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INTERVIEW/033: Mexikospektive - Ein loser Tanz ...    Knut Klaßen im Gespräch (SB)


"Antiformalismo" - ein tänzerisches Potpourri um Mexiko-Stadt

Interview mit Knut Klaßen am 4. März 2017 in Hamburg


Der Formalismus in der Kunst hebt auf unmittelbar wahrnehmbare Aspekte wie Farbe, Komposition, Linien und Textur ab. Inhaltliche Elemente wie Entstehungsgeschichte, historischer Kontext oder Bezug zur Biographie des Künstlers gelten aus dieser ästhetischen Perspektive als nachrangig. Beim Anti-Formalismus liegt die Betonung anders herum. Folglich bestand das Stück "Anti-Formalismo - Ein Mexorzismus" des Künstlerduos Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen, eine am 1. März auf Kampnagel Premiere feiernde Auseinandersetzung mit der mehr als 20 Millionen Einwohner zählenden Mexiko-Stadt, aus persönlichen Anekdoten und Erzählungen der acht meist mexikanischen Performer. In einer Mischung aus Tanzelementen sowie Mono- und Dialogen wurden die Zuschauer in die Geschichte von Mexiko-Stadt eingeführt und mit interessanten, zum Teil skurrilen Eigenheiten der größten Metropole des spanischen Sprachraums konfrontiert.

Bei Aufenthalten in Mexiko hatten sich Gintersdorfer und Klaßen zuvor von den Tänzern und Schauspielern Dalel Bacre, Humberto Busto, Antonio Cerezo, Andrea Chirinos, Arturo Lugo, Carlos Martinez, Arantza Muñoz Montemayor, Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star zu den Plätzen in der Hauptstadt mitnehmen lassen, welche diese besonders schätzen oder anhand derer sie meinten, wichtige Entwicklungen nachzeichnen zu können. Gentrifizierung ist auch in Mexiko-Stadt ein großes Thema. Einige Stadtteile, weil auf der einen Seite arm und der anderen reich, werden inzwischen voneinander durch hohe Mauern getrennt. Hinzu kommt der schon länger bestehende Drang mexikanischer Politiker und Kapitalisten, sich durch extravagante Monumentalbauten verewigen zu lassen. Hierfür ist das vom Multimilliardär und NYT-Times-Miteigentümer Carlos Slim zu Ehren seiner verstorbenen Frau Soumaya errichtete Kunstmuseum - ein sechsstöckiger Metallbau mit einer silbernen Außenfassade in Form eines Ambosses - nur das jüngste Beispiel.


Tänzer stehen auseinander, sind alle mittels Fäden miteinander verbunden - Foto: © 2017 by Schattenblick

Familienfete im Chapultepec Park
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bei "Antiformalismo" erfuhr das Publikum unter anderem vom Brauch der Besucher des Chapultepec Parks, mit Fäden und Ballons ein bestimmtes Areal vorübergehend für sich, Freunde und Familie zu markieren, um dort ungestört eine Feier oder ähnliches abhalten zu können. Im selben Park findet sich der in der Mitte des 20. Jahrhunderts angelegte Cárcamo Brunnen mit einem ausgiebigen Mural von Diego Rivera, der es sich nicht nehmen ließ, in der abgebildeten Unterseewelt mit Fischen und anderen Meeresbewohnern auch eine Truppe um Fortschritt kämpfender Arbeiter unterzubringen. Zu dem Werk gehört auch die Fontäne von Tlaloc. Damals war beabsichtigt gewesen, daß die riesige Figur des auf dem Rücken liegenden Wasser- und Fruchtbarkeitsgottes der Azteken alle Menschen begrüßen sollten, die Mexiko-Stadt per Passagiermaschine besuchten. Leider kann der mächtige Tlaloc den Auftrag nicht mehr erfüllen. Wegen der vielen Hochhäuser von Mexiko-Stadt ist der Tiefflug über den Cárcamo Brunnen aus Sicherheitsgründen schon länger nicht gestattet.


Tänztruppe macht auf Gruppenpose - Foto: © 2017 by Schattenblick

Selfie-Manie
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die bei "Antiformalismo" verwendeten Musikstücke, darunter "Harlem Nocturne" in der Version des selbsternannten "King of Space Age Pop", Juan García Esquivel, "Chantaje" von Shakira, "Blue Monday" von New Order oder "Quiero Ser Santa" von Fangoria waren nicht nur vielschichtig, sie paßten exzellent zur jeweiligen Szene. Auch die tänzerische und schauspielerische Leistung der Performer war auf hohem Niveau. Während Mexikaner, mit denen der Schattenblick gesprochen hat, von der Aufführung begeistert waren, machte es die Schlichtheit der Gesamtpräsentation - nackte Bühne gänzlich ohne Hintergrundkulissen oder irgendwelche Dia-Einblendungen - den Nicht-Kennern von Mexiko-Stadt schwer bis unmöglich, einige der Witze und Intentionen der Künstler nachzuvollziehen.


Franck, krabbelnd, trägt Carlos auf seinem Rücken - Foto: © 2017 by Schattenblick

Zu Ehren der Madonna von Guadalupe...
Foto: © 2017 by Schattenblick

Erst nach einer Recherche kam der Schattenblick zum Beispiel überhaupt dahinter, daß die Szene, in der Franck Edmond Yao auf allen vieren über den Boden krabbelte und dabei einen auf dem Rücken liegenden Carlos Martinez trug, eine Anspielung auf den Brauch katholischer Pilger war, die auf gleiche Weise Mitte jeden Dezembers in Mexiko-Stadt eine Statue bzw. ein Gemälde von "Unsere Liebe Frau von Guadalupe" herumtragen. Möglicherweise gibt es demnächst anhand der von der Gruppe um Gintersdorfer und Klaßen gemachten Performance-Aufnahmen an den Originalschauplätzen in Mexiko-Stadt eine Fernsehversion von "Antiformalismo", bei der die Ideen der Künstler noch deutlicher zutage treten dürften. Darauf kann man sich jetzt bereits freuen.


Knut Klaßen im Porträt mit Bart und Brille - Foto: © 2017 by Schattenblick

Knut Klaßen nach der Vorstellung
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Klaßen, wie kamen Sie und Ihre Kollegin Monika Gintersdorfer auf die Idee, sich mit der Architektur und der Geschichte von Mexiko-Stadt tänzerisch auseinanderzusetzen?

Knut Klaßen (KK): Eingangs muß ich erklären, daß Monika und ich keine Choreographen sind. Ich komme aus der bildenden Kunst und sie vom Film und Theater. Die Stücke, die wir gemeinsam kreieren, sind mal Performances, mal Theaterstücke. Die Choreographien darin werden oft von unseren Performern ausgedacht. Das gilt auch für die Choreographie bei "Antiformalismo". Das heißt, wir greifen auf die Fähigkeiten und das Vermögen unserer Darsteller zurück. Mit der Architektur ist es so, wir wollten in Mexiko in die Stadt rausgehen und Orte besuchen, die im Leben der Performer, mit denen wir arbeiteten, eine Rolle spielen, die aber auch den Wandel der Stadt zeigen sowie mit Kulturproduktion zu tun haben.

SB: Das Ganze speist sich also aus den persönlichen Geschichten der jeweiligen Performer?

KK: So ist es.


Der fast nackte, vermummte Carlos stellt das berühmte Bild des Folteropfers Ali Shallal Al-Qaisi nach - Foto: © 2017 by Schattenblick

Abu Ghraib läßt grüßen...
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Bilden die Tänzer, die bei "Antiformalismo" auftreten, eine Truppe oder haben Sie und Frau Gintersdorfer sie zusammengestellt?

KK: Es lief so: Von Kampnagel haben wir das Angebot erhalten, ein Stück mit mexikanischen Performern und Tänzern zu erarbeiten. In dieser Angelegenheit flogen wir im Februar 2016 nach Mexiko-Stadt und haben dort einen größeren Workshop abgehalten. Daraus ist eine Gruppe Tänzer hervorgegangen, mit der wir das Stück "Antiformalismo" erarbeitet haben. Im Verlauf des Workshops sind sozusagen Wahlverwandtschaften entstanden, wo man einfach Lust hatte, weiter miteinander zusammenzuarbeiten. Mit diesen Leuten haben wir dann einen zweiten Workshop im vergangenen Dezember durchgeführt. Im Rahmen dessen sind wir alle zusammen in die Stadt rausgegangen und haben die verschiedenen Schauplätze und Orte besucht, die für die Tänzer und Schauspieler wichtig waren bzw. anhand derer man bestimmte Entwicklungen darstellen kann.

Recht schnell sind Monika und ich auf Mathias Goeritz, den 1915 in Danzig geborenen Architekten, Maler und Bildhauer, gestoßen, der 1949 nach Mexiko ausgewandert, 1953 nach Mexiko-Stadt gezogen ist und bis zu seinem Tod 1990 durch eine Reihe wichtiger, moderner Bauten und Skulpturen das Bild der Hochland-Metropole entscheidend mitgeprägt hat. Da ich mich schon länger für Architektur interessiere, wollte ich über Goeritz unbedingt mehr in Erfahrung bringen und habe die ganze Gruppe zu den verschiedenen Häusern geschleift, an deren Verwirklichung er beteiligt gewesen ist. Es stellte sich im Gespräch heraus, daß Andrea Chirinos als junge Tänzerin einmal für Goeritz getanzt hat, sozusagen vor Skulpturen von ihm. Die Fotos von der Begegnung hat sie uns gezeigt.

SB: Deswegen ist sie auch diejenige, die in dem Stück über ihn spricht.

KK: So ist es.

SB: Der Teil der Aufführung, in dem alle im Kreis laufen und Arantza Muñoz Montemayor aus dem Kreis bricht und die anderen vergeblich zu überholen versucht, sollte das zeigen, wie man allgemein als Student in ein Hamsterrad gerät oder ist das zu kurz gedacht?

KK: Sie sind auf der richtigen Spur. Auf dem Gelände der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, auch UNAM genannt, im Süden von Mexiko-Stadt, gibt es eine gigantische Skulptur namens Espacio Escultórico, bestehend aus 64 sehr großen Betonsteelen, die um eine Lavaformation herum einen Kreis mit einem Durchmesser von 120 Metern bilden. Dort haben wir auch gedreht. Anläßlich dessen hat Andrea Chirinos von einer Übung an ihrer Schule erzählt, bei der die Teilnehmer im Kreis laufen und die eine oder der andere versuchen mußte, einmal um den Kreis herumzurennen, dabei die anderen zu überholen und wieder an seinen ursprünglichen Platz zu gelangen. Weil die Schule stark physisch ausgerichtet war und das eigentlich ein Training bis zur Verausgabung war, hat es auch niemand geschafft, die anderen zu überrunden und seine Position in der Anfangsformation wieder einzunehmen. Formal bestand aber zwischen der Anekdote und dem kreisförmigen Skulpturenplatz mit den ganzen Säulen eine gewisse Ähnlichkeit, wodurch diese Szene entstanden ist.


Tänzer bilden einen Kreis, halten sich an den Händen und lehnen sich zurück - Foto: © 2017 by Schattenblick

Espacio Escultórico in menschlicher Form
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Die Anekdoten, die Franck Edmond Yao und Dalel Bacre erzählt haben, wie sie jeweils bei verschiedenen Anlässen engagiert wurden, um für den libyschen Revolutionsführer Muammar Gaddhafi respektive den mexikanischen Milliardär Carlos Slim zu tanzen, waren die erfunden oder entsprachen sie der Wirklichkeit?

KK: Das haben die beiden tatsächlich gemacht.

SB: Man kann also sagen, daß alle in der Aufführung geschilderten Geschichten echt waren, auch die von Carlos Martinez über seinen Lieblingsnachtklub und mit dem 80er-Jahre-High-Energy-Tanz?

KK: Klar. Der Klub trägt den Namen des Inhabers und Betreibers Patrick Miller und ist über Mexiko-Stadt hinaus berühmt. Deswegen meinte Carlos beim Workshop, daß wir alle eines Abends unbedingt zu Patrick Miller mußten.

SB: Was ist so besonders an dem Klub? Tanzen irgendwelche Profis die Schritte vor und alle anderen auf der Tanzfläche machen sie nach?

KK: Nein, es läuft anders. Auf der Tanzfläche gibt es mehrere Kreise, die von den regelmäßigen Klub-Besuchern gebildet und gleichzeitig bewacht werden, daß da keine Fremden oder Neulinge reinkommen. In dem jeweiligen Kreis dürfen immer nur zwei tanzen, und das auch nur eine gewisse Zeit. Entsprechend verausgaben sie sich dann auch total. Eigentlich besteht der jeweilige Kreis aus lauter Leuten, die tanzen wollen, aber die sogenannten Ambassadors bzw. die Ambassadorinnen lassen eben nur die Insider tanzen. Man muß sich dort über Jahre nach vorne reinarbeiten. Carlos ist mittlerweile Teil der Szene, die nachts bei Frank Miller tanzt.


Alle tanzen im Kreis mit Carlos in der Mitte - Foto: © 2017 by Schattenblick

Besuch im Tanzlokal Frank Miller
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Die eine Geschichte habe ich nicht ganz verstanden, als Franck Edmond Yao und Humberto Busto eine Kirche besucht haben. Weil bei Humberto zuvor eingebrochen worden war, hatte er eine starke Angstreaktion, als Sie da waren, daß Ihnen vielleicht etwas zustoßen könnte. Aber was war das mit den Steinen? Hat Humberto irgendwelche Figuren imaginiert?

KK: Wir waren im historischen Stadtkern und wollten uns dort eine kleine, alte Kirche anschauen, von der es hieß, es paßten nur zwanzig Leute hinein und die Besucher bestünden hauptsächlich aus Narcos und Prostituierten. Zuvor haben wir uns in einer anderen Kirche im selben Viertel getroffen. Dort fanden wir eine Wand voller Graffitis vor. Es kam sofort die Idee auf, die Kamera auszupacken, vor den Graffitis zu tanzen und alles aufzunehmen. Als wir gerade anfangen wollten zu drehen, hat Humberto mitbekommen, wie ein Mann, mit dem Blick auf uns gerichtet, telefonierte. Da gerade ein Monat zuvor bei Humberto in die Wohnung eingebrochen worden war, nahm er in dem Moment an, daß der Typ per Telefon irgendwelche Kumpane herbeirief, um uns Ortsfremde mit der teuren Videoausrüstung auszurauben. Als Franck dann später auf dem Markt Mercado de Sonora im selben Viertel eine Sonnenbrille kaufen wollte und einen größeren Schein rausgeholt hat, meinte Humberto sofort: 'Wir müssen hier weg. Es ist gefährlich.' Wir anderen haben dagegen die Situation gar nicht so wahrgenommen. Insgesamt war alles ein bißchen irreal, denn vielleicht war es gefährlich, vielleicht aber auch nicht. Wer weiß das schon?


Franck zeigt auf Humbertos Kopf, zieht dessen geistige Gesundheit in Zweifel - Foto: © 2017 by Schattenblick

Hört Humberto Stimmen?
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Bei der Geschichte, die Franck erzählt hat, wo er in einem Nachtklub als Schwarzer akzeptiert wurde, ging es darum, daß es ganz anders verlaufen wäre, wenn er ein mexikanischer Schwarzer gewesen wäre - war das der Punkt?

KK: Ganz genau. In dem Lokal wurde er wegen seiner französischen Sprache als Tanzattraktion aus Afrika gefeiert, während einheimische Schwarze in Mexiko von den eigenen Landsleuten nicht respektiert und kaum wahrgenommen werden.

SB: Kann man von dem Filmmaterial, das sie in Mexiko-Stadt produziert haben, auch schon Sequenzen davon bei Ihnen auf der Website anschauen?

KK: Nein. Es muß noch geschnitten werden. Eigentlich wollten wir einen Film hier auf Kampnagel präsentieren, aber seit wir zuletzt in Mexiko-Stadt waren, haben wir praktisch durchgearbeitet und eine Premiere nach der anderen gehabt. Irgendwann demnächst sollte aber der Film fertig sein.

SB: Dann könnte er vielleicht auf Arte zu sehen sein.

KK: Weiß ich nicht. Auf jeden Fall spielen wir mit der Idee, "Antiformalismo" anderweitig aufzuführen.

SB: Vielleicht sogar in Mexiko-Stadt selbst?

KK: Darüber werden wir vermutlich mit dem Goethe-Institut sprechen müssen.

SB: Ich bedanke mich, Herr Klaßen, für das Gespräch.


Künstler bilden mit beschrifteten Schwarz-Weiß-Tafeln eine Info-Mauer - Foto: © 2017 by Schattenblick

'Antiformalismo' - eine mexikanische Manifestation
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zum Kampnagel-Festival Kontext Mexiko im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → THEATER → REPORT:

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15. März 2017


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