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TIERVERSUCH/463: Die ethische Prüfung von Tierversuchen (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 1/2010

Menschen, Tiere, Emotionen - Die ethische Prüfung von Tierversuchen

Von Dagmar Borchers


Ob und wann Versuche an Tieren ethisch zulässig sind, ist sowohl in der Öffentlichkeit als auch unter Ethikern äußerst umstritten. Die Debatte um ihre Zulässigkeit wird in beiden Bereichen intensiv geführt und ist zuweilen mit großen Emotionen verbunden. Philosophen der Universität Bremen haben sich der Diskussion angenommen und zeigen Kriterien und Grenzen ethisch vertretbarer Tierversuche auf (*).

Obwohl die moralischen Probleme von fast allen Menschen anerkannt werden, möchten doch nur wenige auf Tierversuche gänzlich verzichten. Tierversuche gelten in weiten Bevölkerungskreisen als notwendiges Übel. Daher müssen Kriterien entwickelt werden, anhand derer man ethisch zulässige von ethisch unzulässigen Tierversuchen abgrenzen kann. Das Tierschutzgesetz ist bemüht, dem Konflikt zwischen potentiellem Nutzen von Tierversuchen und dem damit verbundenen Leid der Tiere Rechnung zu tragen. Es erlaubt Tierversuche nur, soweit sie dazu dienen, medizinisch-biologischer Fragen zu klären, Umweltgefahren zu erkennen, die gesundheitliche Unbedenklichkeit von Substanzen oder die Wirksamkeit von Pestiziden zu prüfen, oder zur Grundlagenforschung beitragen. Versuche an Wirbeltieren sind im Regelfall genehmigungspflichtig.

Entsprechende Anträge auf Tierversuche durchlaufen ein komplexes Genehmigungsverfahren, in dem die zuständigen Behörden von Tierversuchskommissionen (gelegentlich auch als Ethikkommissionen bezeichnet) beraten werden. Die Antragsteller müssen die "Unerlässlichkeit" ihrer Versuche und aller damit verbundenen Schmerzen und Leiden für die Tiere wissenschaftlich begründen. Von der Tierversuchskommission wird der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde gelegt und geprüft, ob der verfolgte Zweck nicht auch durch andere Methoden erreicht werden kann. Genehmigungsfähig sind nur solche Belastungen, auf die zum Erreichen des jeweiligen Zweckes nicht verzichtet werden kann.


Das Tierschutzgesetz als Teil des Problems

Die Praxis der ethischen Prüfung von Tierversuchen ist von diversen Schwierigkeiten geprägt. Das Tierschutzgesetz selbst ist begrifflich vage. Es fordert in §1: "Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen." Und in §7 Absatz 3 heißt es: "Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Versuche an Wirbeltieren, die zu länger anhaltenden Schmerzen oder Leid führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden." Tierversuche müssen unerlässlich sein. So liefert das Gesetz zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe, die bei jedem Tierversuchsantrag einer Interpretation bedürfen. Die Diskussionen darüber werden in ethischer Hinsicht hochkontrovers geführt.


Tierschutz versus Forschungsfreiheit

Die Aufnahme des Tierschutzes unter die Staatsziele der Bundesrepublik Deutschland hat 2002 den normativen Klärungsbedarf noch einmal erhöht. Seitdem können Tierversuche wegen fehlender Unerlässlichkeit oder ethischer Nichtvertretbarkeit abgelehnt werden, obwohl die Forschungsfreiheit ein Grundrecht ist. Durch die Grundgesetzänderung sind nun eine Reihe zusätzlicher ethisch-normativer Konflikte vorprogrammiert, die ihrerseits massiven moralphilosophischen Reflexions- und Klärungsbedarf hervorrufen. Neben dem generellen Konflikt zwischen Tierschutz und Forschungsfreiheit haben die zuständigen Behörden sich mit hochkomplexen Kosten-Nutzen-Abwägungen zu befassen.

Vor diesem Hintergrund ist die ethische Prüfung für alle mit ihr konfrontierten Personen und Institutionen eine Herausforderung. Weder besteht Einigkeit über ein Klassifikationsschema für Belastungen der Tiere, noch hat sich bisher ein wirklich überzeugender Weg aufgetan, um den (prospektiven) Nutzen eines geplanten Tierversuchs systematisch und transparent erfassen zu können. Und auch für die eigentliche Abwägung, welches Maß an Nutzen welche Belastungen ethisch rechtfertigt, sind keinerlei Kriterien verfügbar, die allgemein anerkannt wären. Offensichtlich sind hier unübersichtliche Faktenfragen mit kontrovers diskutierten normativen Fragen auf das engste verknüpft.

Diskussion auf hohem theoretischen Niveau

Man kann nun vermuten, dass die moralphilosophische Diskussion über Kriterien ethischer Vertretbarkeit einen reichen Fundus bereitstellen würde, der die Entscheidung wesentlich erleichtere. Leider ist die Sachlage nicht so einfach. Aus Sicht der Ethik stehen hier komplexe Abwägungsfragen an, die nicht pauschal, sondern nur bezogen auf den Einzelfall, bei genauer Analyse der jeweiligen Details, bearbeitet werden können.

Um Fragen dieser Art konstruktiv lösen zu können, haben Tierethiker ein breites Spektrum einschlägiger Theorien entwickelt, hinter denen wiederum ganz unterschiedliche Konzeptionen moralischen Handelns und divergierende Ansichten über die Funktion von Moral überhaupt stehen. Die Resultate der tierethischen Forschung sind in einer Vielzahl von Positionen auf hohem theoretischen Niveau dokumentiert, in denen die ethische Zulässigkeit von Tierversuchen, etwa in der Grundlagenforschung, sehr unterschiedlich beurteilt wird.


Kriterienkatalog nicht in Sicht

Die moralphilosophische Diskussion ist dabei wesentlich von dem Interesse an einer konsistenten und überzeugenden Moralbegründung und weniger an leicht handhabbaren Kriterien für die Anwendung interessiert. Das Interesse der Genehmigungsbehörden und ihrer Kommissionen hingegen richtet sich primär auf verständliche, präzise und umsetzbare Kriterien. Diese unterschiedliche Interessenlage ist mitverantwortlich dafür, dass ein fruchtbarer Austausch zwischen Theoretikern und Praktikern nicht ganz einfach ist und seine Intensivierung wünschenswert bleibt.

Die Präzisierung der Kriterien für die ethische Vertretbarkeit von Tierversuchen ist also nicht trivial und wirft eine Vielzahl von methodischen und inhaltlichen Problemen auf. Solange ein ausnahmsloses Tierversuchsverbot nicht mehrheitlich gewünscht wird, stellt die Differenzierung zwischen ethisch nicht vertretbaren und prima facie als rechtfertigungsfähig eingeschätzten Versuchsvorhaben auch weiterhin eine Herausforderung für die Ethik dar.

(*) Dagmar Borchers und Jörg Luy (Hrsg.) 2009. Der ethisch vertretbare Tierversuch.
309 S. 29,80 Euro. ISBN 978-3-89785-668-4


Dagmar Borchers studierte Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft in München, Hamburg und Bremen, bevor sie mehrere Jahre als Regie- und Dramaturgieassistentin am Theater arbeitete. Seit 2004 ist sie Professorin für Angewandte Philosophie in Bremen, wo sie insbesondere in den Bereichen Ethik, Angewandte Ethik und Politische Philosophie arbeitet.


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 1/2010, Seite 20 - 21
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2010