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INTERVIEW/035: Mexikospektive - testen, warten und erleben ...    Edgar Pol-Toto im Gespräch (SB)


"¡Quédate!" - Der Mensch begegnet sich als Alien

Interview mit Edgar Pol-Toto am 5. März 2017 in Hamburg


Zerrieben zwischen Gestern und Heute und in der Zukunft verloren scheint die menschliche Spezies nirgends einen Referenzpunkt zu haben für etwas, das man Existenz nennen könnte. Der Wunsch, selbstbestimmt den hohen Anspruch von Verwirklichung zu erfüllen, aber dennoch in Kauf- und Konsumschleifen gefangen zu sein, gleicht wie ein Tag dem anderen. Wie Wellenschlag am Ufer wiederholt sich der Ablauf der Routinen. Gedanken kommen und vergehen zwischen undefinierbaren Polen, und was als wahr oder falsch gilt, wechselt mit den Mondphasen. Wenn dann doch mit dem eigentümlichen Pathos, frei und unkommandierbar zu sein, aus dem Dunkel der Nichtigkeiten Gewißheiten wie Sterne aufsteigen, entzaubern sie sich auf dem Felde der Wissenschaft zu neurologischen Trugschlüssen der Synapsen.

Für den Choreografen Edgar Pol-Toto und seinen Performancepartner Alonso Mendoza stellt die Evolution des Menschen einen Prozeß permanenter Selbstentfremdung dar, der sich in den modernen Gesellschaften vor allem als Unfähigkeit ausdrückt, dem Anderen über historisch gewachsene Gräben und verinnerlichte Interessenkonflikte hinweg zu begegnen. Allein mit sich und seinen Visionen, deren Dechiffrierung ebenso ins Leere läuft, wie die ins Symbolhafte sich verflüchtigende Kommunikation nur die Ohnmacht nährt, treibt der Mensch wie ein Astronaut im All durch singuläre Welten abstrakter Information.

Wo Masken und Mutationen, Diskurse der Bedeutungslosigkeit und die Verelendung der Empathie die Erinnerung an das menschliche Antlitz unbegehbar machen, stellt "¡Quédate!" ("¡Bleib!") - so der Titel der Tanzperformance - den Versuch dar, der Ausgeliefertheit ans Fremde zumindest die Perspektive gegenüberzustellen, daß der Mensch seine endgültige Form noch nicht gefunden hat. Unter den Klängen von "Life on Mars" von David Bowie beginnt eine Zeitreise durch die Wirrnisse beständigen Findens und Verlierens. Hochaufgelöste visuelle Effekte auf der Leinwand, wenn beispielsweise die klebrigen Fangtentakel des Sonnentaus sich um eine Fliege schließen, begleiten auf der Bühne eine Kakophonie aus verzerrten Stimmen, Fabriklärm und dem Hämmern einer hydraulischen Schmiedepresse, zu der sich die Tänzer in einem wilden Stakkato durch Zeit und Raum bewegen.

Edgar Pol-Toto spielt mit der Ästhetik des Schönen und Schauderhaften so gekonnt, daß dem Zuschauer tatsächlich die Ahnung einer identitären Entwurzelung beschleicht, die ihren Höhepunkt in einem Ritual der Zweisamkeit findet, in einer Sinnfrage, die nichts an Fragwürdigkeiten unentdeckt läßt. Wenn man glaubt, endlich entkommen zu sein aus diesem Sammelsurium des Surrealen, bleibt am Ende das klamme Gefühl, daß im Traum des Träumers selbst das Erwachen nur ein Requisit darstellt für das Hinübergleiten in die nächste Ebene der Entfremdung. Im Anschluß an die Aufführung beantwortete Edgar Pol-Toto dem Schattenblick einige Fragen.


Edgar Pol-Toto in Strampelanzug und Skimaske vor Videoleinwand, auf der ein Film mit Andy Warhol läuft - Foto: © 2017 by Schattenblick

Kontaktaufnahme gelungen?
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick: Wie sind Sie zum Avantgardekünstler geworden und welche Einflüsse haben Sie auf diesem Weg im besonderen geformt?

Edgar Pol-Toto: Zunächst einmal weiß ich gar nicht, ob ich ein Avantgardekünstler bin, aber wenn jemand großen Einfluß auf mich ausgeübt hat, dann gilt dies sicherlich für den spanischen Filmregisseur und Drehbuchautor Pedro Almodóvar. Darüber hinaus liebe ich die Arbeiten von Andy Warhol, weil er Dinge gemacht hat, die kein anderer hätte machen können. Ich schaue mir auch gerne und oft Filme an, ohne jetzt genau sagen zu können, was mein Lieblingsgenre ist. Ich denke, meine Hauptinspiration ist das Leben selbst, was mit mir passiert, was in meinem Umfeld, meiner Familie und Beziehung geschieht, wie sich mein Heimatland und die Welt insgesamt verändern. Ich bin davon überzeugt, daß alles, was einer Person zustößt, die Kunst macht, sich auch in der Kunst abbildet. Ich greife Dinge auf, die mir gefallen, und bringe sie zusammen, dann schaue ich, ob sie zusammen funktionieren. Inspiration heißt für mich, alles zu nehmen, was in der Welt existiert.

SB: Sie stellen in Ihrem Stück Masken oder Monster dar als Figurationen von gesellschaftlicher Gegenseitigkeit und Anonymität. Hat es in Ihrem Leben einmal ein Ereignis gegeben, wo Sie sich gesagt haben: Jetzt reicht es mir, jetzt stelle ich mich dagegen?

EPT: Natürlich hat es Ereignisse gegeben, die mein Leben total verändert haben in bezug auf den Ort, wo ich lebe, und die Menschen, die meine Freunde sind bzw. waren. Aber das waren Entscheidungen, die ich getroffen habe, weil ich sie treffen wollte. Es war nichts, was mir irgendwie aufgezwungen wurde. So gesehen habe ich nie Anlaß gehabt, mich zur Wehr zu setzen.


Viernes Roza und Edgar Pol-Toto, sich auf der Bühne gegenübersitzend, legen ihre Hände zusammen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Eine vorsichtige Annäherung
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Ihre Performance trägt den Titel "¡Quédate!" - "¡Bleib!" -, was man als Aufruf gegen die Flüchtigkeit und Unfaßbarkeit dessen, was man als Leben kennt, werten könnte. Bleiben bedeutet im dialektischen Sinn, etwas nicht zu wiederholen. Was bedeutet es für Sie?

EPT: Für mich ist Bleiben nichts, was gegen etwas gerichtet ist als eine Art statisches Moment, sondern eher etwas Fließendes, aber zugleich beziehe ich mich damit nicht auf eine physische Bewegung. Die Bedeutung von Quédate geht über den Raum hinaus. Ich spreche über Erinnerung in ihren Ausdrucksformen als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nun ist es so, daß die Konzepte von Erinnerung nicht für sich allein stehen können, sondern unterschiedliche Stadien durchlaufen - sie bleiben nicht, sie bewegen sich. Quédate beschreibt im Grunde, daß man an einem Ort bleiben und sich trotzdem bewegen kann. Als Appell formuliert, hieße es: Bleibe, wer du bist, auch wenn du dich all die Tage veränderst.

SB: Aber ist in einer Welt permanenter Selbstentfremdung Rückbesinnung überhaupt möglich?

EPT: Ich meine damit nicht so etwas wie Wurzeln. Darauf zurückzugehen, macht keinen Sinn, weil man die Wurzeln eigentlich nie verliert. Ich will es einmal anders sagen: Um weiter nach vorne zu kommen, muß man sich ein Stück zurückbewegen.

SB: Das wäre ein Konzept von Befreiung: Man kommt nur so weit nach vorne, wie man sich nach hinten von der Fessel befreit.

EPT: Ja, ich denke, das ist gut getroffen.

SB: Am Anfang der Performance sieht man eine Figur mit Fellumhang und Nashornmaske. Im Deutschen steht Nashorn für Dickfelligkeit und Unempfindsamkeit. Deckt sich diese Bedeutung von Nashorn auch mit der aus Ihrer Kultur?

EPT: Nein. Eigentlich ist die Nashornmaske eher zufällig in das Stück hineingekommen. Als ich mich dann doch dafür entschied, sie einzusetzen, fing ich zu recherchieren an und fand heraus, daß Nashorn als Totem für die Erinnerung steht. Ich glaube an Zufälle und Koinzidenzen. Wenn ich kreativ arbeite, habe ich das Gefühl, daß dieser Prozeß nur ein kurzes Leben hat, und daher will ich mich durch eine anfängliche Idee nicht einengen lassen, sondern den Prozeß eher fließen und mich auch von anderen Faktoren beeinflussen lassen. Dabei spielt Zufälliges eine große Rolle. Eigentlich hatte ich nach einer Einhornmaske gesucht, aber als ich die Nashornmaske sah, habe ich sofort gedacht, o mein Gott, die will ich. Es war so ein Moment der Magie, natürlich keine echte Magie, aber schon ein Moment des Verzaubertseins.


Edgar Pol-Toto sitzt mit Einhornmaske und Fellumhang auf einer Stufe - Foto: © 2017 by Schattenblick

Das Mensch-Tier-Wesen überlegt seine nächsten Schritte
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Die Figur mit dem offenen Gehirn, mit Reißzähnen und einer langen, aus dem Maul hängenden Zunge drückt Unersättlichkeit aus. Im Stück scheint es, als ob sie die Transformation zu einem neuen Menschentypus darstellt. Könnten Sie den Gedanken, der dahintersteckt, einmal ausführen?

EPT: Das war auch wieder so ein Zufall, daß diese Maske in das Stück hineingekommen ist. Mir hat gefallen, daß es irgendwie das Gegenteil von einem Tier darstellt. Dennoch ist es auch kein Mensch, wohl aber eine Kreatur mit menschlichen Attributen. Ich glaube, daß wir uns als Menschen zu so etwas entwickeln werden. Es ist offensichtlich, daß die Menschheit langsam verrückt wird. Wir wissen nicht mehr, wo die Reise hingeht. Wenn ich die menschliche Rasse betrachte, sehe ich sie als wahnsinnig gewordenes Biest. Daraus resultierte dann auch die Idee von der Maske als einem Alien. Allgemein nimmt man an, daß es solche Wesen geben könnte, aber niemand weiß, ob sie tatsächlich existieren. Das Gleiche könnte man aber auch in bezug auf den Menschen sagen. Angesichts der angehäuften zerstörerischen Potentiale wissen wir nicht, ob wir überhaupt eine Existenz beanspruchen können oder als vorübergehende Erscheinung ganz aus dem Gedächtnis der Welt getilgt werden.

SB: Sie haben Musikstücke von David Bowie verarbeitet. Ist das eine Hommage an den jüngst verstorbenen, in seinem Selbstverständnis androgynen Künstler?

EPT: Ich habe David Bowie immer verehrt und alle Sachen, die er gemacht hat, sehr geschätzt, auch wenn ich kein Riesenfan von ihm bin. Es klingt irgendwie verrückt, aber ich habe nur eine Platte von ihm. Natürlich kenne ich seine Karriere und weiß um seine Verdienste als Musiker, aber mehr noch als das ist er für mich ein Gott zeitloser Kultur.

SB: Wir bedanken uns, Herr Pol-Toto, für das Gespräch.


Interviewszene zu viert - Foto: © 2017 by Schattenblick

SB-Redakteur, Edgar Pol-Toto, Viernes Roza, Uta Lambertz
Foto: © 2017 by Schattenblick

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22. März 2017


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