Schattenblick →INFOPOOL →THEATER UND TANZ → REPORT

INTERVIEW/017: Paradise Lost - Trotz alledem ... Julia Warnemünde (SB)


Paradise Lost - Trotz alledem ... Julia Warnemünde im Gespräch

Interview am 4. Juni 2014 im Hamburger Kampnagel



Die Dramaturgin und Produzentin Julia Warnemünde bildet mit dem Komponisten Jan Dvorak und dem Regisseur Thomas Fiedler das Kommando Himmelfahrt, das sich schwerpunktmäßig mit gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Utopien beschäftigt. Seit der Gründung 2008 hat das interdisziplinäre Theaterkollektiv mehrere schwergewichtige Werke der Weltliteratur, darunter Thomas Hobbes' "Leviathan", Jules Vernes' "20.000 Meilen unter dem Meer" und Thomas Morus' "Utopia" musiktheatralisch inszeniert. Für seine jüngste Arbeit hat das Trio Anfang Juni im Hamburger Kampnagel eine hochmoderne, leicht ironische, popmusikalische Version von John Miltons "Paradise Lost", der Geschichte, wie Satan von Gott aus dem Himmel verbannt wird und als Vergeltung das erste Menschenpaar Adam und Eva dazu verführt, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen, präsentiert. Nach der gelungenen Inszenierung [1] konnte der Schattenblick mit Julia Warnemünde folgendes Gespräch führen.

Julia Warnemünde in Nahaufnahme - Foto: © 2014 by Schattenblick

Julia Warnemünde
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Warnemünde, die Gruppe Kommando Himmelfahrt hat es sich in letzter Zeit zu eigen gemacht, diverse Klassiker der Weltliteratur auf die Bühne zu bringen. Was ist der Antrieb dazu gewesen?

Julia Warnemünde: Es ist die Faszination an den großen Stoffen, an den großen Themen, die in der Frühmoderne, präziser gesagt im Barock, bearbeitet worden sind. Das beginnt sozusagen mit der Frage nach der Staatsgründung und der Frage nach der Gesellschaft: Wie sieht eine ideale Gesellschaft aus und was könnte Utopia sein? Diesen großen Bogen haben wir immer noch nicht beendet, er geht vielmehr weiter. Mit "Paradise Lost" wollten wir in diesem Zusammenhang der Frage nachgehen: Wie ist Revolution? Wie sieht Revolution aus? Wozu macht man Revolution? Wie kann man eine Gesellschaft durch Revolution verbessern? Nach Miltons Interpretation war Satan eigentlich der erste Revolutionär und Rebell, der gegen eine göttliche Ordnung aufbegehrt, die er nicht als die eine wahre und gute annehmen kann.

SB: Die Adaption heute abend fand ihren Abschluß in einer Aufzählung der wichtigsten Wegmarkierungen in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag. Vieles davon, gar das meiste, war negativ geprägt wie zum Beispiel Kriege. Da stellt sich die Frage, ob man Satans Aufbegehren, das nicht nur progressive Aspekte, sondern auch viele Schattenseiten mit sich brachte, positiv bewerten kann. Kann man es im nachhinein rechtfertigen?

JW: Auf jeden Fall. Der Sturz bzw. Rauswurf aus dem Paradies hat zur Folge, daß der Tod in die Welt kommt. Der Mensch wird sterblich. Alle Aktionen, die man als Mensch begeht, kosten auf einmal etwas. Vorher war man im Paradies unsterblich. Man konnte andere Freiheiten genießen. Aber die Freiheit des Wissens, weiter zu gehen, Dinge in Frage zu stellen und damit vielleicht die Welt neu zu denken, gab es nicht. Natürlich hat das eine Schattenseite, wie die Aufzählung der Kriege und Umwälzungen zeigt. Es kostet Leben. Das ist natürlich etwas Negatives. Auf der anderen Seite geschehen diese Vorgänge aus dem Drang heraus, etwas Neues zu gestalten. Es geht immer um das Scheitern und Weitermachen.

SB: Milton selbst hatte ausdrücklich gesagt, er wollte mit "Paradise Lost" Gottes Willen der Menschheit näherbringen. In dieser Aussage steckt die Idee, die man später auch bei Hegel findet, nämlich daß sich das ganze Weltgeschehen über kurz oder lang zum Guten bzw. zum Richtigen hin entwickelt. Wenn man bedenkt, daß die Menschheit bereits an der Schwelle des nächsten großen Artensterbens, des sechsten in der Erdgeschichte, steht, fragt man sich jetzt natürlich, welche Botschaft uns "Paradise Lost" bringt und wie man die Freiheit zum Positiven hin anwenden könnte? Ist das Aufbegehren als Wert an sich nicht vielleicht zu kurz gegriffen?

JW: Natürlich geht es um die Veränderung von Grenzen. Es gibt gesetzte, enge Grenzen, innerhalb derer wir uns bewegen, die uns manches erlauben und manches andere verbieten. Wir können auch Utopien oder positive Veränderungen, egal, welchen gesellschaftlichen Teilbereich sie betreffen, nur dann denken, wenn wir uns konzeptionell jenseits dieser Grenzen bewegen und darüber hinwegschauen. Das ist im Prinzip der Impuls, den wir mit dieser Aufführung aussenden wollten: Was ist das Aufbegehren, die Selbstermächtigung? Das heißt erst einmal für uns ganz banal, Verantwortung zu nehmen, zu sehen, zu erkennen, zu fragen und danach zu handeln.

Natürlich kommen wir nicht um die Erkenntnis herum, daß es auch falsche Schlüsse und Fehlentwicklungen gegeben hat, die die Menschheit zurückwarfen. Ein Beispiel wäre die Erfindung der Atombombe. Am Anfang herrschte wissenschaftliche Neugier vor, ein Begehren, um das Wissen zu erlangen, wie die Kernspaltung funktioniert. Und auf einmal war die Atombombe in der Welt. Von diesem alles verändernden Schritt kommt man danach nicht mehr zurück. Das ist natürlich eine ganz furchtbare Erkenntnis. Aber daraus resultieren auch Bewegungen und ein Infragestellen, wie man mit neuen ethischen Prinzipien, Handlungsmaximen und moralischen Fragen, die damit in die Welt kommen, umgeht.

Das Interview findet in der Kampnagel-Halle 2 auf den Zuschauerrängen statt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Julia Warnemünde und SB-Redakteur
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Kommando Himmelfahrt befaßt sich mit Stoffen, für die sich heute kaum jemand interessiert. Wer liest heute noch John Milton zum Beispiel? Inwieweit werden die künstlerischen Bemühungen und Ideen des Kollektivs vom Publikum aufgegriffen?

JW: Wir arbeiten nach verschiedenen ästhetischen Prinzipien. So wird an diesem Abend Beatmusik gespielt, eine Musik, die wir gewohnt sind zu konsumieren und die uns anspricht. Es ist keine Zwölftonmusik. Das schafft einen emotionalen Effekt bzw. ermöglicht eine emotionale Inbezugsetzung, die der Zuschauer auch verstehen kann. Wir inszenieren zudem eine klare Bildsprache, die in ihrer Verknappung spartanisch und streng anmutet. Außerdem haben wir uns dafür entschieden, Bilder aus dem naturwissenschaftlichen Bereich zu verwenden. Das besorgt die Gruppe niedervolthoudini mit einer sehr einfachen Videotechnik: abfilmen, projizieren und dann verschneiden. Ich denke, das sind Ebenen, die jenseits des Textes liegen und trotzdem das Publikum ansprechen und etwas erzählen. Darüber hinaus entsteht eine gewaltige Energie, die durch den Männerchor und die Schauspielerin Sarah Sandeh, die heute abend wirklich getobt hat, entfacht wird und das Publikum mitreißt.

SB: Wie sind Sie zu dem Entschluß gekommen, die Rolle des Satans weiblich zu besetzen? Oder haben Sie zunächst Männer gecastet und waren mit ihnen unzufrieden?

JW: Nein. (lacht) Das ist eine konzeptionelle Entscheidung gewesen. Das hat damit zu tun, daß in der Bibelüberlieferung Eva, die Ursünderin, der erste Mensch ist, der aufbegehrt. Dem entnehmen wir erst einmal etwas Positives. In der westlichen Kulturgeschichte wurde dieser Umstand natürlich lange Zeit negativ ausgelegt. Der Frau wurde angehaftet, sich gegen die göttliche Ordnung aufgelehnt zu haben. Wir sagen, warum bzw. warum nicht? Und deswegen gibt es auch kulturgeschichtlich eine Gleichsetzung oder, vielleicht besser gesagt, eine Überlagerung von Satan und Eva, die beide sozusagen das Böse, das Diffuse, das Nicht-Einordnenbare, das, was wir nicht einfangen können, verkörpern. Aus diesem Grund wollten wir eine Frau als Teufel haben. Zusammen stellen Satan und Eva den Gegenpart zur göttlichen Ordnung bzw. zum männlichen Prinzip dar. Der Auftritt des Männerchors geht auch auf eine strukturelle Entscheidung zurück. Das sind Männer, die aufgrund ihres Alters und ihrer Lebensläufe für die 68er Revolution, für eine Generation im Nachdunst des Zweiten Weltkrieges, stehen.

Warnemünde hört der Frage gespannt zu - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Dieser Chor existierte bereits vor der Aufführung. Hat er vorher schon in anderen Stücken mitgewirkt?

JW: Es ist so, daß das Kommando Himmelfahrt vor einiger Zeit auf Kampnagel einen großen Chor, geschlechter- und alterstechnisch durchmischt, gegründet hat. Teilweise singen diese Männer in jenem Chor und teilweise haben wir unsere Fühler ausgestreckt und über Bekannte und Mundpropaganda weitere Teilnehmer für den Chor heute abend gesucht und gefunden.

SB: Also war das der eigentliche 68er-Männerchor, den wir bei "Paradise Lost" erleben dürften?

JW: Ganz genau.

SB: Dann hat der 68er-Chor an diesem Abend auch für das Prinzip des Aufbegehrens gestanden.

JW: So ist es.

SB: Wie sind die Körperbemalung im Schlußakt und die damit einhergehende Symbolik zu deuten? Ich fühlte mich in dem Moment an die Schlußszene im Vietnamkriegsfilm "Apocalypse Now" von Francis Ford Coppola erinnert, in der sich Martin Sheens Figur "Captain Willard" bemalt, bevor er das menschliche Monster "Kurtz", gespielt von Marlon Brando, mit einer Machete erschlägt. Man könnte dies sozusagen als eine Rückverwandlung zum primitiven Urmenschen verstehen - oder habe ich die Stelle falsch gedeutet?

JW: Ja, wenngleich das auch eine interessante Interpretation ist. Mit der Körperbemalung der Mitglieder des 68er-Männerchors wird ein Zeichen gesetzt, nämlich daß mit der Vertreibung aus dem Paradies der Tod in die Welt kommt und der Mensch sterblich wird. Eigentlich sind es Totenschädel und Gerippe, die dargestellt werden sollen. Das ist jedenfalls unsere Deutung. Allerdings entsteht dabei auch etwas Rituelles, wenn sich zehn Leute ihre Körper bemalen.

SB: Weiß, das hier benutzt wurde, ist in Teilen Asiens die Farbe des Todes und wird zum Beispiel bei Beerdigungen und Trauerfeier in China und Japan getragen.

JW: All diese Sachen spielen da mit hinein und bedienen eine Bildsprache, die hier in Hamburg mit einem westlichen Blick vielleicht nicht so gelesen wird, aber gelesen werden könnte. Bei dem Ritual, das durch die gemeinsame Körperbemalung entsteht, geht es auch um einen Kontrapunkt zur Vereinzelung. Gewöhnlich steht man dem Leben und dem Tod allein gegenüber. Die Kraft der Gemeinschaft verweist dagegen auf einen kleinen utopischen Ausblick. Dazu lautet die Botschaft: Kommt. Nie mehr weiche ich von der Seite euch, was euer Tagewerk auch immer ist. Macht weiter. Findet zusammen. Nehmt es an.

SB: Also, hört an der Stelle nicht auf.

JW: Genau. Hört nicht auf. Nehmt es an und macht den nächsten Schritt.

SB: Allgemein wird behauptet, daß wir in Europa inzwischen in einer post-christlichen Gesellschaft leben. Gleichwohl stößt der neue Papst Franziskus mit seiner offenen und direkten Art auf viel Zuspruch, nicht nur unter Christen, sondern auch unter Andersgläubigen und nicht religiösen Menschen. Was meinen Sie, wie das neue Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche diese Aufführung empfinden würde?

Warnemünde und SB-Redakteur lachen gemeinsam - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

JW: O Gott, das ist eine schwierige Frage.

SB: Die Frage ist deshalb zulässig, denn "Paradise Lost" ist ein zutiefst christliches, wenngleich im evangelischen Sinne anti-katholisches Werk. Glauben Sie, Papst Franziskus könnte sich in Ihrer Version von Miltons Bekenntnis zur Freiheit und zum freien Willen wiederfinden?

JW: Wir haben "Paradise Lost" anders gelesen, als Miltons Zeitgenossen es rezipiert hätten oder als der Dichter es vielleicht selbst intendierte. Davon gehen wir jedenfalls aus. Unsere Lesart ist natürlich eine grundpositive. Der Fremde, der sich über Grenzen hinwegsetzt, ist für uns eine positive Figur. Ob der heutige Papst mit der Gleichstellung von Gott und Satan als Gegenpole klar käme, wäre eigentlich die Frage danach, inwiefern Franziskus davon abstrahieren könnte. Hier geht es um divergierende Prinzipien. Jenseits dessen, ob ich an die Religion glaube oder nicht, geht es jedenfalls nicht darum, jemanden, der glaubt, zu beleidigen oder ihm seinen Glauben streitig machen zu wollen - absolut nicht. Es geht vor allen Dingen um die große Parabel, die man bei "Paradise Lost" findet und die heruntergebrochen werden kann auf die Aussage: Grenzen und Ordnungen sind von Menschenhand und können deshalb verändert werden.

SB: Nun gibt es die These, derzufolge Satan, ob nun willentlich oder unbewußt, im Sinne Gottes handelt, als er Adam und Eva verführt, um der Menschheit die Freiheit zu bringen, auf eine Weise zu Gott zu finden, die sie vorher nicht hatte.

JW: Das ist noch einmal eine andere theologische Umdeutung. Nach der Aufklärung brauchte es vieler Schleichwege, um wieder zu einer kohärenten Theologie zurückzufinden. Miltons Gedicht ließe sich natürlich auch auf diese Weise lesen, aber es ist nicht unsere Lesart. Beim Kommando Himmelfahrt geht es uns vor allen Dingen darum, aufzuzeigen, daß Ordnungen menschengemacht sind und deswegen in Frage gestellt und überwunden werden können.

SB. Das ist ein schönes Schlußwort. Julia Warnemünde, vielen Dank für das Interview.

Warnemünde und Dvorak Seite an Seite und gelöst nach der gelungenen Paradise-Lost-Inszenierung - Foto: © 2014 by Schattenblick

Julia Warnemünde und Jan Dvorak
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnote:

[1] Bericht über die Aufführung im Schattenblick unter:

http://www.schattenblick.de/infopool/theater/trpb0053.html

23. Juni 2014