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GEFAHR/008: Brandsatz Fukushima - Die alte Lüge und das Meer ... (SB)


Cäsium in der Tiefsee

Radioaktive Sedimente aus dem Vorfeld des havarierten Akw Fukushima Daiichi werden viel weiter hinaus ins Meer verlagert als vermutet

Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Die oberirdischen Kernwaffenversuche wurden 1963 weitgehend eingestellt [1], weil die Verstrahlung der Umwelt ein Ausmaß angenommen hatte, dem sich auch die Verantwortlichen der Tests nicht mehr entziehen konnten. Dennoch werden Menschen seitdem durch die sogenannte zivile Atomenergie laufend weiter verstrahlt, nur daß die damit verbundenen physischen Schädigungen von den Regierungen als akzeptabel bewertet werden. Die Explosion des Akw Tschernobyl 1986 in der Ukraine und die Havarie des japanischen Akw Fukushima Daiichi durch ein Erdbeben und einen Tsunami am 11. März 2011 mit anschließender Kernschmelze in drei Reaktoren in den Tagen darauf haben in den beiden Regionen zu einem extrem starken und rund um den Erdball zu einem meßbaren Anstieg der Strahlung geführt. Auch in Deutschland.

Entgegen den Verlautbarungen der japanischen Regierung kann die Fukushima-Katastrophe noch lange nicht der Geschichte überantwortet werden, sondern sie wird das Leben der Menschen in zukünftigen Generationen nachhaltig beeinträchtigen - mitunter ohne deren Wissen. Wenn sogar die signifikante(!) Erhöhung von Schilddrüsenknoten bei Schulkindern in der Präfektur Fukushima (oder Krebs bei Kleinkindern in der Nähe deutscher Kernkraftwerke!) [2] "wegerklärt" werden kann, indem ein Mangel an wissenschaftlichen Beweisen für die Verbindung zwischen Radioaktivität und Schädigung behauptet wird, so wird es um so schwieriger, wenn nicht gar unmöglich sein, das Auftreten von Krebs und anderen Krankheiten außerhalb der offiziellen Gebiete mit erhöhter Strahlung auf die Fukushima-Katastrophe zurückzuführen. Und doch wird es zu solchen Schädigungen kommen. Dazu bräuchte es nicht einmal der zukünftigen Einleitungen Tausender Tonnen an verstrahltem Grundwasser pro Woche, das seit der Havarie am 11. März 2011 unter dem Akw Fukushima Daiichi entlangfließt, dort radioaktiv befrachtet wird und schließlich durch den Meeresboden in den Pazifik dringt.

Was bereits bis zum heutigen Tag an Radionukliden freigesetzt wurde, ist selbst dann nicht "aus der Welt", wenn es sich am Meeresboden abgelegt hat. Stürme, insbesondere die in Ostjapan häufig auftretenden Taifune, wirbeln die kontaminierten Sedimente vor der Küste auf, so daß die Partikel über Meeresströmungen weit in den Pazifik hinausgetragen werden. Der US-Wissenschaftler Ken Buesseler von der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) und seine Kollegen haben im Rahmen ihrer Forschungen zur Ausbreitung der Radioaktivität von Fukushima unter anderem zwei Sedimentfallen in 115 Kilometern Entfernung von der japanischen Küste und damit noch jenseits des japanischen Kontinentalhangs in einer Meerestiefe von 500 und 1000 Metern aufgestellt und darin radioaktives Cäsium registriert. Das stammt nach Einschätzung der Forscher aus einem Radioaktivitätsreservoir vor der Küste, aus dem heraus Stürme immer wieder Sedimente verfrachten. Das erkläre auch die fortgesetzte Strahlenbelastung von Fischen, berichtete Buesseler. [3]

Während das Isotop Cäsium-134 eine Halbwertszeit von zwei Jahren hat und inzwischen schon stark abgebaut ist, weist Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren eine deutlich längere Beständigkeit auf. Es könnte noch in Jahrzehnten in Umlauf geraten und seine schädigende Wirkung entfalten, beispielsweise wenn es über Speisefisch aufgenommen wird. Aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Kalium wird es leicht vom Organismus aufgenommen und im Muskelgewebe gespeichert. Es verbleibt im Durchschnitt 110 Tage im Körper (biologische Halbwertszeit). In dieser Zeit gibt es Strahlung ab, die Zellveränderungen bewirken und Krebs auslösen kann.

Die Konzentration der radioaktiven Partikel aus Fukushima, die seit dem vergangenen Jahr im Meer an der nordamerikanischen Westküste gemessen werden, liegt weit unterhalb der als zulässig geltenden Grenzwerte der Strahlenbelastung. Doch selbst so geringe Mengen können akkumulieren und sind stets zu allen anderen Strahlenexpositionen hinzuzurechnen.

Der Bevölkerung wird suggeriert, sie sei bei einer Strahlenbelastung unterhalb der festgelegten Grenzwerte vor einer Schädigung durch Radioaktivität geschützt. Das ist ein gravierender Irrtum. Durch jede Strahlungbelastung, ob durch die Röntgenaufnahme im Krankenhaus, den Langzeitflug in 10.000 Metern Höhe über dem Atlantik, den bei einem Waldbrand erneut in Umlauf gebrachten Tschernobyl-Fallout oder eben die Emissionen aus dem zerstörten Akw Fukushima Daiichi, vermehrt sich das Risiko einer gesundheitlichen Schädigung.

Grenzwerte sind keine absolute Schutzgrenze. Ein Mensch, der einer Strahlenquelle weit unterhalb der zulässigen Grenzwerte ausgesetzt wurde, kann schon aufgrund der geringen Radioaktivität an Krebs erkranken und sterben. Das sei aber unwahrscheinlich, würden die Befürworter der Atomenergie einwenden. Sie haben recht, das wäre statistisch unwahrscheinlich. Genau darum geht es. Grenzwerte sind eine statistische Größe, die besagt: Es ist akzeptabel, daß eine bestimmte Anzahl von Personen verstrahlt wird, an Krebs erkrankt und stirbt.

Da vermag es nicht zu beruhigen, wenn zwar von wissenschaftlicher Seite die Strahlengefahr anerkannt wird, aber eine Ursachenbestimmung schwerfällt. So schreibt die Website SciLog:

"Zwar gibt es nach heutigem wissenschaftlichem Kenntnisstand keine untere Grenze, ab der Radioaktivität gänzlich ungefährlich ist. Aber der Schadenseffekt ist so gering, dass er von bloßem Zufall und anderen Faktoren praktisch nicht zu unterscheiden ist." [4]

Der Gesetzgeber, der die Grenzwerte festlegt, weiß, daß in Deutschland jedes Jahr Dutzende, wenn nicht Hunderte Menschen durch Atomkraftwerke und andere künstliche Quellen der Radioaktivität verstrahlt werden, er weiß lediglich nicht, wen es erwischt. Aber jeder dieser Menschen hat ein Gesicht, trägt einen Namen und will eines ganz sicher nicht: an Krebs erkranken. Und doch geschieht dies, weil der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen hat.

Ja, es stimmt, es gibt auch eine natürliche Strahlenbelastung, aufgrund derer Menschen erkranken oder im schlimmsten Fall gar ihr Leben verlieren. Aber soll das ernsthaft ein Grund sein, deshalb die Zahl der Todesfälle durch die Freisetzung menschenverursachter radioaktiver Emissionen zu erhöhen, nur weil Mediziner nicht zuverlässig bestimmen können, wodurch bei einer Person der Krebs ausgelöst wurde?

Vor diesem Hintergrund muß davon ausgegangen werden, daß jede weitere radioaktive Kontamination von Luft, Boden und Wasser durch die Fukushima-Katastrophe das Risiko einer ernstzunehmenden Verstrahlung von Menschen erhöht. Dazu tragen dann auch vermeintliche kleinere Ereignisse bei, über die im Zusammenhang mit der Akw-Havarie regelmäßig berichtet wird, bzw. über die zunehmend weniger berichtet wird, weil sie wohl als zu unbedeutend angesehen werden.

Nach weiträumigen Überschwemmungen waren im September dieses Jahres Hunderte jener Plastiksäcke, in denen verstrahltes Erdreich, Pflanzen- und sonstiges Material im ganzen Land verteilt gelagert wird, in einen Fluß gespült worden. Nach Angaben des japanischen Umweltministeriums wurden allein in dem Ort Iitate 439 Plastiksäcke lokalisiert, aber nur 398 von ihnen geborgen. Die meisten Säcke waren leer, ihr Inhalt hat sich offenbar in der Umwelt verteilt. Wie viele Säcke vollständig verschwunden sind, ist unklar; anscheinend waren sie nicht registriert worden. Das läßt sich zumindest nach der Zusage des Umweltministeriums, daß künftig die Standorte solcher "temporären" Lagerstätten und auch die Zahl der dort "vorübergehend" gelagerten Säcke registriert werden sollen, vermuten. [5]

Nicht nur in Iitate, auch an anderen Orten wurden solche Plastiksäcke, die ein Volumen von einem Kubikmeter haben, weggespült. [6] In vielen Fällen landet das dabei freigesetzte Material in Flüssen, die es schließlich ins Meer tragen.

Innerhalb eines halben Jahres hat die Betreibergesellschaft Tepco (Tokyo Electric Power Company) siebenmal radioaktives Regenwasser vom Gelände des Akw Fukushima Daiichi ungefiltert ins Meer geleitet. Wie stark verstrahlt das Wasser war und um welche Mengen es sich gehandelt hat, wissen weder die Kraftwerksbetreiber noch die Behörden. Und die Regierung hat keine oberen Grenzwerte für Radioaktivität in Regenwasser festgelegt. [7] Einen vorläufigen Höhepunkt an "Kollateralschäden" der Atomenergieproduktion bildet ein Vorfall im Februar dieses Jahres, als hochradioaktiv kontaminiertes Regenwasser, das sich auf einem Gebäudedach auf dem Akw-Gelände gesammelt hatte, ins Meer geflossen war. Die Strahlung übertraf die höchsten Strahlenwerte auf dem gesamten Gelände um den Faktor 70. [8]

Ken Buesseler und seine Kollegen hatten nur zwei Sedimentfallen am Tiefseeboden aufgestellt. Die japanische Regierung hält sich mit solchen Messungen zurück. Eine flächendeckende Erfassung der Radioaktivitätswerte am Tiefseeboden ist womöglich gar nicht erwünscht, weil die Ergebnisse die ganze Schönrednerei der vergangenen viereinhalb Jahre in Frage stellen könnten.


Fußnoten:

[1] Frankreich und China unterzeichneten das Abkommen zum Stop der Atombombentests in der Atmosphäre, im Weltraum und im Wasser im Jahr 1963 nicht und führten noch bis 1974 bzw. 1980 oberirdische Atombombentests durch.

[2] http://journals.lww.com/epidem/Abstract/publishahead/Thyroid_Cancer_Detection_by_Ultrasound_Among.99115.aspx#

[3] http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-19212-2015-08-19.html

[4] http://www.scilogs.de/atommuell-debatte/welche-schaeden-ruft-radioaktive-strahlung-hervor/

[5] http://www.spreadnews.de/fukushima-aktuell-bergung-kontaminierter-abfallsaecke-lokal-eingestellt/1147650/

[6] http://ajw.asahi.com/article/0311disaster/fukushima/AJ201509180069

[7] http://www.tagesanzeiger.ch/wissen/geschichte/Der-ehemalige-Premier-hat-Japan-vor-Schlimmerem-bewahrt/story/21749289

[8] http://nuclear-news.net/2015/09/21/fukushimas-radioactive-overflowing-toilet/

9. Oktober 2015


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