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INTERVIEW/024: Feiern, streiten und vegan - Sozial offensiv ...    Hilal Sezgin im Gespräch (SB)


Kein Tier, auch nicht das menschliche, lebt allein

Interview auf dem Veganen Straßenfest in Hamburg am 13. September 2014



Die türkisch-deutsche Autorin und Journalistin Hilal Sezgin hat publizistisch für das Selbstbestimmungsrecht muslimischer Frauen gestritten und im "Manifest der Vielen" Position gegen die Ausgrenzungsideologie Thilo Sarrazins bezogen. Seit einiger Zeit setzt sich die mit 42 Schafen auf einem Gnadenhof in der Lüneburger Heide lebende Schriftstellerin für Tierrechte ein. In ihren vielbeachteten Büchern "Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen" und "Hilal Sezgins Tierleben. Von Schweinen und anderen Zeitgenossen" vermittelt sie Einblicke in einen Umgang mit nichtmenschlichen Tieren, die dazu geeignet sind, den tradierten Formen der Degradierung sogenannter Nutztiere zu bloßen Produktionsmitteln mit einer Achtsamkeit und Empfindsamkeit entgegenzutreten, die nicht ohne Folgen für die eigene Lebenspraxis bleibt. Nach ihrer Lesung auf dem Veganen Straßenfest beantwortete Hilal Sezgin dem Schattenblick einige Fragen zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Tierrechte und Veganismus.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Hilal Sezgin
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Sezgin, Sie sind Muslimin und Veganerin, das könnte man als eine Variante von Triple Oppression bezeichnen. Machen Sie aufgrund dessen Erfahrungen, die jemand, der diese Charakteristika nicht in sich vereinigt, vielleicht nicht machen würde?

Hilal Sezgin: Das ist eine komplexe Frage. Ja, ich mache teilweise schon Erfahrungen als Tierrechtlerin wie zum Beispiel durch immer wiederkehrende Fragen mit einem ablehnenden Unterton, die mich an die Zeit vor ein paar Jahren erinnern, als ich zu muslimischen Themen und vor allem gegen Islamfeindlichkeit unterwegs war. Damals schlug mir eine richtiggehende Gehässigkeit entgegen. Das ist jetzt nicht mehr ganz so dramatisch. Die Landwirte sind mir gegenüber als Tierrechtsaktivistin viel höflicher, als ich es als Muslimin je kennengelernt habe. Der Unterschied ist jetzt natürlich, daß ich es freiwillig mache. Als Muslimin und Frau kann ich nicht verhindern, ethnisch zugeordnet zu werden. Möglicherweise habe ich seitdem einiges hinzugelernt.

Aber ich glaube schon, daß man als Frau heute im Zeitungswesen einen schwierigeren Stand hat. In meinem Fall hat sich das Gott sei Dank dadurch gut gefügt, daß ich als Muslimin geschrieben habe und so auch feministische Themen vertreten konnte, was bei einer biodeutschen Frau gar nicht spektakulär gewesen wäre. Aber als Muslimin hatte das einen anderen Stellenwert. Mit den Tierrechten ist es ähnlich. Ich denke, weil die Kombination von Muslimin und Tierrechtlerin für die Leute doch schon ungewöhnlich ist, konnte ich Sachen veröffentlichen, die ich sonst nicht hätte schreiben können.

SB: Gibt es im Islam so etwas wie eine Ethik der Tierrechte?

HS: Die allermeisten Muslime würden sicherlich Nein sagen wie auch die Mehrheit der Christen oder Agnostiker, die keine Tierrechtler sind. Ich selbst stamme aus einer sehr gläubigen Familie. Wir sind Anfang der 80er Jahre allesamt Vegetarier geworden. So bin ich in einem Islam aufgewachsen, der sich zum Beispiel auf Passagen im Koran bezogen hat, wo geschrieben steht, daß Tiere eine unsterbliche Seele haben und nach ihrem Tod vor ihrem Herrn versammelt werden. Ich vertrete zwar eine säkulare Ethik, aber ich finde, daß sie mit dem Islam vollständig kompatibel ist. Man findet in der Tat im Koran und auch in den mündlichen Überlieferungen von Mohammed, den sogenannten Hadithen, vieles, was für einen ethischen Umgang mit Tieren spricht. Es gab auch im Islam immer wieder Vegetarier, aber nach meinem Kenntnisstand wurden sie nicht unter einem Oberbegriff zusammengefaßt oder als Strömung innerhalb des Islam explizit hervorgehoben.

SB: Im Rahmen der Debatte um den eigenen Lebensstil ist Veganismus fast zu einem Trendthema geworden. Auf der anderen Seite schreibt die Zeit unter dem Titel "Vegane Armee Fraktion" über militante Tierrechtler. Trifft es auch aus Ihrer Sicht als Autorin, die Lesereisen macht und in dem Thema zu Hause ist, zu, daß heute immer mehr Leute etwas mit dem Gedanken, Tiere nicht mehr zu töten und auszubeuten, anfangen können?

HS: Ich denke schon. In der Tat gibt es eine vielfältige Tierrechtsbewegung, die verschiedene Facetten aufweist, was erst einmal gar nicht schlecht ist. Es gibt Menschen, die zwar aus Lifestyle- oder gesundheitlichen Gründen zum Veganer werden, aber sich im Laufe der Zeit auch für die ethischen Argumente öffnen, die der Fleischesser oftmals verdrängen muß, weil sie seinen Eß- und Lebensgewohnheiten in die Quere kommen. Dennoch ist es wichtig, daß auch Leuten, die keine Tierrechtler oder Veganer sind, klar wird, daß die Frage, wie wir mit Tieren umgehen, immer auch eine ethische und politische Frage ist. Es ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr, Tiere zu essen.

Daß dies zu einer Frage unserer gesellschaftlichen und politischen Agenda geworden ist, stellt den wichtigsten Erfolg dar, den wir in den letzten Jahren geballter Öffentlichkeits- und Überzeugungsarbeit im kleinen wie im großen erreicht haben. Natürlich sind noch nicht alle davon überzeugt, und vielleicht werden sie es nie oder es dauert noch sehr lange. Aber jeder versteht es heute, wenn man die Frage stellt: Darf man Tiere überhaupt töten? Viele Leute beantworten die Frage mit Ja, aber es gibt auch viele, denen dabei ein bißchen unwohl ist. Und das, finde ich, ist ein unglaublicher Fortschritt.

SB: Auf beiden Seiten haben sich gewisse Empfindlichkeiten herausgebildet. So können sich Fleischesser von Veganern bedrängt fühlen, als wollte man ihnen ein Schuldbewußtsein einreden. Können Sie sich vorstellen, daß die Auseinandersetzung um das Thema eine noch schärfere Form annehmen wird?

HS: Man sollte nicht vergessen, daß wir die Werte vieler Menschen wirklich in Frage stellen. Wer sich mit der Problematik beschäftigt, ob wir Tiere weiterhin essen und vernutzen dürfen, wie wir es bisher gemacht haben, muß sich natürlich auch die Frage stellen: Habe ich die ganze Zeit über vielleicht etwas falsch gemacht? Das ist keine leichte Frage, denn es geht um etwas sehr Konkretes. Eine Bewegung, die Rechte von Leuten fordert, für die es unbequem wäre, diese Rechte anderen zu gewähren, stößt immer auf Gegenwehr und Widerwillen. Man sollte sich einmal vergegenwärtigen, welche Gehässigkeiten die Frauenrechtsbewegung ertragen mußte, als sie um das Wahlrecht der Frauen gekämpft hat. Was sie wollten, war für einen Teil der Gesellschaft unbequem. So ist es auch mit uns Veganern. Natürlich gibt es die Frage des strategischen Vorgehens, und natürlich sollten Veganer versuchen, in den Debatten und gesellschaftlichen Kämpfen freundlich und geduldig zu sein, aber man kann nicht immer beliebig freundlich sein. Es geht hier um das Wohl von Abermillionen Lebewesen. Das kann man nicht immer wegstecken und um des lieben Friedens willen stets hintanstellen.

SB: In Ländern mit einem geringeren Wohlstandsniveau als bei uns in Deutschland lassen sich Lebensstile nicht so ohne weiteres ändern, entweder aus Einkommensgründen oder weil vegane Alternativen nicht in dem Maße verfügbar sind. Wie ist es um die Möglichkeiten von Menschen auf anderen Kontinenten bestellt, unter weniger privilegierten Bedingungen vegan zu leben?

HS: Das muß man sich im Einzelfall anschauen. Beim Veganismus geht es darum, die Ethik des Tierverzehrs in den Industriestaaten anzugreifen. Und tatsächlich exportieren die industrialisierten Länder ihre Art der Tiernutzung in die Schwellenländer, sei es durch Handelsabkommen oder den Export von Know-how. Es ist nicht so, daß hier das Europäische und dort das Indigene steht, sondern die jetzige Politik versucht, die Massentierhaltung in anderen Ländern voranzutreiben. Dagegen sind wir. Das ist legitim und gerade auch für diese Länder wichtig, wo die Problematik des Wasserverbrauchs und der Klimabeeinträchtigung teilweise noch viel dramatischer ist. Die klimatischen Veränderungen sind bei uns in Europa noch gar nicht richtig angekommen, in Ländern wie China und vor allem Indien schon. Überhaupt wird immer gerne mit der Inuit-Frage argumentiert: Was sollen die Inuit machen, die nichts anderes als Fleisch essen können? Wir leben hier nicht unter Inuit und nehmen auch sonst in unserem Leben nie Rücksicht auf sie. Nur bei der Fleischfrage kommt man regelmäßig auf sie zu sprechen, aber dabei geht es doch darum, eine Ethik oder Politik in den Industrieländern, in denen wir leben, zu entwickeln.

SB: Tatsächlich ist Fleisch in Deutschland relativ billig, während Ersatzprodukte wie zum Beispiel Milch aus nichttierischem Quellen teurer ist als Kuhmilch. Können Sie sich vorstellen, daß sich irgendeine Partei einmal des Themas einer gesamtgesellschaftlichen Konversion annimmt?

HS: Das wäre natürlich toll, denn im Augenblick subventionieren wir die Tierhaltung in hohem Maße. Es gibt Preisvergünstigungen für Kuhmilch, für Pflanzenmilch aber nicht, wo andere Steuersätze greifen. Man könnte das sicherlich politisch anders regeln. Prinzipiell finde ich es wichtig, daß man Gelder politisch umschichtet von Subventionen für Betriebe hin zu den Preisen für die Endverbraucher.

SB: Die soziale Frage wird häufig aufgeworfen, wenn überlegt wird, wie sich ein Hartz-IV-Empfänger vollwertig auf veganer Basis ernähren kann, während eher wenig darüber geredet wird, daß seine Bezüge gerade einmal für billiges Essen vom Discounter reichen.

HS: Die Leute, die dieses Argument in Anspruch nehmen, sind meistens keine Hartz-4-Empfänger, sondern in der Regel bürgerliche Menschen, die selbst Fleisch essen und gut verdienen. Und dann fällt ihnen plötzlich ein, daß ein Hartz-4-Empfänger keine vegane Wurst essen kann. Entschuldigung, er fährt in Urlaub in Regionen der Welt, die ein Hartz-4-Empfänger nie im Leben zu sehen bekommen wird. Das Ganze ist schon ziemlich scheinheilig.

SB: Frau Sezgin, vielen Dank für das Gespräch.

Hilal Sezgin liest aus ihrem Buch 'Tierleben' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Geschichten vom Mensch-Tier-Verhältnis, die unter die Haut gehen
Foto: © 2014 by Schattenblick



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26. September 2014