, was wir ganz stark in die Form mit einbezogen haben. Wir haben dem ganzen einen Kanon aus Bachs "Die Kunst der Fuge" unterlegt, den wir, immer entsprechend der einzelnen Häuser und Schlösser, chirurgisch bearbeitet haben. Wir haben das Ganze nicht direkt verändert, sondern eher entkleidet, nicht der wichtigsten Teile, aber der Nebensächlichkeiten. Es war einfach ein Spiel mit der Form und dem Spaß daran.

SB: Die Interpretation wirkt sehr surreal, etwas, das man für Kinder eher nicht erwarten würde. Klassisches Kindertheater ist gemeinhin viel direkter.

US: Sagen wir mal so, was man für Kinder klassisch erwartet, ist immer so eine Sache. Wir machen seit Jahren ein Theater, das wir ausdrücklich Familientheater nennen, mit dem wir hoffen, die Zuschauer von allen Seiten ansprechen zu können, dass sie, wenn sie gemeinsam kommen, mehr Dinge sehen, als sie es allein tun würden. Von daher besteht das Zielpublikum nicht ausschließlich aus Kindern.

Es ist tatsächlich in der Form schon sehr abstrakt. Auch wenn wir "für Kinder ab sechs Jahren" angeben, dann würde ich eher sagen, ab sechs fängt man an, sich nicht dabei zu langweilen. Aber Spaß hat man wohl ab zehn oder zwölf, weil man dann auch mit der Form und der Ironie umgehen kann. Das ist momentan ohnehin sehr schwierig, nicht nur in Hamburg, sondern bundesweit. Wenn man Stücke für Kinder ab einem bestimmten Alter anbietet, sind eigentlich automatisch die drumherum ausgeklammert. Für uns ist so eine Altersangabe immer ein "Ab diesem Alter ist es möglich und nicht mit diesem Alter ist es auch schon beerdigt".

SB: Wie lang und wo wird das Stück noch weiterlaufen?

US: Es wird weiterlaufen, aber wo wir weiterspielen, kann ich nicht sagen. Hier in Hamburg läuft es leider nicht, weil es eben keine Spielorte gibt. Darum sind wir auch so froh über diese Serie Bühnenflug und dass man dadurch als freies Theater überhaupt mal wieder ins Licht gerückt werden kann und die Stadt eine Chance hat wahrzunehmen: 'Da gibt es ja was, das könnte man ja mal wieder spielen.' Wir haben schon in München gespielt, in Lindau, im ganzen Süden und waren auch sehr viel international unterwegs, aber in Hamburg gibt es in dem Sinne keinen Ort für uns. Früher gab es noch Kampnagel, aber das ist schon lange her.

SB: Ist Kampnagel dafür zu groß geworden?

US: Es hat sich einfach verändert. Es hat diese Art von Theater nicht mehr als Schwerpunkt, seit vielen Jahren nicht mehr.

SB: Herr Schade, vielen Dank für das Gespräch.


Anmerkungen:
[1] "Der Fischer und seine Frau" aus den "Kinder und Hausmärchen" der Brüder Grimm
[2] http://www.theater-triebwerk.de/deutsch/sonst/Home.html
[3] http://www.hamburger-buehnenflug.de/index.htm
[4] http://www.kindertheaterszenehamburg.de/

4. Januar 2013