Schattenblick → INFOPOOL → TIERE → REPORT


INTERVIEW/047: Tierversuchslabor - Menschen, Herrschaft und Natur ...    Sheila und Ernst im Gespräch (SB)


Sheila und Ernst sind seit langem in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung aktiv. Am Rande der Großdemo gegen das Tierversuchslabor LPT am 19. Oktober in Hamburg-Neugraben beantworteten sie dem Schattenblick einige Fragen zur Entwicklung und den politischen Positionen dieser sozialen Bewegung.


Transparent Für die Befreiung von Mensch, Tier, Natur - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Euch als AktivistInnen gefragt: Trifft mein Eindruck zu, daß die radikalökologische herrschaftskritische Tierbefreiungsbewegung heute ziemlich unsichtbar geworden ist?

Ernst: Sie war hier in diesem Rahmen nicht präsent, das hat verschiedene Gründe. Erst einmal ist es so, daß bei LPT an Hunden und Katzen getestet wird, was vielen Menschen halt näher geht. Dann handelte es sich um einen Single Issue-Aufruf, in dem es ausschließlich um die Tiere im LPT ging und keine weiter reichenden Forderungen gestellt oder Ansprüche erhoben wurden.

SB: Wo sind Tierbefreiungs- und TierrechtsaktivistInnen aus deiner Sicht heute aktiv?

Ernst: Es gibt die neue Klimagerechtigkeitsbewegung, an der auf jeden Fall viele Leute und AktivistInnen aus dieser Bewegung teilhaben, in der aber auch viele neue GenossInnen dabei sind, die noch kein kritisches Verständnis zu der Naturfrage und der Befreiung aus diesem Herrschaftssystem entwickelt haben. Da ist auf jeden Fall noch Bildungsarbeit zu leisten, denke ich mir. Bis vor einigen Jahren gab es noch diverse Diskurse in der Tierbefreiungsbewegung, bei denen es zum Beispiel um Intersektionalität ging oder darüber diskutiert wurde, ob Vergleiche mit dem Holocaust oder Vergewaltigungen et cetera akzeptabel sind. Die Ergebnisse sind, denke ich, bekannt. Aber anscheinend gibt es, was die heutige Klimabewegung anbelangt, eine Wissenlücke. Die gilt es aufzuholen. Es ist eine neue Generation, die über einen anderen Schwerpunkt aktiv geworden ist.

SB: Engagieren sich einige der älteren AktivistInnen heute in Tierrechts-NGOs wie ARIWA oder SOKO Tierschutz?

Ernst: Ich denke, das ist auch ein Teil der Bewegung. In ihren Ursprüngen gab es noch nicht die klassischen anarchistischen TierbefreierInnen, die unabhängig von Organisationen handeln. Was Massenwirksamkeit anbelangt, haben diese Organisationen natürlich einen größeren Einfluß. Und in ihnen sind auch Leute aktiv, die herrschaftskritisch eingestellt sind. Es ist irgendwo ein Teil davon, aber gerade NGOs haben ein gewisses Außenbild zu repräsentieren und haben sich an diverse Vorschriften, Gesetze und Normen zu halten, um arbeiten zu können.

SB: Heute geht es um Tierversuche, die häufig in der medizinischen Forschung stattfinden. Inwiefern könnte es auch um eine grundsätzliche Wissenschafts- oder Medizinkritik gehen, wenn man die Dominanz dieser Wissenschaften betrachtet, zumal längst nicht alle Krankheiten verschwunden sind, sondern errungene Fortschritte sogar wieder in Frage gestellt werden?

Ernst: So würde ich das nicht sehen. Ich habe da auch eine andere Einstellung. Es ist mit meinem Gewissen, meiner Ethik schwer zu vereinbaren, dies zu kritisieren, wenn es Medikamente gibt, die den Menschen dabei helfen, Schmerzen zu ertragen, dabei helfen, Tumore zu besiegen oder eine HIV-Infektion nicht zu Aids werden zu lassen, denn das sind für die betroffenen Leute große Errungenschaften, die ihnen ein Leben ermöglichen. Wie jede Industrie innerhalb dieses Systems ist die Medizin darauf angewiesen, Profite zu generieren, und da macht sie natürlich keine Ausnahme. Innerhalb einer befreiten Gesellschaft sollte es auch Medizin geben, um Krankheiten zu bekämpfen und zu lindern. Eine Tierindustrie braucht es nicht mehr, eine Militärindustrie ebenfalls nicht, aber Medikamente sind mitunter lebensnotwendig.

SB: Ich meine auch die soziale Frage in der Medizin. Viele Leute können sich keine Aidsmedikamente leisten, in vielen Ländern des Südens gibt es nicht einmal für alle Menschen medizinische Basisversorgung, während hierzulande auch teure medizinische Verfahren relativ gut verfügbar sind. Da gibt eine starke Diskrepanz der Lebenschancen.

Ernst: Das ist richtig, und die Gesundheitsfrage ist wie viele andere Fragen halt auch eine Frage von Klasse und zugeordneter Ethnizität. Das ist stark abhängig davon, unter welchen Bedingungen Menschen leben. Es geht ja nicht nur um Medizin, es geht ums blanke Überleben, um vernünftige Arbeitsbedingungen, tatsächlich um das tägliche Brot.

SB: Der Veganismus scheint heute zum Teil davon abgekoppelt zu sein, ihn aus der grundsätzlichen Erwägung zu praktizieren, keine Tiere zu schädigen. Häufig findet er aus Gründen der Gesundheit oder des Klimaschutzes statt, was ja auch ein Zweck ist, der nichts direkt mit dem Anspruch der Tiere auf Leben zu tun hat. Wie seht ihr das?

Ernst: Die Crux ist eben der Konsum. Die Lebensmittelindustrie eröffnet mit einem veganen Produkt dem zum Konsumenten gemachten Menschen ein ethisch vertretbares Produkt. Es wird suggeriert, daß damit die Umwelt und individuelles Leben gerettet werden können. Es wird ein besseres Gefühl verkauft, doch im Endeffekt ist es nur Akkumulationsfläche. Und sobald es konsumierbar ist, wird es auch darauf reduziert. So wie die Ausrichtung der Fleischindustrie momentan ist, bringt der individuelle Verzicht tatsächlich wenig, weil sie halt vermehrt auf Export setzt und neue Märkte wie im Bereich Veggie erschließt.

Sheila: Das geht damit einher, daß die linksradikale herrschaftskritische Szene heute nicht so präsent war. Bei jüngeren Leuten merke ich auch, das Sexismuskritik nicht so präsent ist, wie es sein sollte, wenn man wirklich einen herrschaftskritischen Anspruch hat oder hätte.

SB: Wie ausgeprägt ist deiner Erfahrung nach die Lernfähigkeit der Fridays For Future-Bewegung im Sinne der Kritik an Herrschaft und Kapitalismus?

Sheila: Ich glaube, da ist auf jeden Fall Potential. Was halt cool ist, daß sie in kurzer Zeit sehr viel schaffen. Dazu gehört aber auch, daß nicht so viele Grundsatzdiskussionen geführt werden, sondern es eben sehr aktionistisch zugeht. Dabei steht die inhaltliche Arbeit noch relativ am Anfang. Das habe ich auch gemerkt, als sich in Kiel die Fridays For Future-Gruppe aufgrund der Antifa-Frage gespalten hat. Nach einem Angriff von Faschisten auf das Klimacamp hat sich die Antifa mit Fridays For Future solidarisiert, was ein Teil der Fridays For Future-Gruppe abgelehnt hat, weil sie mit der Antifa nichts zu tun haben wollte.

Ernst: Mir ist wichtig festzuhalten, daß die Kernfrage die gleiche ist, weil die Natur, die innere wie die äußere, durch Herrschaft geprägt ist und durch Herrschaft zerstört wird. Sie ist unsere Lebensgrundlage, aber es gibt kein wirklich ausgeprägtes Naturverständnis mit dem Ziel, die Natur vom Joch der Herrschaft zu befreien.

Sheila: Natur ist halt immer das andere, was vom Menschen beschützt werden muß.

SB: Insbesondere in den USA wird Kritik daran geübt, daß weibliche Tiere besonders von Ausbeutung betroffen sind, weil es sich bei Eiern und Milch um Produkte der geschlechtlichen Reproduktion handelt, die zum Beispiel Kühen zusätzlich zu ihren Kälbern weggenommen werden. Ist die Frage der Geschlechterdominanz im Rahmen der Tierausbeutung für dich überhaupt relevant?

Sheila: Es geht für mich immer um das subjektive Leiden von Tieren, und da ist es unerheblich, ob das Tier weiblich oder männlich ist. Gequält, getötet werden sie alle. Vielleicht ist die Dauer des Leidens unterschiedlich. Wenn Milchkühe zum Beispiel vier Jahre lang jedes Jahr geschwängert werden und ihnen dann Milch abgepumpt wird, während vor allem die männlichen Kälber, die nicht für die Milchzucht taugen, relativ schnell geschlachtet werden, dann kann man das schon so sehen. Aber ich bin nicht gerade ein Fan davon, wenn Geschlecht in diesem Zusammenhang eine ganz große Rolle spielt.

SB: Fleischkonsum wird häufig männlich konnotiert.

Sheila: Das ist schon eher von Bedeutung.

Ernst: Die Konstante ist dabei, daß Individuen auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduziert und auf eine möglichst hohe Gebärfrequenz zugerichtet werden. Ich sehe das so, daß Sexismus eine ganz eigene Unterdrückungshistorie hat, die auch Schnittmengen aufweist, wenn Tiere und Frauen zu Fleisch gemacht werden. Aber die individuelle Erfahrung ist halt nicht miteinander vergleichbar.

SB: Ernst und Sheila, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:


[1] http://www.schattenblick.de/infopool/tiere/report/trbe0017.html


30. Oktober 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang