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BERICHT/057: Die Speisung der 5000 - vielleicht doch ... (SB)


Vom Unterschied zwischen unmittelbarem und reproduziertem Erleben

"Die Speisung der 5000" von Kommando Himmelfahrt, Premiere am 12. Dezember 2014 auf Kampnagel in Hamburg


Foto: © 2014 by Schattenblick

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In Anlehnung an das Wunder der Vervielfältigung aus dem Bibelgleichnis der Speisung der Fünftausend lässt das Theaterkollektiv Kommando Himmelfahrt, bestehend aus Jan Dvorak, Thomas Fiedler und Julia Warnemünde, in seinem neuesten Stück die ursprünglichen Mittel des Theaters und des Konzerts auf die hochtechnisierte Aufzeichnung und kulturindustrielle Verwertbarkeit von Sound treffen, um die Bedeutung des unserer heutigen Gesellschaft immanenten Moments moderner Vervielfältigung zu untersuchen. Die Wirkungsmacht der barockfuturistischen Kantate "Die Speisung der 5000", die noch bis zum 21. Dezember 2014 auf Kampnagel zu sehen sein wird, führt in eine ebenenübergreifende Auseinandersetzung aus Musik, Theater und Multimedia-Performance, die durch die Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft, Überlieferung und Selbstentwurf unseren kritischen Blick für die gegenwärtigen Entwicklungen zu schärfen weiß.

Dabei wird in spielerischem Bezug auf Walter Benjamins umstrittenen Text "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" von 1935, der von Theodor Adorno als zu mystisch abgetan wurde, doch bis heute durch seine ernste Nachdenklichkeit besticht, die Geschichte des jungen Erfinders Tom (Jan Plewka) erzählt. Trotz seiner bahnbrechenden Innovationen und Erfolge, die eine immer weitere Strecken überbrückende Kommunikation und Reproduzierbarkeit von Informationen ermöglichen und die Optimierung des menschlichen Alltags entscheidend prägen, gerät Tom in eine schwere Schaffenskrise. Denn obwohl seine technischen Entwicklungen bald zur Grundlage modernen Gesellschaftslebens werden und die von ihm gegründete Firma Menlo Park industriell und ökonomisch voranbringen, zeitigen sie aus Toms Sicht keine intellektuelle oder geistige Weiterentwicklung der Menschheit. Gebrochen und seinem Heimatplaneten entfremdet zieht er sich als Astronaut mit einem selbst entwickelten Flugobjekt auf den Mars zurück, um dort an der Überwindung der Endlichkeit des Menschen weiterzuforschen.

Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Tom (Jan Plewka) zieht sich in sein Labor zurück
Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Sein spartanisches Labor im Sand der rötlich steinigen Marslandschaft besteht aus einem kleinen Tisch mit einem Morseapparat und einem Hocker, einem Aquarium mit zwei Fischen und einem großen, über dem Wasserbecken aufgehängten Eisblock, von dem unablässig Schmelzwasser tropft, vielleicht so, wie auch die Lebenszeit eines Menschen langsam stetig schwindet. Nach langen Phasen der Funkstille sendet Tom, dessen weitere Entwicklung sich über Jahrzehnte in völliger Isolation vollzogen hat, schließlich in Morsezeichen verschlüsselte Niederschriften auf die Erde, die sich als Musikkompositionen erweisen und die Gleichnisse vom Sämann und von der Speisung der Fünftausend als Gesten des verlässlichen Überflusses und des gemeinsam bewältigten Mangels zu einem Werk bündeln. Eine eigens zur Kommunikation mit Tom noch aufrechterhaltene telegrafische Abteilung der weiter florierenden Firma Menlo Park nimmt unter der Leitung des alten Peter Waxman (Peter Maertens), dessen Familiengeschichte eng mit der von Tom verknüpft ist, die konkrete Umsetzung seines Werks in Musik in Angriff, immer in der Hoffnung, weitere Erkenntnisse über Toms Forschungen und seinen Seelenzustand zu gewinnen.

So fern und abgekapselt Tom sich in behutsamen Bewegungen durch seine Marswelt bewegt, seine Forschungsergebnisse in akribischer Kleinstarbeit über das Morsegerät schickt, die Hügel des Planeten in seinem Kosmonautenanzug bekraxelt und die dunklen Sphären seiner unbekannten Welt nur mit Hilfe seiner schwachen Helmlampen erkundet, so geschäftig, rege und bestimmt sind die vom Kommando Himmelfahrt im Vordergrund zeitgleich angeleiteten professionellen Studioaufnahmen, die noch im Kampnagel-Bühnensaal vom polymedialen Künstlerkollektiv niedervolthoudini aufgezeichnet und bearbeitetet werden sollen - und darüber hinaus die Mitarbeit des Publikums erfordern, das während der Aufnahmen zu absoluter Stille aufgefordert wird. In dieser lebendigen und konzentrierten Arbeitsatmosphäre, die selbstverständlich auch kleine Pausen, Fehler und Wiederholungen mit sich bringt, welche im digitalen Format nicht mehr vorhanden sein werden, dirigiert Jan Dvorak im ersten und längeren Teil des zweistündigen Abends den großen Kampnagelchor, das Streichorchester Ensemble Resonanz und den Solisten Jan Plewka alias Tom. Sie spielen und singen die einzelnen Abschnitte und Weltraumgeräusche des melodisch melancholischen, bisweilen auch kühl und rau klingenden Chor- und Instrumentalstückes ein, das Tom durch das All übermittelt hat und das von Jan Dvorak mit Texten der barocken King James Bible von 1610 inszeniert wurde.

Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Sänger Jan Plewka im improvisierten Studio vor dem Soundlabor von niedervolthoudini
Foto: © 2014 by Julia Kneuse

"Unsere Geschichte spielt in Amerika und deshalb war uns relativ früh klar, dass wir gerne englische Texte haben wollten und keine deutschsprachige Bibel", erklärt der Komponist nach der Premiere am 12. Dezember auf die Frage des Schattenblick, warum genau die englischsprachigen Texte von 1610 verwendet wurden.

Gleichzeitig war eine der frühesten Ideen, dass dieser Abend so etwas sein müsste wie "Barockfuturismus", der das Zeitalter der Einmaligkeit und das Zeitalter der Vervielfältigung wirklich zusammenbringt, wie eine Allegorie, die in einem Bild zusammenfasst, wo wir herkommen und wo wir hingehen. Ich bin auf die barocke Bibelversion zurück gegangen, weil ich genau diese altertümliche Fremdheit gerne nutzen wollte, so dass es teilweise wirklich fremde Wörter, ungewöhnliche Wendungen und auch grammatikalische Besonderheiten gibt, die das Stück anschärfen und besonders machen. Ich habe diesen kurzen Bibelabschnitt in eine Form gebracht, die für eine Komposition geeignet war und diese dann in Lieder, in Rezitative unterteilt. Außerdem fällte ich die Entscheidung, dass alle wörtliche Rede immer der Chor singt und der Erzähler eine Einzelperson ist, dass also das aus Kantaten gewohnte Prinzip umgedreht wird.

Die Konsequenz, mit der "Die Speisung der 5000" die verschiedenen, teilweise gleichzeitig sich abspielenden Phasen und Handlungsstränge miteinander verwebt, seien sie fiktional oder unmittelbar an die Gegenwart des Publikums geknüpft, ist bemerkenswert. Obwohl man als Zuschauer in der ständigen Überforderung der offiziellen Tonaufnahme gar nicht alles vom Bühnengeschehen aufnehmen kann, entsteht nur selten das Gefühl, etwas nicht mitbekommen zu haben. Nachdem das Kommando Himmelfahrt den Bühnenraum perspektivisch aufgebrochen hat und den größten Teil der Gäste von den Rängen auf die Bühne bittet, um das abschließende, einem barocken Gemälde nachempfundene Coverfoto zur Produktion auch möglichst nach 5000 Leuten aussehen zu lassen, zerstört selbst die eigentlich nicht-fiktionale Pause, in der alle Beteiligten gemeinsam das reichlich verteilte Brot und den ausgeschenkten Wein teilen, die aufgebaute Konzentration und Spannung auf das gemeinsam erarbeitete Ergebnis nicht.

Die Menschenmenge aus Chor, Orchester und Publikum hat sich im Bühnenraum verteilt und sitzt nach Art der Fünftausend auf einem barocken Gemälde im Bühnenbild - Foto: © 2014 by Schattenblick

Aufstellung für das Coverfoto zum Onlinetrack "Die Speisung der 5000"
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Über den leeren Zuschauerrängen hängt nun eine Leinwand, auf die der Screen des Schnittprogramms projiziert wird, mit dem die Künstlergruppe niedervolthoudini das eingespielte Musikstück abschließend bearbeitet. Das Browserfenster erscheint, kurz blinkt der Schriftzug von Google auf, ein paar Klicks und schon sind die Datei "Die Speisung der 5000" und eine Bildmontage aus den drei Coverfotos mit Peter Waxman, den 5000 und Tom unter www.soundcloud.com/diespeisungder5000 auf die Musikplattform www.soundcloud.de hochgeladen. Der Track wurde bis heute 465 Mal angeklickt.

Die Abruptheit des Übergangs von der persönlichen, sinnlich und körperlich wahrnehmbaren Livesituation zu einer nun für alle Internet-User jederzeit zugänglichen zweidimensionalen und endlos reproduktionsfähigen musikalischen Einheit - die sich zwar genießen läßt, mit dem unmittelbaren Erleben jedoch nur noch für die in Verbindung steht, die dabei gewesen sind - gleicht einem Schock, der die Dystopie digitaler Beliebigkeit plötzlich deutlich vor Augen führt und die Nähe eines drohenden Verzichts spürbar werden lässt, der auch von jüngeren Generationen so nicht gewollt sein kann. "Die Speisung der 5000" induziert eine gedankliche Bewegung, die für seine Zuschauer weit über das Ende der Vorstellung hinausreichen wird - und die nicht downloadfähig ist.

Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Onlinereproduktion der Livesituation im Zuschauerraum
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Zur Wirkung technischer Vervielfältigung auf die Kunst - Julia Warnemünde im Gespräch

Die theologischen Interpretationen des biblischen Gleichnisses, in dem Jesus mit nur fünf Broten und zwei Fischen eine fünftausendköpfige Menschenmenge sättigt, sind zwar vielfältig, stehen im Stück von Kommando Himmelfahrt jedoch, genau wie der scheinbar naheliegende Bezug auf die Weihnachtszeit, höchstens am Rande zur Debatte. Der Schattenblick hatte am 12. Dezember kurz nach der Premiere des Stücks die Möglichkeit, mit der Dramaturgin und Produktionsleiterin Julia Warnemünde, die seit einem Jahr fest zum Team von Kommando Himmelfahrt gehört, ein Gespräch zur philosophischen Ausrichtung im Werk ihres Theaterkollektivs und zur Wirkungsweise von "Die Speisung der 5000" zu führen.

Schattenblick (SB): Euer Theaterkollektiv heißt "Kommando Himmelfahrt", wie ist dieser Name entstanden?

Julia Warnemünde (JW): Das Kollektiv gibt es seit 2008, es wurde von dem Regisseur Thomas Fiedler und dem Komponisten Jan Dvorak gegründet. Ich bin als Dramaturgin erst 2013 dazugekommen, das heißt, die Namensgründung habe ich gar nicht mitgemacht, aber ich kann sie vielleicht inhaltlich begründen. Es geht in den Arbeiten um die Beschäftigung mit Gesellschaft, mit gesellschaftlichen Entwicklungen, mit Zukunftsentwürfen, mit Utopien, mit Dystopien, also mit allem, was sozusagen mit Technik, mit Science Fiction und mit der Frage zu tun hat, wohin eine Gesellschaft treibt und inwiefern das ein Himmelfahrtskommando ist.

SB: Also impliziert der Name einen eher negativen Ausgang?

JW: Möglicherweise, vielleicht aber auch nicht, deswegen ist es ja invers, Kommando Himmelfahrt.

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Thomas Fiedler, Julia Warnemünde und Jan Dvorak (von links) alias Kommando Himmelfahrt nach der Premiere im Kampnagel-Foyer
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SB: Die Utopie einer Gemeinschaft, in der alles geteilt wird und in der niemand mehr Not leiden muss wie in dem Gleichnis von der Speisung der Fünftausend, ist ein erleichternder und positiver Gedanke, die voranschreitende Digitalisierung und technische Reproduzierbarkeit wird aber nicht immer positiv gesehen, sondern hat auch ein negatives Moment. Wie seid ihr darauf gekommen, diese beiden Themenbereiche zu verknüpfen?

JW: Natürlich ist es positiv, in einer Gesellschaft zu leben, die alles teilt und in der jeder satt ist. Ich glaube, diese Feststellung hinterfragt keiner, da sind wir uns alle einig und es gibt niemanden, der sagt, nein, das möchte ich nicht. Für die Auslegung der biblischen Geschichte hingegen gibt es verschiedene theologische Ansatzweisen und Deutungen, und es ist immer noch umstritten oder diskutiert, was genau einem diese Geschichte eigentlich sagen soll. Wenn wir sie jetzt aber ganz platt so lesen, dass jeder teilhaben und etwas zu essen haben soll, sind wir ganz schnell an einem Punkt, wo wir eigentlich kein Weiterdenken, kein Weiterfragen erreichen können, da Einigkeit besteht. Deswegen haben wir die Geschichte weitergesponnen und gefragt, was bedeutet das Wunder der Vervielfältigung heute für uns? Das hat uns eigentlich am meisten interessiert.

Also auf der einen Seite ist da die Geste der Sämanns, der los geht, aussät und sagt "Hier, nehmt, nehmt, es ist für alle da, es ist genug da und wenn ein Teil der Saat nicht aufgeht, dann ist das auch okay, dann muss das so sein!" Uns hat diese verschwenderische Geste interessiert. Auf der anderen Seite steht das Wunder der Vervielfältigung. Wie entsteht Vervielfältigung? Wie hat sie das moderne Leben beeinflusst, so dass wir heute in einer Gesellschaft leben, in der das Unikat oder das Einzelne, das Original, nicht mehr wichtig ist und in der es auch nicht mehr wichtig ist, Dinge zu besitzen? Wir leben in einer Share Economy, ich brauche also kein eigenes Auto mehr, ich nehme es mir einfach, wenn ich Bedarf habe. Ich brauche kein Buch mehr, ich lade es mir direkt aus dem Internet herunter, ich brauche keine Musik, keine Platte mehr, die ich physisch auflege, ich lade mir das, was ich haben möchte, aus dem Internet herunter, wo es verfügbar ist, und genau diese Entwicklung hat uns fasziniert.

SB: Also ist der harte Kontrast, den man in eurem Stück verspürt, zwischen dem prozessualen Machen des Originalstücks, das der Zuschauer erleben darf, und der letztendlich im Internet zur Reproduktion bereitgestellten Kopie so von euch gewollt?

JW: Genau, wir arbeiten ja sozusagen wie Dinosaurier noch mit einem flüchtigen Medium. Im Prinzip sind alle Dinge, die uns im Alltag umgeben, keine flüchtigen Dinge mehr, wir können sie jederzeit haben, sie sind immer da, aber das Theater ist nur einmal da, es ist immer an einem spezifischen Ort, mit einem spezifischen Publikum vorhanden. Das heißt, wir bewegen uns da eigentlich wirklich wie die Dinosaurier, in einem ganz anderen Bereich, in einem veralteten Bereich, der dann auf die neuen Medien clasht, und natürlich hat dieses Zusammentreffen mit den neuen Medien wiederum auch das Theater verändert. Also in dieser konkreten Situation in unserem Stück stellen wir tatsächlich die gemeinschaftliche Livesituation der Aufnahme und der Vervielfältigungstechnik gegenüber.

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SB-Redakteurin und Julia Warnemünde im Gespräch
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SB: Auf eurem Programmzettel steht ein Zitat von Walter Benjamin. Er spricht von einer "gewaltigen Erschütterung des Tradierten, einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist". Was versteht ihr darunter?

JW: Im Jahr 1935, als Benjamin den Text "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" geschrieben hat, aus dem das Zitat stammt, befand sich auch die technische Entwicklung an einem Wendepunkt. Durch die damaligen Entwicklungen in der industriellen Revolution gab es gewisse Vorgänge, die stark gemacht wurden, die kommerziell nutzbar wurden, genau wie hier in unserem Stück die Telegrafie sozusagen der erste Schritt ist, um Distanzen zu überbrücken und Dinge mannigfach zu kommunizieren. Walter Benjamin hat natürlich aus einer Zeit heraus geschrieben, in der man sich an diesem Wendepunkt sah und gemerkt hat, die Technik und die Entwicklung, die Innovation hat auch die Kunst beeinflusst. Dieser Aspekt war für ihn wichtig und er hat gesagt, das Kunstwerk, das in seiner Einzigartigkeit dasteht und wirkt, das eine Aura hat und präsent ist, das ist plötzlich überall, es beeinflusst unser Leben, unser kollektives Sein und unsere Kultur, aber es verliert auch etwas.

Heute stehen wir wieder an einem Wendepunkt, auch wenn er vielleicht jetzt schon zehn Jahre her ist. Es gibt überall Internet, Smartphones, verschiedene Plattformen, man kann sich eigentlich nicht mehr entziehen. Es ist gleichermaßen berührend wie erschreckend, wenn man sich selbst an so einem Wendepunkt erkennt und denkt, es ist Wahnsinn, dass eine Generation vorher noch anders gelebt hat und die nächste Generation schon wieder einen ganz anderen Erfahrungshintergrund haben wird, weil diese Entwicklungen sich so rapide beschleunigen. Zum Beispiel ist das insbesondere auch für Musiker zur Zeit ein großes Problem, dass es immer nur darum geht, schnell etwas einzuspielen, schnell etwas perfekt zu machen, um es dann rauszuschicken. Der Nutzer verliert den Bezug zu diesem Prozess, zur Musik und ihrer Entstehung und es wird nur noch schnell alles wegkonsumiert. Alles ist irgendwie gut gemacht und man kann es mal kurz anklicken, anspielen und dann sagen, "ach nee, ich mach' mal doch das nächste an" oder "ich hab' das Album einmal durchgehört und dann kann es weg".

Foto: © 2014 by Schattenblick

"Wir arbeiten wie Dinosaurier noch mit einem flüchtigen Medium."
Julia Warnemünde
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Habt ihr Premiere und die Aufführung zu diesem biblischen Gleichnis absichtlich in die Weihnachtszeit verlegt?

JW: (lacht) Nein, haben wir nicht, das Stück war eigentlich ein bisschen früher angedacht. Es hat dann einfach gut gepasst, weil ja immer auch fraglich ist, ob alle Beteiligten Zeit haben. Wir wollten mit dem Ensemble Resonanz arbeiten, wir wollten mit Jan Plewka arbeiten und wir sind auf Kampnagel, da mussten wir einfach Termine finden. Dann kam die Weihnachtszeit und wir haben gedacht, die nehmen wir mit.

SB: Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Selig-Sänger Jan Plewka entstanden?

JW: Jan Plewka und Jan Dvorak kennen sich schon sehr lange, und zwar noch aus vorkünstlerischer Zeit, aus dem Zivildienst. Sie haben mit Kommando Himmelfahrt bereits ein Projekt zusammen gemacht, "Leviathan", das auch auf Kampnagel stattgefunden hat, wo er als Solist engagiert war. Bei der "Speisung der 5000" ist es einfach wieder eine total positive Zusammenarbeit und darüber hinaus gibt es in Jan Plewkas Karriere und in seinem Dasein große Parallelen zu dem Text und zu dem, was wir gerade machen. Jan Plewka war mit Selig ein gefeierter Popstar, überall präsent und hat irgendwann gesagt, das ist mir jetzt zuviel, ich geh' in die Einsamkeit der schwedischen Wälder, um mich neu zu erfinden. Da gibt es eine ganz große Entsprechung zwischen ihm und der Figur des Tom in unserem Stück. Natürlich ist es auch sehr schön, jemanden zu haben, der ganz Profi ist und Bezug dazu hat, weil er als Popstar im Zentrum der Vervielfältigung steht.

Peter Maertens und Jan Plewka stehen nach der Vorstellung im Publikum - Foto: © 2014 by Schattenblick

Applaus für Peter Maertens und Jan Plewka
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: In der Ankündigung wird eure Musiktheaterperformance als "barockfuturistische Kantate" bezeichnet. Inwiefern orientiert sich eure Bühnenarbeit an den Elementen des Barock?

JW: Tatsächlich ist der Barock ein wichtiger Einfluss für unsere Arbeit. Auf der einen Seite, wenn man sich die Bühne anguckt, wenn man den Chor gesehen hat, ist es eine bildkompositorische Anregung, die aus dem Barock kommt. Da geht es um Farbenumsetzung, um Perspektiven, um die Erschließung der Sichtbarkeit. Der Barock war das Zeitalter des Sichtbarmachens, man konnte mit Sicht spielen und die Sicht sozusagen neu erfinden, es war das Zeitalter der Guckkastenbühne. Auf einmal gab es ein Spiel mit der Perspektive und mit den verschiedenen Ebenen, auf denen man sich im Gesamtspektrum selbst sah.

SB: Haben wir dieses Spiel heute mit der Anordnung der 5000 im Bühnenraum erlebt?

JW: Ein bisschen, es gibt da so einen kleinen Hauch davon. Außerdem ist die Abschlussaufstellung, die man gesehen hat, die Nachstellung eines barocken Gemäldes der Speisung der Fünftausend, und auch in der Musik gibt es Parallelen. Die musikalische Form ist die Kantate, die aus Fürreden und Widerreden, aus Fragen und Antworten besteht. Die Gemeinschaft, die dem Einzelnen eine Frage stellt und der Einzelne, der dann antwortet, ist auch eine tradierte Form, auf die wir zurückgreifen und die wir in eine modernere Adaption bringen.

SB: Mir hat sehr gefallen, wie die gewohnte Bühnenraumaufteilung aufgebrochen und die Perspektive verlagert wurde, als ihr das Publikum aus dem Zuschauerraum auf die Bühne geholt habt, um die Reproduktion des Stückes wiederum auf die Ränge zu projizieren.

JW: Das ist immer gut zu hören, weil es tatsächlich auch eine große Angst ist, dass die Leute nicht wissen, zu was sind wir geladen, was ist das Setting, wie müssen wir uns jetzt verhalten, und dadurch eine Frustration entsteht. Deswegen ist es gut, als Feedback zu bekommen, dass die Situation klar ist und dass man gerne dazu eingeladen wird, auf die Bühne zu kommen.

SB: Welche Rolle hat der Gedanke eines christlichen Sozialismus, in Anlehnung an den Mythos der christlichen Urgemeinschaft, bei der Entwicklung des Stücks gespielt?

JW: Wir bewegen uns, auch wenn uns die theologische Fragestellung interessiert, außerhalb eines theologischen Denkkonzepts, weil die Grundhaltung ist, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der man nicht mehr davon ausgeht, dass alles, was passiert, von oben gesteuert ist, dass es also einen göttlichen Einfluss auf das Leben und Handeln der Menschen gibt. Wir gehen davon aus, dass wir in einer Zeit jenseits des göttlichen Einflussbereichs leben und deswegen das Handeln und die Wunder selbst gestalten müssen. Aus diesem Grund haben wir wirklich keine christlich-theologische Fragestellung in diesem Stück. Es ist eine Allegorie, wir lesen die Bibel und das Bibelzitat als Allegorie, als eine tradierte Geschichte, die wir kulturell gemeinsam greifen und wo wir uns gemeinsam andocken können, sehen und betrachten sie aber eigentlich aus einer anderen philosophischen Geisteshaltung heraus, die eine moderne ist.

Foto: © 2014 by Julia Kneuse

Innere Montage einander fremder Welten in "Die Speisung der 5000"
Foto: © 2014 by Julia Kneuse

SB: Das Kommando Himmelfahrt orientiert sich in seiner Arbeit auch an dem Begriff "Biokosmismus", der im 19. Jahrhundert von dem russischen Religionsphilosophen Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow geprägt wurde. Könntest du uns umreißen, was dieser Begriff in diesem Zusammenhang für euch bedeutet?

JW: (lacht) Sagen wir mal so, es ist nicht so, dass jede Arbeit unter einem bestimmten Dogma steht, das da heißt, das sind die großen Prediger und wir folgen. Es sind Einflüsse oder sagen wir mal Texte, die uns beeindrucken. Fjodorow hat viel über die gemeinsame Tat, über das gemeinsame Handeln geschrieben, auch aus der Perspektive, dass die Negation göttlichen Einflusses das menschliche Handeln, menschliche Handlungsmacht und -pflicht erfordert.

SB: Also dass man, sobald man Gott negiert, die Dinge selbst in die Hand nimmt?

JW: Genau, in dem Moment, wo ich feststelle, dass ich selbst eine Wirkungsmacht habe in einer Gesellschaft, weil nicht determiniert ist, wo die Reise hingeht, sondern weil Menschen die Gesellschaft und alles, was damit zusammenhängt, selbst erfunden haben, selbst gemacht haben und deswegen auch selbst verändern können, kann ich nicht vor diesen Gedanken zurück und meine Verantwortung wieder abgeben.

SB: Vielen Dank für das Gespräch, Julia.


Konzept und Text - Kommando Himmelfahrt (Jan Dvorak, Thomas Fiedler, Julia Warnemünde)
Musik - Jan Dvorak, Liedtexte nach der King James Bible (1610)
Mit Jan Plewka, Peter Maertens, Thomas Leboeg, Ensemble Resonanz, Carl-John Hoffmann, René Huthwelker, Julia Kneuse, Peter Häublein, Ronja Niendorff, Ewen Kramer, Thomas Fiedler, Jan Dvorak und dem Kampnagel Chor
Recording und Mix - niedervolthoudini
Eine Produktion von Kommando Himmelfahrt in Koproduktion mit Kampnagel und dem Theater Chur.

Die nächsten Vorstellungen von "Die Speisung der 5000" von Kommando Himmelfahrt sind am 20. und 21. Dezember 2014 um 20.00 Uhr auf Kampnagel zu sehen.

19. Dezember 2014