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BERICHT/088: Kampnagelsommer - Märchenzauber puppenhaft ... (SB)


Fred Wesley, einst Bandleader bei James Browns legendären JBs und später an der Seite von George Clinton und Maceo Parker Posaunist bei Parliament und Funkadelic, hat den Klang von R&B, Soul, Jazz und Hip-Hop mitgeprägt. Seit einigen Jahren arbeitet Wesley mit dem frankokanadischen Multitalent Josh "Socalled" Dolgin zusammen, der als Pianist und Akkordeonspieler in seiner Musik Klezmer, Hip-Hop, Folk, Funk und Drum & Bass gekonnt mischt. Auf dem diesjährigen Kampnagel Sommerfestival haben Dolgin und Wesley unter dem Namen "Socalled & Friends" das Handpuppen-Musical "The 2nd Season" uraufgeführt. Etwas Herzerwärmenderes auf der Bühne präsentiert zu bekommen, müßte man lange suchen.



Dolgin am Klavier, daneben zwei Handpuppen und eine Puppenspielerin - Foto: © 2017 by Schattenblick

Josh Dolgin & Friends
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bereits im Sommer 2014 warteten "Socalled & Friends" auf Kampnagel mit dem Stück "The Season" auf. Dabei ging es um die Geschichte einer Gruppe von Waldbewohnern, die vom Jäger bedroht wurden. Damals hat sich Bär in eine außerirdische Fuzzie verliebt. ... Inzwischen sind mehrere Jahre vergangen. Der Baskatong-Wald ist abgeholzt - weswegen "2nd Season" nach der Ouvertüre mit dem Stück "Clearcut" beginnt. Es stehen nur noch einige Baumstümpfe herum. Biber harrt noch mit Ente im Wald aus. Als letztere jedoch die Liebe zu ihrer alten Flamme Kröte wiederentdeckt, verfällt Biber in Einsamkeit und Verzweiflung.


Handpuppen am Baumstumpf, dahinter auf einer erhöhten Bühne das Mini-Orchester Socalled - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Begegnung von Biber und Tammy
Foto: © 2017 by Schattenblick

Doch plötzlich taucht eine junge rote Bärin auf, die sich als Tammy, die gemeinsame Tochter von Bär und der fremdplanetarischen Fuzzy, Tina, entpuppt. Tammy ist auf der Suche nach ihrem Vater. Als sie von Biber erfährt, daß Bär nach dem Kahlschlag im Wald mit seinen Artgenossen in die Stadt abgewandert ist, überredet sie Biber dazu, ihr den Weg dorthin zu zeigen und bei der Suche zu helfen.


Nahaufnahme der vier bunten Handpuppen am Baumstumpf - Foto: © 2017 by Schattenblick

Biber und Tammy verabschieden sich von Ente und Kröte
Foto: © 2017 by Schattenblick

Um in der Stadt überleben zu können, brauchen Biber und Tammy Geld, weswegen sie sich bei einer Posaunenfabrik bewerben. "Bears make the best trombones" - der Titel eines weiteren Stücks - und so wird Tammy hereingelassen, Biber jedoch muß draußen bleiben.


Lauter Bärenpuppen am altmodischen Fließband samt Räderwerk - Foto: © 2017 by Schattenblick

Tammy wird in der Posaunenfabrik eingewiesen
Foto: © 2017 by Schattenblick

In der Fabrik herrschen schlimmste Ausbeutungsverhältnisse. Gemäß der kapitalistischen Verwertungslogik und des Strebens nach Gewinnmaximierung haben die Vorarbeiter-Bären Ichtus und Glide die anderen honigsüchtig gemacht, damit sie fast rund um die Uhr bei der Posaunenproduktion schuften. Nichtsahnend wird auch Tammy süchtig nach dem gelben Bienensaft.


Zwei Bärenpuppen oben am Modell eines großen mechanisierten Honigtopfs - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ichtus und Glide bereiten den nächsten Fix für die Bären vor
Foto: © 2017 by Schattenblick

Rettung naht in Gestalt von Biber, der sich als Bär verkleidet bei dem trotteligen Wachbären Einlaß verschafft. Das kleine Nagetier erkennt die katastrophale Lage. Biber offenbart Bär und Tammy ihre Verwandschaft, woraufhin diese aus der Honig-Betäubung erwachen.


Biber oben am Honigtopf, Wachbär vor dem Werkstor - Foto: © 2017 by Schattenblick

Biber übertölpelt den Wachbären
Foto: © 2017 by Schattenblick

Biber wird jedoch von Ichtus und Glide geschnappt und gefesselt. Ihm droht Unheil. Doch der Fabrikbesitzer, Herr Embouchure - gespielt von Fred Wesley -, vom Trubel in der Werkshalle gestört, kommt mit Entsetzen erstmals hinter die Machenschaften seiner Vorarbeiter.


Fred Wesley, im schalenförmigen Drehsessel sitzend, bläst in sein Instrument - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Jazz-Meister spielt Posaune
Foto: © 2017 by Schattenblick

Embouchure ordnet die Freilassung Bibers an und schließt umgehend die Fabrik, um der Knechtschaft der Bären ein Ende zu setzen. Wie es der Zufall will, ist just in diesem Moment das große Geheimprojekt Embouchures vollendet, nämlich der Bau einer Trombeam-Maschine, die jeden dorthin teleportiert, wo er hingehört. Die Trombeam-Maschine funktioniert. Embouchure, der zu seiner Tochter will, die er lange nicht gesehen hat, lädt alle ein, sich in die Maschine zu begeben.


Posaunenfabrik im Betrieb, während es auf der Leinwand hinter der Bühne nur so Geldscheine- und -münzen regnet - Foto: © 2017 by Schattenblick

The Cost of Doing Business
Foto: © 2017 by Schattenblick

Zum Schluß sind fast alle wieder im Wald vereint. Die Bären machen sich daran, Bibers ehrgeizige Wiederaufforstungspläne mit aller Energie zu verwirklichen. Auch die beiden Bösewichter Ichtus und Glide geloben Besserung, ihnen wird verziehen und sie sind mit von der Partie. Nur Bär und Tammy sind verschwunden - offenbar hat Embouchures Wundergerät sie auf den Planeten der Fuzzies gebeamt. Alle sind glücklich und froh. Die Welt im Baskatong-Wald ist wieder in Ordnung.


Rauchwolken steigen von der Trombeam-Maschine auf, in der sich Tammy und Bär befinden - Foto: © 2017 by Schattenblick

Blitzschläge begleiten die Inbetriebnahme der Trombeam-Maschine
Foto: © 2017 by Schattenblick

In "2nd Season" kommen diverse Stil- und Kulturelemente zusammen. Tammys Suche nach ihrem unbekannten Erzeuger ähnelt dem Schicksal des jungen Protagonisten im dickensschen Musical-Klassiker "Oliver!" von Lionel Bart. Die fordistischen Bedingungen in der Posaunenfabrik, wofür das Fließband und der große Honigtopf stehen, der aussieht, als wäre er einem Stahlwerk von Thyssen oder Krupp entsprungen, erinnern an Charly Chaplins Kinomeisterwerk "Modern Times". Die Handpuppen werden genauso wie die berühmten Muppets von Jim Henson zum Leben erweckt. Eine Hand des Puppenspielers steckt in der Tierfigur, wo sie Kopf und ein Glied bewegt. Mit der freien Hand wird über eine Stange die andere Pfote, Flosse oder der andere Flügel zum Gestikulieren gebracht.


Am Baumstumpf besprechen die Puppen ihre Wiederaufforstungspläne - Foto: © 2017 by Schattenblick

Das neue Leben erwacht; Ichtus und Glide dürfen im Wald bleiben
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Geschichte von "2nd Season" steht in feinster Musical-Tradition. Die Helden sehen sich am Anfang mit extremen Widrigkeiten konfrontiert, die sie am Ende mittels Liebe, Treue und Hartnäckigkeit doch noch überwinden. Bis dahin werden Abenteuer erlebt und neue Freunde gefunden. Während die Hauptfiguren an Kraft und Selbstvertrauen gewinnen, entlarven sich ihre gemeinen Gegner als armselige Schwächlinge, denen man eigentlich helfen müßte. In dem Stück fehlt weder das Duett - "Fathers and Daughters" ("Väter und Töchter"), gesungen von Biber und Tammy, noch eine Trauerballade, "The Song, I Never Got to Sing" ("Das Lied, das ich niemals singen konnte"), gesungen von Fred Wesley, noch die große Revuenummer, bei der sich alle Akteure stimmlich einbringen. Von letzterer gibt es mehrere: "Assembly Line" ("Fließband"), "Money in the Honey" ("Geld im Honig"), "Cost of Doing Business" ("Der Preis des Geschäfts") sowie das vorhin erwähnte "Bears Make the Best Trombones".


Die Künstler bedanken sich, zum ersten Mal sind die Puppenspieler zu sehen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Rauschender Applaus
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die von Dolgin komponierte und Wesley arrangierte Musik von "2nd Season" ist eine gelungene Mischung aus anglo-amerikanischer Operette und modernen Funk-Grooves samt Rap-Einsprengseln. Begleitet wurden Dolgin und Wesley vom Kaiser Quartett (Adam Zolynski, Jansen Folkers, Bruno Merse und Martin Bentz) auf der Geige, Natalia Girunyan auf der Harfe sowie Jamie Thompson und Patrice Agbokou (die eigentliche Rhythm section der Gruppe Socalled) auf Schlagzeug und Baß. Im Hintergrund sangen für die Puppen die Hauptdarsteller Katie Moore, Joe Cobden, Michael Felber, Rich Ly und der New Yorker Rapper C-Rayz Walz. Alle gehören auf die eine oder andere Weise schon länger zur Familie Socalled. Den Beteiligten war der große Spaß, der ihnen die Teilnahme an der Uraufführung machte, anzumerken. Er dürfte dazu beigetragen haben, daß die Synchronisierung von Sängern und Puppenspielern trotz einer gewissen räumlichen Distanz lückenlos gewahrt wurde. Bei dieser Vorstellung gab es sicher niemanden im Saal, der nicht von der unverhohlenen Freude der Künstler mitgerissen wurde. Entsprechend laut und begeistert war der Applaus des Publikums.


15. August 2017


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