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BERICHT/063: Fluchtwelten - ... flieg ich durch die Welt (SB)


Freiheit des Denkens und des Körpers:

Geraer "Kruso"-Uraufführung (Freitag, 6.11.2015) punktet vor ausverkauftem Haus mit Wende-Geschichte und Textnähe

von Christiane Baumann, November 2015


Das Theater bis auf den letzten Platz besetzt, viel Applaus für das Ensemble am Ende der gut zweistündigen Inszenierung. Kurz: die Geraer Theatermacher können ihre Uraufführung nach dem Roman "Kruso" von Lutz Seiler durchaus für sich als Erfolg verbuchen. Dementsprechend ausgelassen war auch die Stimmung bei der Premierenfeier im Theater-Café. Und natürlich ließ es sich Lutz Seiler nicht nehmen, nach dem Signieren seiner Bücher coram publico über die Inszenierung zu plaudern. Es war ein Heimspiel für den gebürtigen Geraer, der den Theaterabend als "ganz besonderen Moment" genoss und sich von der Theateradaption "sehr angetan" zeigte. Dabei gestand er ein, aufgeregt gewesen zu sein, da er ja tatsächlich seinen Sätzen auf der Bühne begegnet sei. Damit ist die Spezifik der Geraer Bühnen-Adaption benannt, die ausschließlich Originaltext verwendet, was aufgrund der dichten und plastischen Sprache des Romans einerseits reizvoll ist, sich andererseits aber - und das sei vorausgeschickt - in der Bühnen-Umsetzung als problematisch erweist.


Foto: © 2015 by Christoph Beer

Kruso mit René und Rimbaud
Foto: © 2015 by Christoph Beer

Die Geraer Adaption konzentriert sich auf die Geschichte von Edgar Bendler und Alexander Krusowitsch, die chronologisch nacherzählt wird. Folgerichtig setzt die Bühnenhandlung mit der gelungen in Szene gesetzten Küsser-Episode am Bahnhof in Halle ein und endet, als "alle Grenzen offen waren", Epilog inklusive. Edgar sucht nach dem Unfalltod seiner Freundin G. Zuflucht auf der Insel Hiddensee, jener Insel, auf der sich Gestrandete und "Schiffbrüchige" aller Art dem Zugriff des DDR-Regimes zu entziehen versuchen. Er trifft im Klausner auf eine verschworene Gemeinschaft von Saisonkräften und auf den "Insel-Guru" Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, der auf der Insel seine Utopie lebt. Er will die Schiffbrüchigen in einem geradezu rituellen Akt läutern, sie zu den "Wurzeln der Freiheit" führen, so dass sie zu einer inneren Freiheit finden, die eine Flucht überflüssig macht. Das Geraer Programmheft gibt die Perspektive der Inszenierung vor: "Nur so ist es möglich, sich auch innerhalb einer unfreien, gleichgeschalteten Gesellschaft seine persönliche Freiheit zu wahren. Nur durch diese Erkenntnis kann die Flucht aus dem Land verhindert werden und damit auch die Gefahr des Ertrinkens in der Ostsee. Kruso treiben persönliche Gründe an, möglichst jeden Menschen von der Flucht abzuhalten. Seine eigene Schwester hat er auf diesem Weg verloren." Damit fokussiert die Geraer Regisseurin Caro Thum ihre "Kruso"-Adaption auf die DDR-Geschichte, löst sie aus dem surrealen Beziehungsgeflecht des Romans, nimmt ihr damit jedoch letztlich die philosophische Dimension und ihre Mehrdeutigkeit. Das wird konsequent durchgehalten. Das Bühnenbild zeigt grauen DDR-Alltag, keinerlei Insel-Flair, keine Insel der Seligen oder der Toten wie in den vom Roman zitierten Bildern Arnold Böcklins, auch keine Traum-Visionen, von denen der Text so einzigartig lebt. Die Kostüme sind karg bis nackt. Zahlreiche Szenen stellen die körperliche Nacktheit als Zeichen der Freiheit aus. Das Programmheft liefert den passenden Bezug zum Roman, der von der "natürlichen, ohne besonderen Anlass auftretenden Nacktheit" als sei diese "in Wahrheit ein Siegel, eine Art Lohn ... für die gemeinsam überwundene Scham" erzählt. Die Inszenierung bleibt in geradezu naturalistischer Manier auch in jenen Passagen "im Text", die von Schmutz und Wasser nur so strotzen. Der überwiegend klassische Musikteppich der Aufführung hat ebenfalls seinen Ursprung im Roman, in dem Viola, der personifizierte Deutschlandfunk, Haydn, Händel, Tschaikowsky oder Vivaldi spielt. Doch während es bei Seiler nur lapidar in einstiger Deutschlandfunk-Manier heißt, dass zum Tagesausklang die Nationalhymne erklinge, singt Viola auf der Bühne von Einigkeit und Recht und Freiheit.


Foto: © 2015 by Christoph Beer

Christiane Nothofer als G.
Foto: © 2015 by Christoph Beer

Petra Paschinger ist es mit ihrer Bühnenfassung in bewundernswerter Weise gelungen, den Seilerschen Text auf eine theatertaugliche Länge "einzudampfen", in Bühnendialoge zu transformieren und dabei jene Schlüsselszenen herauszufiltern, die als Dreh- und Angelpunkte des Romans gelten können. Besonders berührend ist der Moment, als im zweiten Teil Ed endlich mit den Worten "Happy Birthday, Kleine" die Kerze ausbläst und Kruso mit dem Gesicht in die Geburtstags-Torte fällt. Von diesem Moment an, der auch für Lutz Seiler, wie er sagte, in der Inszenierung eine Schlüsselstellung markiert, bricht die Gemeinschaft des Klausners auseinander, so wie das Land gleichermaßen zugrunde geht. Allerdings gelingt es in der Geraer Inszenierung nur teilweise, diese Gemeinschaft des Klausners erlebbar zu machen. Das Geschehen fokussiert sich von Beginn an im Wesentlichen auf Ed und Kruso und auf Edgars tote Freundin G., die - ein gelungener Einfall - als personifizierte Erinnerung immer wieder auftaucht. Hier wird auch Seilers spielerischer Umgang mit Identitäten erfahrbar, da G. zugleich als Krusos Schwester Sonja und als C., Eds Insel-Geliebte, auftaucht. Insofern war der Beifall für die drei Darsteller, Manuel Kressin als Ed, Bernhard Stengele als Kruso und Christiane Nothofer, die nahtlos und spielerisch in diese Frauenfiguren schlüpft, absolut verdient. Während sich Kressins Ed in seiner Naivität auslebt, überzeugt Stengeles Kruso mit seinem Charisma ebenso wie Nothofers Frauengestalten in ihrer Natürlichkeit bestechen.

Die Geraer Inszenierung entfaltet ohne Frage ihren Sog über den Seilerschen Text. Doch darin liegt auch die Crux, da die Nähe zum Roman zum Korsett wird, das einen kreativen und spielerischen Umgang mit dem Text als "Rohstoff" verhindert. Die Bühnenadaption, die auf den narrativen Zugang setzt, geht über weite Strecken über das Erzählen des Romans, das in dieser verkürzten Form diesem nicht gerecht werden kann, nicht hinaus. Originäre Möglichkeiten der Bühne werden so verschenkt. Der Verzicht auf das Experimentieren mit Text, Sprache, Musik oder Licht geht mit einem Verlust an sinnlichem Erleben, wie ihn gerade die Bühne bieten kann, einher. Hier hat die Magdeburger "Kruso"-Inszenierung ganz eigene Akzente gesetzt und vor allem Seilers Ästhetik, sein Spiel mit Identitäten, mit Raum und Zeit, adaptiert und zu einem dramatischen Co-Text entwickelt, der das philosophische Hinterland des Romans, die Insel als überzeitliches Denkmodell zu begreifen, aufleuchten lässt, auch wenn sie die Frage aufwirft, ob das Magdeburger Konzept bei dem Theaterbesucher, der den Roman nicht gelesen hat, letztlich aufgeht. Diese Frage stellt sich in der Geraer Inszenierung nicht, die in der Chronologie des Ed-Kruso-Geschehens bleibt und im Prinzip mit Violas Hinweis "Alle Grenzen waren offen" endet. Das sich anschließende Ensemble-Rezitieren aus dem Epilog ist bei der Fokussierung auf den Ed-Kruso-Plot dramaturgisch inkonsequent, zumal der Epilog seine Subtilität und Brisanz auf der Bühne nicht zu entfalten vermag.


Foto: © 2015 by Stephan Walzl

Ed (links) und Kruso (rechts) beim Abwasch
Foto: © 2015 by Stephan Walzl

Für denjenigen, der den Roman "Kruso" nicht kennt, bietet die Geraer Inszenierung die Chance einer Begegnung mit Lutz Seilers Text und die Möglichkeit, in seine poetische Sprachwelt einzutauchen. Nicht zuletzt ist es ein mutiges und streitbares Angebot, das einmal mehr verdeutlicht, wie unterschiedlich sich die Zugänge zu einem Roman auf der Bühne ausleben können. Die Frage, wie stark hierbei biographische Prägungen und Sozialisierungen gewirkt haben - die Autorin der Magdeburger Bühnenfassung Dagmar Borrmann hat eine ostdeutsche Vita wie auch die Magdeburger Regisseurin Cornelia Crombholz, die in der DDR aufwuchs, um sie als Flüchtling zu verlassen, während das Geraer Duo mit Petra Paschinger eine gebürtige Österreicherin und mit Caro Thum eine westdeutsche Regisseurin vereint - dürfte hierbei nicht unbedeutend sein. Das allerdings wäre bereits Stoff für eine andere Betrachtung.



"Kruso"
Nach dem Roman von Lutz Seiler
Bühnenbearbeitung: Petra Paschinger
Regie: Caro Thum
Bühne/Kostüme: Marianne Hollenstein
Musik: Heinrich Diemer
Dramaturgie: Svea Haugwitz


Ein Interview mit der Dramaturgin Petra Paschinger zu ihrer Adaption des Romans "Kruso" am Theater Gera von Christiane Baumann finden Sie im Schattenblick unter:
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INTERVIEW/027: Fluchtwelten - Figuren erzählen ...    Petra Paschinger im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpi0027.html


Ein Interview mit Dramaturgin Dagmar Borrmann zur Magdeburger Aufführung von "Kruso" ist im Schattenblick zu finden unter:
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FRAGEN/006: Zeitgeister am Fenster ... (Christiane Baumann)
http://www.schattenblick.de/infopool/theater/fakten/tefr0006.html

Der Bericht zur Magdeburger Uraufführung von "Kruso" von Christiane Baumann am 25.09.2015:
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BERICHT/060: "Kruso" oder die Streitgeburt ... - Uraufführung im Theater Magdeburg (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpb0060.html

9. November 2015


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