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INTERVIEW/010: Markus Dentler, Chef der Kieler Komödianten, über ein Theaterleben (SB)


Die Schauspieler - das sind die Wilden


Es scheint sie noch zu geben - die Theatermacher aus Leidenschaft, für die Kunst und Kommerz zwei Paar Schuhe sind, die nicht zueinander passen. Markus Dentler ist so einer: im Leben immer auf der Bühne und auf der Bühne mitten im Leben. Schauspieler seit über 40 Jahren, Gründer und Direktor des ältesten Privattheaters Schleswig-Holsteins, hat er inzwischen Theatergeschichte geschrieben: ob mit Goethe in den Vereinten Nationen, als Erfinder provokativer Formen von Publikumsspielen wie dem Sklavenmarkt, dem Menschenzoo oder dem Hundetheater oder als Darsteller und Regisseur von Stücken, die heute schon zu den Klassikern zählen: Ionesco, Sartre, Beckett, Dario Fo, Handke oder Marguerite Duras.

Nicht zu vergessen St. Exupérys "Der Kleine Prinz", den die Komödianten jetzt schon im 19. Jahr unter freiem Himmel im Innenhof des Kieler Rathauses geben - bei jedem Wetter. "Das Schöne ist doch: Der Kleine Prinz im Regen", sagt Markus Dentler, "das haben sie noch nie gesehen und das ist toll."

Am Rande des diesjährigen Sommertheaters hatte der Schattenblick die Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit dem Oberkomödianten über die Freiheit des Theaters, Leben und Überleben in der Kunst, Experimente, das Verhältnis von Kunst und Politik, die Internationalität der Schauspielerei und über die Komödie an sich.

Markus Dentler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Markus Dentler
Foto: © 2011 by Schattenblick

Markus Dentler: Ihr dürft ja nicht vergessen, Theater ist ein Jahrtausende altes Element. Da gab es keine Räume früher, das gab es nur im Freien. Die Räume wurden erst mit den gräflichen Hoftheatern erfunden. Da hat der Graf gesagt: Ich setz' mich doch nicht in den Regen und ich will auch nicht von allen gesehen werden. Denn er wollte mit seinen Konkubinen in der Fürstenloge sitzen. Und da hat er sich Häuser gebaut ...

Schattenblick: Wann war das?

MD: Im Mittelalter. Theater gibt es ja seit Tausenden vor Jesus. Das größte Theaterfestival in Athen war 600, 700 vor Jesus, da sind sie von überall hergekommen und haben Theater gespielt - natürlich im Freien. Wenn man heute im Dionysos-Theater steht, kurz unter der Akropolis, da kommt man auf die Spuren seiner Vorfahren. Da spielte doch kein Mensch in einem Raum, Theater war immer im Freien. Und dann haben die Fürsten Häuser gebaut und haben die Schauspieler von der Straße weg engagiert: "Du bist ab jetzt ein fürstlicher Hofschauspieler!" - Hofschauspieler, daher kommt ja das Wort überhaupt, weil es am Hofe stattfand. Und da hatte man natürlich Fixgagen, das gab es ja vorher alles gar nicht, da hat man von der Hand in den Mund gelebt. Aber kaum gab es das Höfische, hat man die Schauspieler sozusagen domestiziert - das waren ja wilde Menschen -, hat sie praktisch dressiert und hat ihnen Monatsgehälter gegeben. Und dann wurden sie langweilig.

Eigentlich ist der actor, der Mime, der Schauspieler ein Wilder. Ihr habt es hier mit einer nicht zähmbaren Menschheit zu tun, das sind die Schauspieler. - Aber sie lassen sich doch kaufen, das ist das Dumme. Da gibt man ihnen 3.000 im Monat und schon halten sie's Maul. Das ist aber mal so, das darf man nicht unterschätzen.

SB: Dann ist Ihre Form des kleinen, freien Theaters auch ein politisches Bekenntnis? Kann man das so sagen?

MD: Nein, aber wir sind noch die Wilden, weil wir zu niemand gehören. Wir haben uns noch nicht verkauft. Deswegen machen wir ja auch, was wir wollen. Es ist schwierig für die Oberen, uns irgendwie ruhig zu stellen; und das wollen sie natürlich. Theater ist gefährlich, weil die Leute, wenn sie fasziniert sind von einem Freiheitswillen, dann sind sie gegen's System. Deswegen kam, das könnt ihr in jedem totalitären System sehen, ob unter Adolf Hitler oder in der DDR, ganz egal, wo man hinguckt, keine Premiere raus, ehe nicht die Prüfer da waren.

Markus Dentler beim deutschen Theater in Kaliningrad - Foto: © by Die Komödianten

Beim Deutschen Theater in Kaliningrad
Foto: © by Die Komödianten

Markus Dentler ist mit seiner Truppe weltweit unterwegs: in Kaliningrad haben sie das Deutsche Theater bespielt, in New York den Broadway. Sie waren in Talin, im polnischen Gdynia, in Brest und Ystad in Südschweden, besuchten Israel und Australien, gastierten auf internationalen Theaterfestivals in Moskau, Buenos Aires und Edinburgh. Sie haben als erstes deutsches Theater nach dem 2. Weltkrieg in Coventry, der Stadt in Mittelengland, die am 14. November 1940 von den Deutschen in Schutt und Asche gelegt wurde, gespielt - auch das eine Botschaft. "Wenn Du da als Deutscher durchläufst, kriegst Du die Krise, da fragst Du Dich, was habt ihr uns getan?", kommentiert Dentler. Auch in Nicaragua ist er gewesen, und nächstes Jahr will er nach Kuba. Und er hat mit seinen Komödianten in den Vereinten Nationen in New York gespielt.

MD: Wir waren in New York in der 46th Street in dem Back Street Theatre und da habe ich mir überlegt: "Man müßte mal in der UNO spielen!" Da haben die gesagt: "Wer glauben Sie, wer Sie sind?" - "Ja, ich bin ein Schauspieler, habe mein eigenes Theater und möchte hier spielen und die United Nations in ihren Friedensbemühungen unterstützen." Da kam dann der Zeremonienmeister von der UNO, das war ein Franzose, der sagte zu mir: "Ja, das geht nicht, also Theater darf man hier nicht spielen, Sie sind ja politisch".- "Nein, wir sind nicht politisch." Und dann hat er verlangt, daß die German UN Mission schriftlich garantiert, daß die Kieler Komödianten keine politische Agitation machen. Das habe ich hingekriegt.

SB: Was haben Sie gespielt?

MD: Nur Liebesgedichte von Goethe, Schiller und Shakespeare. Aber auch die sind politisch, das weiß man aber normalerweise nicht und sonst hätte ich es abgestritten. Aber ich mußte ja erstmal meine German UN Mission dazu kriegen, daß sie schriftlich für mich garantiert. Und das war gar nicht so leicht. Dann wurde ich von New York aus durchleuchtet. Also wenn ich nur einmal vorher im Knast gewesen wäre, hätte ich das nie gekriegt. Eigentlich habe ich nichts gemacht als zu nerven, aber ich habe nie ein richtiges Verbrechen begangen. - Und nachdem sie mich durchleuchtet hatten, hat der Kulturattaché gesagt: Es ist es ja auch eine Werbung für unseren deutschen Staat, wenn ein deutsches Theater in den United Nations spielt. Dann hat der Walter Pfäffle vom dpa-Büro in New York - er ein Schwabe und ich auch ein Schwabe - einen Riesenartikel geschrieben: "Am Broadway wird jetzt deutsch gesprochen", so hieß die Überschrift und ab da mußte ich so viele Rundfunkinterviews direkt aus New York geben ... das war für uns schon ein Riesenerfolg. Aber - wir sprechen ja jetzt auch über Politik - Theater ist immer politisch.

SB: Zwangsläufig?

MD: Ja. Wir müssen uns ja gegen sämtliche Systeme wehren. Theater ist ja selbst ein System mit Hierarchien - und in jedem noch so totalitären System haben die Theater überlebt, in der DDR, unter Ceausescu in Rumänien, das war ja ganz brutal, in Rußland mit ihrem Tschechow oder Puschkin. Als ich in Moskau war, war ich auf dem Puschkin-Platz und im Bulgakow-Museum. Also bei aller Liebe, da ist ja fließend Kultur, aber immer gestriezelt vom Staat. Deswegen ist es politisch.

SB: Was haben Sie in Nicaragua gemacht?

MD: Da habe ich mich mit Ernesto Cardenal getroffen, der war damals Kultusminister. Ich bin ein Fan von ihm und seinen Gedichten. Wir haben uns erst geschrieben, er immer auf Spanisch und ich immer auf Deutsch, aber irgendwann war es mir einfach zu mühselig, und da hab ich zu Christoph, unserem Regisseur, gesagt: "Komm, laß uns mal nach Nicaragua, ich hol ein Ticket." Und dann sind wir hingeflogen und ins Kultusministerium in Managua gegangen und da seh ich ihn, ob ihr's glaubt, das ist so einfach, er kommt aus dem Klo: "Hallo, Ernesto!"

SB: Wann war das?

MD: Vor ungefähr zwanzig Jahren. Und er holt mich rein, hat alle Termine abgesagt und seitdem darf ich seine Texte tantiemenfrei spielen. "In der Nacht leuchten die Wörter", so heißt ein Buch von ihm - das sind ganz tolle Liebesgedichte. Er war ja Priester und wurde vom Polenpapst suspendiert, weil er auch noch Liebesgedichte geschrieben hat - und weil er bei den Sandinistas war, also politisch bei den Linken.

In Nicaragua hat ja dieser Somoza sein eigenes Volk bombardiert, das muß man sich mal vorstellen. Nicht umsonst haben die Sandinistas da gewonnen. Der hat seine Feinde von oben aus dem Hubschrauber in den Managuasee geschmissen, das hat man immer gesehen, wenn da einer runterflog. Das hatte eine abschreckende Wirkung, da hab ich auch gedacht: der blanke Wahnsinn.

Jetzt will ich ja damit sagen, wenn wir nicht die Augen aufmachen in unserem System, in unserer Welt - wir sind ja nur Gäste auf dem Planeten Erde. Jeder hat so seine 60, 70, 80 Jahre und dann muß er wieder gehen. Wir können die Augen aufmachen, wir können sie aber auch zumachen, dann sehen wir gar nichts.

Markus Dentler mit Megaphon auf dem Kieler Leuchtturm - Foto: © by Die Komödianten

Goethe, Schiller, Shakespeare auf dem Kieler Leuchtturm
Foto: © by Die Komödianten

Für mich ist die ganze Welt ein Theater, der Planet Erde. Ich benütze den Planeten Erde. Wir haben auf Kiel Leuchtturm Theater gespielt, da darf man eigentlich gar nicht drauf. Da müssen Sie mit den Lotsenbrüdern hingebracht werden, da darf kein Publikum hin. Wir haben aber gesagt, das Publikum soll, weil wir ja in einer Hafenstadt leben, mit Segelschiffen um Kiel Leuchtturm rumsegeln, und wir bespielen sie von oben runter.

SB: Mit Lautspechern?

MD: Mit Megafon: Goethe, Schiller, Shakespeare.

SB: Und das hat funktioniert?

MD: Ja, und wie!

SB: Und die Liebesgedichte vom Kieler Rathausturm, das ging auch per Megafon?

MD: Das haben wir nicht mit Megafon gemacht, sondern wir haben es 'Theater regnen lassen'. Das war, glaube ich, zum 20jährigen Jubiläum des Theaters, da habe ich gesagt: "Paßt auf! Um Punkt 11 Uhr sollen alle die Fenster aufmachen, dann lassen wir es Theater regnen. Wir werden auf dem Kieler Rathausturm auf unser Publikum sozusagen Weltliteratur regnen lassen." Wir haben es ganz normal gesprochen, aber es transportiert sich ja, wie man weiß, durch die Moleküle weiter. Und wir haben vorher auch veröffentlicht, was wir tun.

Mein Wunschtraum wäre aber schon, es einmal ganz laut zu machen - aber dann das Hohelied Salomons - und so laut wie ein Rockkonzert, daß es bis Kiel Gaarden zu hören ist, durch die ganze Stadt. Aber dazu mußt du natürlich vorher Genehmigungen über Genehmigungen haben. Und dann schwebt mir schon immer vor, von einem fahrenden Ponton die Kieler Förde hoch live zu spielen - ganz laut. Aber wenn wir es Kultur regnen lassen, das kann ich auch ganz leise sprechen.

SB: Und wer es hört, hört's...

MD: ...und wer's nicht hört, hört's nicht. Die Leute können ja auch weghören, wenn sie im Theater sitzen.

Markus Dentler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Was war das "Hundetheater"?

MD: Ja, das habe ich erfunden. Da habe ich ein Theaterstück geschrieben für Hunde. Drauf gekommen bin ich, als mein Sohn, als er noch ganz klein war, mal dringend püschern mußte - auf der Kurpromenade Kiel Schilksee. Da habe ich gesagt: "Na gut, dann püscher einfach in diese Büsche da, ich kann jetzt auch nichts machen." Jetzt kam eine alte Dame vorbei, die hatte einen dicken, fetten Dackel dabei und schrie: "Wie können Sie - das Kind muß doch mal lernen, daß man auf die Toilette geht!" - "Aber ich habe keine Toilette, es gibt hier keine, was soll ich machen?" Währenddessen scheißt ihr Hund auf die Kurpromenade. Da hab ich gesagt: "Und das?" - "Das ist doch nur ein Tier!" - Da kam mir in den Sinn: Ein Hund ist ja ein Steuerzahler, kriegt aber kulturell nichts geboten, das ist ja eigentlich eine Frechheit. Man muß mal Hundetheater machen. Das Hundetheater hieß: "Kläffpunkt - Theaterstück für Hunde von Markus Dentler" und die Hunde mußten vollen Eintritt zahlen und die Herrchen oder Frauchen nur die Hälfte.

SB: Das heißt, die Hunde durften mitkommen?

MD: Ja, für die haben wir ja gespielt. Ohne Hund kamst du gar nicht ins Theater. Da sind sogar Menschen mit einem Stoffhund gekommen, für den haben sie vollen Eintritt bezahlt, damit sie überhaupt reindürfen. Es ist wirklich wahr. Und es war immer ausverkauft, und das montags, 100 Hunde, und man hat ganz gut verdient. Es war deutschlandweit das erste Theater für Hunde. Der Dackelverein aus Hannover ist mit einem Sonderbus gekommen mit über 30 Dackeln.

SB: Und worum ging das Stück?

MD: Es ging darum, daß die Herrchen und die Tiere sich angleichen. Das bedeutet, sie sehen schon ähnlich aus, das sieht man ja, wenn man mal genauer hinguckt, aber vor allem, sie benehmen sich ähnlich. Damit die Tierschützer nicht nervös werden, habe ich das vorher mit einem Tierarzt und einem Tierpsychologen besprochen: Wie lange kann ein Hund aufpassen, wie lange ist ein Hund aufnahmefähig? - Es sind tatsächlich nur drei Minuten. Dann muß er scheißen oder Pipi machen, sonst ist er überfordert. Also hat das ganze Stück 2 mal 5 Minuten gedauert. In der Pause sind wir gemeinsam Gassi gegangen - mit 100 Hunden - und haben die Bäume ringsum bestreut. Und ich war der Oberhund. Alle Schauspieler hatten Maulkörbe auf. Ich habe einen Bernhardiner-Maulkorb gekriegt, damit die Hunde keine Angst hatten, daß wir sie beißen.

SB: Und die Hunde haben es verstanden?

MD: Sie haben es verstanden. Und am Ende haben alle gebellt, das war der Applaus. Das war wirklich witzig. Es war nicht leicht, aber es war trotzdem ein voller Erfolg und wir haben es mehrmals gemacht. Eigentlich habe ich eine richtige Marktlücke entdeckt. Die Presse war voll. "Ein Herz für Tiere" hat Sonderseiten gebracht, Zeitungen, Illustrierte, selbst amerikanische, alles voll.

SB: Ein anderes Format hieß "Heiratsmarkt". Was war das denn?

MD: Das habe ich aus einer damaligen Situation heraus gemacht: Drum prüfe, wer sich ewig bindet. - Ich meine, du kannst ja nicht zu jemand sagen: Ich liebe dich, ich liebe dich, und dann läßt du ihn einfach fallen, zack! Mir ging es auch mal so, und ich wußte gar nicht, wie man reagieren soll. Und dann habe ich ein Theaterstück davon gemacht: "Heiratsmarkt". Da hab' ich pro Vorstellung ungefähr 50 bis 80 Paare willkürlich zusammengebracht, verheiratet und nach 24 Stunden habe ich sie wieder geschieden.

SB: Wo kamen die her?

MD: Die Leute haben sich abends im Theater angemeldet, die wollten mitspielen, ein ganz buntes Publikum. Dann habe ich gesagt: Ihr beide paßt doch sehr gut zusammen, schaut euch an. Das war ein 24stündiges Theaterspektakel, mit Ehering und einem Geiger und so weiter. Eine ganz romantische Hochzeit - und eine ganz brutale Scheidung. Und wer sich nicht scheiden lassen wollte, mußte dem Theater eine Schutzgebühr von 1.000 Mark zahlen.

SB: Wieviele Ehen haben Sie gestiftet auf diese Weise?

MD: Ich habe viermal 1000 Mark gekriegt.

Die Komödianten bei einer Parade mit 'Goethe in der Strumpfabteilung' -  Foto: © by Die Komödianten

"Wir können eine ganze Stadt bespielen!"
Die Komödianten bei einer Parade mit 'Goethe in der Strumpfabteilung'
Foto: © by Die Komödianten

SB: Sie machen nach eigenen Angaben seit über 40 Jahren Theater, als Schauspieler, Regisseur, als Stückeschreiber und Theaterdirektor. Wann ist bei Ihnen zum ersten Mal die Spielleidenschaft ausgebrochen?

MD: Als Kind schon. Ich wollte immer mitspielen. Ich fand es immer ungerecht, alle dürfen spielen, nur ich nicht. Meine Eltern waren ja auch beide Schauspieler, und dann sind die immer ins Theater und ich durfte nicht mit. "Du bist noch zu klein." Die erste größere Rolle habe ich mit fünf oder sechs gespielt.

SB: Was war das?

MD: Ein Apfeldieb. Und ich hab als erste Gage eine Tafel Schokolade gekriegt, pro Vorstellung. Spielen hat mir ja Spaß gemacht, ich hab das nie als Arbeit gesehen, deswegen hab ich das auch nicht verstanden mit der Kinderarbeit. Ich arbeite heute noch nicht. Es ist ja für mich keine Arbeit, es wird gespielt. Gib ihnen Brot und Spiele - ich spiele.

SB: Und was hat Sie von Ulm hierher an die Ostsee verschlagen?

MD: Als ich 1984 in Kiel das Theater "Die Komödianten" gegründet habe, gab es in Schleswig-Holstein kein einziges privates Theater. Ich wollte auf jeden Fall ein Theater aufmachen, egal wo. Natürlich nicht, wo es schon Tausende gibt, also in München oder Stuttgart. Ich hatte mir schon durchdacht, ich mach mal eins auf, wo's noch keins gibt, oder nicht so viele. Außerdem hatte ich gerade einen Vater-Kind-Krach damals, und da habe ich gesagt, ich gehe jetzt so weit weg wie's geht.

Markus Dentler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Eine wichtige Phase Ihrer Ausbildung, Arbeit und Entwicklung fällt in den Zeitraum der späten 60er und der 70er Jahre. Damals befanden sich auch die Theater in einem kulturellen wie politischen Aufbruch, Theater sollte politischer werden, viele tradierte Theaterformen wollte man hinter sich lassen, neue Formen wurden experimentell erprobt. Dem Publikum eine andere Rolle zuzuweisen als die des aufmerksamen, aber passiven Zuschauers war eines der damaligen Anliegen.

MD: Ja, "Publikumsbeschimpfung" von Peter Handke. Das haben wir sogar vor zwei, drei Jahren nochmal hier in Kiel gespielt. Aber ich kenn's auch schon von meinen Eltern damals, da habe ich die Lichttechnik gemacht in unserem Theater in Ulm, da war ich vielleicht sechzehn. Da haben wir erst kapiert, daß wir noch von Nazis regiert werden, Filbinger zum Beispiel, Kurt Georg Kiesinger und so weiter. Das waren ja alles Alt-Nazis. Damals war Gudrun Ensslin immer im Theater, die wohnte ja nur fünf Kilometer weiter, in Blaustein. Da war sie aber noch nicht militant, aber es gab schon eine Studentenbewegung in Tübingen. Ich war ja noch ziemlich jung, habe aber schon auch gemerkt, daß irgendwas hier nicht ganz koscher ist im Staate Dänemark. Und das lag ja an unseren Politikern, da waren viele Alt-Nazis.

SB: Darauf nimmt Handke ja auch Bezug in seinem Stück "Publikumsbeschimpfung".

MD: "Ihr Nazischweine!"

SB: Ist das Stück heute noch adäquat? Wie kann man das heute noch umsetzen?

MD: Heute kannst du das nicht mehr. Früher sind die Leute ja noch mit Schlips und Kragen ins Theater gegangen. Das kommt ja auch in dem Text vor: "Sie Lackaffe!" Heute gehen sie in Jeans und Turnschuhen. Das hat ja die Revolution des Theaters mit ausgemacht, denn ab da hat man sich eben auch einfach getraut, in Jeans ins Theater zu gehen. Wir haben sowieso nie verstanden, warum die Leute sich immer so rausgeputzt haben. Und es stank im Theater immer nach irgendwelchen billigen Eau de Colognes, was man damals hatte, in den 60ern, da hatten die Leute noch nicht so gute Sachen. Das ist heute nicht mehr so, die Leute gehen heute ins Theater, wie sie wollen, halb angezogen, das interessiert nicht weiter.

SB: Das heißt, die Publikumsbeschimpfung trifft sie nicht mehr direkt, sondern sie nehmen das eher...

MD: ... als Historie. Wenn ich mir Romeo und Julia angucke, dann nehme ich es auch als Historie. Also es ist heute ein Klassiker, ich seh' das als Klassiker. Es ist ja ein hochliterarischer Text.

Markus Dentler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Ist die Komödie etwas, was sich als subversives Moment oder als subversive Form besonders anbietet?

MD: Komödie ist ja manchmal auch negativ zu sehen, wenn sie als Schmierenkomödie daherkommt, es gibt ja auch die andere Seite. Um das zu umgehen, haben wir, um es wie früher zu sagen, ein 'Lustspiel' gegeben. Lustspiel kommt von Lust, und um noch mehr dagegen zu opponieren, um dieser Tragödie der Komödie zu entgehen, haben wir gesagt: ein Lachstück.

Eigentlich heißen wir ja auch nicht Schauspieler, wir sind Mimen, player, actors, acteures. Das Theater ist international. Wenn ich mal in Dänemark in Odense im Stadttheater war, fragen mich die Leute immer: Was machst du denn da, du verstehst doch die Sprache gar nicht. Aber ich kann doch sehen, ob einer gut mimt oder echt mimt, da brauch ich doch die Sprache nicht. Ich seh doch, ob der spielen kann. Mimik - das ist es nämlich. Ich glaube, jeder zweite hier fährt mal nach Dänemark, aber kein Mensch geht in ein dänisches Theater, weil wir denken, wir verstehen's nicht, so einfältig sind wir. Göteborg hat eine berühmte Oper, es ist ein Katzensprung von Kiel nach Göteborg, aber wir können hier in den Kieler Nachrichten noch nicht einmal lesen, was in Göteborg auf dem Programm steht.

Die Komödianten in Edinburgh beim Straßentheater mit 'Warten auf Godot' - Foto: © by Die Komödianten

"Warten auf Godot" in Englands Straßen
Foto: © by Die Komödianten

Oder in Edinburgh, das ist doch ein internationales Theaterfestival, da kann ich doch nicht alles auf englisch spielen, warum denn? Die Leute wollen, wenn es ein internationales Festival ist, daß ich in meiner Muttersprache spiele, das finden die toll. 700 Japaner in der UNO sind ganz aus dem Häuschen gewesen: "Goethe in his motherlanguage, I love it!" So viele Autogramme haben wir noch nie geschrieben. Ich hatte allerdings zwei amerikanische Schauspielerinnen mit dabei, die haben Goethe auch mal in ihrer motherlanguage präsentiert. Aber die Leute wollten es auf deutsch hören, obwohl sie es auf amerikanisch besser verstanden hätten.

SB: Kann man Ihrer Meinung nach Sprache adäquat übersetzen oder geht dabei immer ein Teil der Eigenheit einer Sprache verloren?

MD: Man kann es nicht übersetzen, das ist alles falsch. Ich habe ja jetzt bei "Crazy for you" von Gershwin mitgespielt, übersetzt ins Deutsche - das stimmt doch so gar nicht. Auch Sartre oder Marguerite Duras, wenn ich das übersetzt lese, denke ich manchmal, es trifft nicht den Kern. Es ist, glaube ich, deswegen schon eine große Anforderung an die Schauspieler, das Gefühl rüberzubringen.

Wenn wir auf deutsch zum Beispiel sagen: 'Mach mir bloß kein Theater hier!' und das übersetzen, weiß keiner mehr, was gemeint ist: Soll ich kein Theater mehr spielen? Soll ich es nicht hier oder nicht schlecht machen? Was soll ich überhaupt? Wir aber wissen, was gemeint ist: Mach mir kein Theater hier! Aber es ist nicht zu übersetzen!

SB: Darin besteht ja auch der Reiz der Verschiedensprachigkeit, sich auszutauschen, dahinter zu kommen, was der andere in seiner Sprache meint.

MD: Deswegen dürfen wir die Mimik ja nicht vergessen, die Mimik ist ja so wichtig, die Sprache ist gar nicht so wichtig.

Markus Dentler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Wonach wählen Sie Ihre Stücke aus?

MD: Nach Gefühl. Es kommt auch drauf an, in welcher Phase ich gerade bin. Toll finde ich Dario Fo. Deswegen haben wir im Herbst sein Stück "Sex - aber mit Vergnügen" wieder auf dem Spielplan. Dario Fo ist der einzige Schauspieler, der den Literatur-Nobelpreis gekriegt hat. Der ist für mich fantastisch, dieser Dario Fo, der hat doch unglaublich gegen die Obrigkeit gewettert, wo er nur stand und ging.

SB: Es gibt von Dario Fo anläßlich der Verleihung des Nobelpreises, von dem Sie gerade sprachen, ein Zitat: "Die Macht - und zwar jede Macht - fürchtet nichts mehr als das Lachen, das Lächeln und den Spott. Sie sind Anzeichen für kritischen Sinn, Fantasie, Intelligenz und das Gegenteil von Fanatismus. Ich bin nicht mit der Idee zum Theater gegangen, Hamlet zu spielen, sondern mit der Ansicht, ein Clown zu sein, ein Hanswurst." Und Peter Zadek schreibt in seiner Autobiografie: "Meine Lebensform ist Spielen." Gibt es für Sie auch ein Motto?

MD: "Meine Lebensform ist Spielen" - das könnte von mir sein. Habe ich doch vorhin schon gesagt, und es stimmt. Die Macht, die Obrigkeit hat Angst, panische Angst, deswegen werden wir ständig gestriezelt. Man läßt uns ja nicht freien Lauf! Wenn Du nur Straßentheater machen willst: Das ist nicht gestattet, das darfst Du nicht, wer hat Ihnen das erlaubt?

Wir haben da ein ganz aktuelles Ding: Wir waren auf ein Streetfestival nach Singapur eingeladen, und da hatte ich die Idee, "Theatre to go" zu machen. Das haben wir beim "Sklavenmarkt" damals in Göteborg gemacht, wir waren 24 Stunden deutsche Qualitätssklaven für schwedische Staatsbürger. Für Singapur wollte ich das sehr verkürzen, 5 Stunden nimmt man das Theaterstück in Form eines Menschen mit nach Hause, und was da dann passiert in der zwischenmenschlichen Beziehung, das ist Theater des Lebens. Aber das wurde nicht gestattet!

SB: Von den Behörden dort aus?

MD: Ja. Deswegen sind wir dann auch wieder ausgeladen worden in Singapur. Die sprechen zwar alle Englisch da, aber das war ihnen zu freiheitlich. Sie wollten vorher einen genauen Rahmen, aber ich habe gesagt, tut uns leid, das Theaterstück passiert erst in Singapur.

SB: Wenn ich es richtig verstanden habe, wären Theaterleute Ihrer Truppe mit Leuten dort nach Hause gegangen?

MD: Womöglich sogar Publikum. Wir hätten in Kiel dafür geworben: Wer mit nach Singapur will, den verscherbel ich dort als Theaterspieler. Im Prinzip ist ja auch eine menschliche Seele ein Stück Theater - also ist ein Spiel.

Der "Menschenzoo" war auch ein Publikumsspiel, da habe ich in Göteborg im Einkaufszentrum Menschen aller Gattungen hinter Gittern gesperrt, von der Nutte bis zum Schauspieler. Es gab Kinderkäfige, Käfige für Ehepaare, für alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern, für Machos und für Musiker. Jeder Mensch konnte sich aussuchen, in welchen Käfig gehöre eigentlich ich? Wir haben auch einen Journalistenkäfig gehabt. Wir haben ja alle dieses Denken, allein wenn wir durch die Straßen gehen, kommen alle, zack, zack, zack, in Kategorien. Schubladen sagt man auch dazu. Das habe ich sichtbar gemacht.

Markus Dentler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: In diesem Jahr kommt mit "Jazz und Lyrik" im Rahmen des Kieler Kultursommers etwas ganz Neues aufs Programm: fünf Abende im Rahmen des Open Air Sommer Festivals der Komödianten mit fünf verschiedenen Jazzbands. Gedichte und Szenen zum Thema Liebe und Theater. Welchen Reiz stellt diese Form von Lyrikpräsentation Ihrer Meinung nach dar, was daran könnte das Publikum verlocken?

MD: Jazz ist eine Musik der Freiheit, deswegen war er ja im 2. Weltkrieg auch bei uns verboten, das darf man ja nicht vergessen. Wir spielen alle Jazz-Formen, Dixieland, New Orleans, Modern Jazz, aber wir haben auch Evergreens. Und die deutsche Lyrik - Heinrich Heine, aber auch Goethe oder Eugen Roth - das passt zu Jazz. Es ist was Lockeres, Leichtes und trotzdem mit Niveau - eine Träumerei. Und man kann bei den Träumen einfach einen schönen Abend haben. Speziell die Liebesgedichte. Wenn unser Goethe von einer Frau schwärmt - so können wir gar nicht mehr schwärmen. Wenn man das heute ernsthaft zu einer Frau sagen würde, sie würde entweder sofort einschmelzen oder sie sagt: Aber lass mich doch!

SB: Ist das ein Experiment oder haben Sie Anhaltspunkte dafür, daß es ein Erfolg werden könnte?

MD: Es ist ein Experiment, ja, ich weiß nicht, ob es zieht. Aber wir probieren es mal.

Markus Dentler im Gespräch mit einer Schattenblick-Redakteurin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Die Kieler Komödianten existieren seit über 25 Jahren, trotz Rotstiftpolitik und Kürzungen im Kulturbereich, die viele, auch große Theater trifft. Ist ein kleines Theater wie das Ihre besonders gefährdet oder haben Sie dadurch, daß Sie mehr experimentieren können, Nischen ausnutzen können, vielleicht sogar eine größere Überlebenschance?

MD: Das ist genau wie mit dem Wort von Zadek. Wenn ich nicht will, dann geht's nicht, wenn ich will, dann geht's. Man muß es wollen! Und muß eben sein Leben in die Waagschale werfen - dann geht's! Und wenn das eine eben nicht zieht, muß man was Neues finden, eine andere Form. Du darfst vor allen Dingen nicht Theater und Geld in eins schmeißen, das geht nicht. Geld und Theater haben miteinander nichts zu tun. Okay, ich muß von irgendwas leben, aber ich darf nicht eins mit dem anderen zusammenbringen, sonst kriegst du die Krise. Du mußt die Schönheit der Form, des Spielens bewahren und darfst nicht immer von Geld sprechen. Theater ist Theater, das andere ist extra, sonst kannst du es gar nicht machen.

SB: Die nächste Generation Ihrer Familie ist ja auch in theatralische Fußstapfen getreten, Ihr Sohn Ivan spielt beim Kleinen Prinzen in diesem Jahr wieder vier wunderbare Rollen. Was sind Ihre größten Hoffnungen und was Ihre größten Befürchtungen für die 'next generation'?

MD: Wir müssen die Freiheit weiterhin bewahren, da müssen wir ganz hart bleiben. Da sind wir Künstler ja wie ein Filter, wir merken's sofort, an uns wird sofort rumgestriezelt. Und auf den Planeten Erde, auf den müssen wir echt aufpassen. Deswegen müssen wir immer weiter kämpfen. Wir werden wahrscheinlich nicht dahin kommen, aber ich bemühe mich einfach, mit wachem Blick durchs Leben zu laufen und versuch halt, was in meiner Möglichkeit jetzt als Theater steht, zu warnen. Also das stimmt schon: Sein oder nicht sein. - Und das muß ich verteidigen. Wir machen das weltweit, und ich weigere mich auch, das auf ein Land oder Bundesland zu reduzieren. Denn ihr könnt gehen, wohin ihr wollt, es gibt kaum einen Staat auf dem Planeten Erde, in dem es keine Theater gibt, selbst Andorra hat eines.

SB: Könnte man sagen, Sie sind ein Internationalist im besten Sinn?

MD: Ja, ich bin ein Erdenbewohner.

SB: Ein schönes Schlußwort. Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

Logo der Kieler Komödianten - Foto: © by Die Komödianten

Foto: © by Die Komödianten

5. August 2011