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INTERVIEW/022: "Immer weiter" - Mitgefühl und bühnenreif ...     Christiane Richers im Gespräch (SB)


Interview mit der Autorin und Regisseurin Christiane Richers am 8. Februar 2015 nach der Uraufführung des Stücks "Immer weiter" für Kinder ab 8 Jahren im FUNDUS Theater Hamburg


Obdachlose Menschen in der reichen Hansestadt Hamburg - sie gehören zum Straßenbild, werden gesehen, beäugt, man geht ihnen aus dem Weg. Was bedeutet es, auf der Straße zu leben? Was für eine Geschichte gehört zu diesen Menschen? Warum sind sie auf der Straße gelandet? Viele Fragen.

Christiane Richers, die in den Bereichen Dramaturgie, Regie und Theaterpädagogik arbeitet [1], nahm sich der Thematik Obdachlosigkeit an und verarbeitete ihre Recherchen, Gespräche und Erfahrungen in einem Theaterstück für Kinder: "Immer weiter". Wie sich die Theaterarbeit mit Kindern und für Kinder gestaltet, war eine der Fragen, zu denen sich Frau Richers im Gespräch mit dem Schattenblick äußerte.


Portrait der Regisseurin Christiane Richers - Foto: © 2015 by Andreas Schwarz

Christiane Richers
Foto: © 2015 by Andreas Schwarz

Schattenblick (SB): Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Theaterstück über Obdachlosigkeit zu inszenieren?

Christiane Richers (CR): Ich fahre oft die Ost-West-Straße, jetzt Willy-Brandt-Straße, entlang. Dort ist häufig eine Frau mit mehreren Wagen unterwegs. Vielen Hamburgern ist diese Frau bekannt. Dieses Bild hat mich einfach so beschäftigt, daß ich irgendwann beschlossen habe, ich muß eine Geschichte dazu machen. Ich habe dann aufgeschrieben, wie ich mir das ungefähr vorstelle. Danach habe ich Anträge für eine Finanzierung des Projektes bei der Kulturbehörde und der hamburgischen Kulturstiftung gestellt. Da wir nicht fest bezahlt werden, müssen wir die Produktionsgelder immer irgendwie zusammenkriegen. Man fand das interessant und so hatte ich irgendwann das Geld zusammen.

Gesche Groth, die die obdachlose Frau spielt, und ich haben dann angefangen zu recherchieren. Dabei haben wir zuerst zu "Hinz & Kunzt" [2] Kontakt aufgenommen, wo wir mit einer Frau gesprochen haben und sind dann zur "Kemenate", einem Obdachlosentreff für Frauen hier in Hamburg, gegangen. Wir unterhielten uns mit zwei Mitarbeiterinnen, Simona und Marga [3], und erfuhren von ihnen viel über das Leben auf der Straße. Aufgrund dieser verschiedenen Gespräche entwickelte ich eine eigene Biographie für die Protagonistin in meinem Stück. Man muß ja einen Weg finden, wie man mit den Mitteln des Theaterspiels überhaupt so eine Geschichte erzählen kann.

SB: Das Theaterstück "Immer weiter" ist eine sehr komprimierte Zusammenfügung der wichtigsten Aspekte eines Lebens auf der Straße. Ist das Ihrer Meinung nach für Kinder ab 8 Jahren schon erfaßbar?

CR: Ich glaube nicht, daß es zu schwer ist.

SB: Die Kinder im Publikum schienen das Stück sehr aufmerksam zu verfolgen. Sind Ihnen bei Ihrer Recherche auch obdachlose Kinder begegnet?

CR: Nein. Frauen sind ja schon deutlich in der Minderheit, ich schätze mal, das sind höchstens 20 % der Obdachlosen, und obdachlose Kinder haben wir nicht gesehen.

SB: Es heißt, daß die Zahl der Obdachlosen in Deutschland zunimmt und auch immer jüngere Menschen auf der Straße leben, eben auch minderjährige Jugendliche.

CR: Genau, also so 17-, 18-jährige Jugendliche, die sind mir begegnet, aber nicht im Gespräch. Es gibt natürlich auch die Kinder, die aus anderen Ländern als Flüchtlinge hierher kommen und sich dann auf der Straße durchschlagen. Das gibt 's natürlich auch, aber das ist für mich schon wieder ein ganz anderes Thema. Man kann nicht alles in eine kleine Einstundengeschichte reinpacken.

SB: Bei den Proben zu diesem Stück hatten sie bereits mit den Kindern einen Austausch darüber, was sie verstehen oder nicht und einen Eindruck gewonnen, wie sie das Thema aufnehmen. Was war den Kindern bei der Problematik Obdachlosigkeit wichtig? Haben Sie diesbezüglich schon eine Resonanz erhalten?

CR: Sie interessiert das sehr. Das habe ich schon feststellen können. Ich habe ohnehin als Grundthese, daß man Kinder fordern und nicht nur bespaßen und auch nicht immer denken sollte, sie vor allem schützen zu müssen. Vielmehr glaube ich, daß Kinder sich sehr gerne mit tiefen Themen auseinandersetzen. Diese Erfahrung hatten wir jetzt bei den Proben. Die Kinder wollten lange mit uns sprechen und haben sich auch selber Gedanken gemacht. Das ist etwas, das mich sehr freut. Ich wünsche mir, daß die Kinder, die in die Aufführung "Immer weiter" gehen, dann vielleicht Wochen später in der Stadt eine obdachlose Frau sehen und sich plötzlich erinnern: Ach ja, dieser Mensch hat auch eine Geschichte. Das ist nicht nur irgendjemand, vor dem ich Scheu oder mit dem ich Mitleid haben muß, sondern das ist jemand wie du und ich, der nur bestimmte Sachen erlebt hat, die ihn dahin gebracht haben, auf der Straße zu leben.

SB: Die Wahrscheinlichkeit selbst obdachlos zu werden, ist leider für viele Menschen näher gerückt.

CR: Davor sind wir alle nicht geschützt.

SB: Als Sie die Erzählerin sehr intensiv und emotional berichten lassen, wie Maria es erlebt hat, als ihre Wohnung ausbrannte, verwenden Sie ein Bild, um die Situation von damals zu verdeutlichen: Als wenn ein Bus mit ohrenbetäubendem Lärm durch die Wohnung im 14. Stock rast, das Bett zerstört, den Schrank und dann im vollen Tempo wieder raus aus dem Balkonfenster ..., der zweite Bus kommt direkt vor meine Haustür, er ist ein Feuerwehrauto ..., der dritte Bus, der kommt direkt in meinen Kopf, macht Lärm und läßt für nichts anderes mehr Platz, er fährt direkt in mein Herz ... Nach der Aufführung wurde gerade diese hochdramatische Szene von mehreren Kindern besprochen.

CR: Ja, und so haben sie es eigentlich verstanden. Für mich ist auch wichtig, diese emotionalen Bilder zu finden. Sonst bräuchte ich das nicht als Theaterstück zu inszenieren. Wir schreiben ja kein Sachbuch, sondern wir erarbeiten eine Verdichtung, das ist Theater. Meiner Ansicht nach war es ein passendes Bild, einfach zu sagen, das ist, als wenn man dauernd von einem Bus überrollt wird.


Foto: © 2015 by Schattenblick

Christiane Richers mit SB-Redakteurin im Gespräch
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Sie sind Mitbegründerin des Hamburger mobilen "Theater am Strom". Finden die Aufführungen, so wie jetzt das Stück "Immer weiter", hauptsächlich im FUNDUS THEATER statt?

CR: Nein, hier finden immer unsere Premieren statt. Wir sind als "Theater am Strom" eine eigenständige freie Theatergruppe in Hamburg. Seit eineinhalb Jahren haben wir einen eigenen Probenraum in Wilhelmsburg in einem Bildungszentrum, in dem auch Schulen untergebracht sind. Dort haben wir für dieses Stück bereits mit den Kindern geprobt. Sie haben uns auch schon Rückmeldung gegeben, über das, was sie nicht verstanden oder wo sie noch Fragen haben. Wir arbeiten viel mit Schulen zusammen. Aber mit solchen Produktionen wie "Immer weiter" sind wir deutschlandweit unterwegs, mit etwas Glück geht 's sogar schon mal ins Ausland. Das ist ganz schön, zum Beispiel, wenn wir zu Festivals eingeladen werden.

SB: Seit ungefähr 20 Jahren schreiben und inszenieren Sie Theaterstücke - auch für die Bücherhallen Hamburgs ...

CR: Ja. Wir haben einen Kooperationsvertrag mit den Bücherhallen. Dort veranstalten wir szenische Lesungen.

SB: Wie sieht das aus?

CR: Das ist konzeptioniert für Kinder verschiedener Altersgruppen. Wir suchen in unserem Theater am Strom-Team ein Buch aus, das wir dann lesen und spielen. Das ist eine sehr spezielle Form geworden, die wir da entwickelt haben und wir machen das relativ viel. Im Jahr haben wir 62 Termine mit diesen szenischen Lesungen hier in Hamburg, flächendeckend sozusagen, in allen Bücherhallen.

SB: Das hört sich spannend an.

CR: Ja, das ist ganz toll. Ich sage auch immer, Kinder lieben Bücher. Ich verstehe gar nicht, warum die Leute sagen, die Kinder wollen nicht lesen, das ist Quatsch.

SB: Beteiligen sich die Kinder auch direkt an solchen Lesungen?

CR: Unterschiedlich. Es kommt darauf an, was wir spielen.

SB: Sie haben langjährige Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen, aber Sie haben auch Stücke für Erwachsene geschrieben. Ist die Resonanz bei Kindern stärker, sind sie leichter zu begeistern?

CR: Nein, nicht unbedingt, es muß sie interessieren. Sie sind weniger höflich, wenn es sie nicht interessiert, dann merkt man das deutlicher als bei Erwachsenen. Es ist von daher immer ein guter Gradmesser, denn wenn Kinder ganz aufmerksam dasitzen, ist das schon mal ganz gut. Es gibt auch Kinder, die steigen völlig aus und fangen an zu stören. Wenn es so läuft, dann hat aber oft das Theater irgendetwas falsch gemacht. Und von daher bin ich gerade ganz zufrieden.

SB: Suchen Sie im Team die Themen zu den Stücken im Theater am Strom aus?

CR: Nein, das mache ich allein. Mir fliegen die Themen irgendwie zu, ich kann mir das nicht aussuchen, das ist ein Teil meines Lebens. Plötzlich merke ich, da und dazu muß ich eigentlich als nächstes etwas entwickeln. Mich muß das so brennend interessieren, daß es mich nicht mehr losläßt, sonst macht es nicht viel Sinn. Das ist meine Haltung, und wenn 's mich interessiert, dann kann es doch auch andere interessieren.

SB: Haben Sie weitere Stücke in Planung?

CR: Ja, unser nächstes Stück befaßt sich mit der Geschichte der Sinti in Wilhelmsburg. Im April soll dann die Premiere sein. Dabei handelt es sich um ein ganz anders strukturiertes Projekt, mit viel mehr Leuten und mit Schulklassen. Das ist auch wieder ein Thema, das für mich wie eine Art Intensivfortbildung ist. Genauso wie die Gespräche mit Marga und Simona, durch die ich sehr viel gelernt habe. Bei diesem Thema geht es mir jetzt auch so. Die Geschichte der Sinti in Hamburg kannte ich vorher in dem Umfang nicht, und ich finde es schockierend, wie wenig Leute überhaupt irgendetwas über Sinti wissen. Das geht gar nicht.

SB: Frau Richers, vielen Dank für das Gespräch.


Tafel beschrieben mit den Worten 'Immer weiter' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick


Anmerkungen:


[1] Christiane Richers arbeitet in den Bereichen Dramaturgie, Regie und Theaterpädagogik und seit 1989 inszeniert sie Kinder- und Jugendtheaterproduktionen. Im Jahr 1998 übernahm sie den Vorsitz des KITZSZ e.V. (Zusammenschluß der freien Hamburger Kindertheater) und 2000 gründete sie das mobile "Theater am Strom".

[2] "Hinz und Kunzt" - Obdachlosenzeitschrift in Hamburg

[3] Mitarbeiterinnen der "Kemenate", ein Treffpunkt für obdachlose Frauen in Eimsbüttel, Hamburg


Einen Bericht über die Uraufführung und ein Interview mit der Schauspielerin Gesche Groth finden Sie unter
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BERICHT/058: "Immer weiter" - verstehen trotzdem ... (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpb0058.html

INTERVIEW/023: "Immer weiter" - Gesten, Raum und Empathie ...     Gesche Groth im Gespräch (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpi0023.html



5. März 2015


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