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GEFAHR/017: Brandsatz Fukushima - verteilen, verwischen, verschleiern ... (SB)


Japan will rund 22 Mio. Kubikmeter radioaktives Erdreich unter den Teppich kehren

So funktioniert Herrschaft: Der Staat spielt sich als Ordnungsmacht auf und macht sich vermeintlich unentbehrlich, indem er die Freisetzung von Radioaktivität, die er wesentlich selbst zu verantworten hat, von der Bevölkerung fernhält; er schützt sie daraufhin nicht so gut es geht, sondern setzt sie weiterhin einer wohldosierten radioaktiven Belastung aus



Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Die Fukushima-Katastrophe und ihre Strahlenfolgen - was sich beim Pazifischen Ozean gar nicht mehr vermeiden läßt, soll demnächst an Land freiwillig fortgesetzt werden: Die permanente Verteilung von Radionukliden in der Umwelt. So hegt die japanische Regierung den Plan, radioaktiv kontaminiertes Erdreich im ganzen Land zu verteilen.

Die Dauerkontamination des Ozeans wird zwar allgemein verharmlost, ist aber weithin bekannt: Nach wie vor fließen vom zerstörten Akw Fukushima Daiichi täglich Hunderte Tonnen radioaktiv verseuchtes Grundwasser ins Meer und kontaminieren es mit der Zeit auf seiner gesamten Fläche. Mehr als fünf Jahre nach Beginn der zunächst von einem Erdbeben, dann einem Tsunami ausgelösten Nuklearkatastrophe erwecken die Versuche, den Strahlenfluß zu stoppen, den Eindruck des Scheiterns. Weder die Stahlspundwand unterhalb des havarierten Akw entlang des Hafenbeckens noch der Eiswall - jene "Sperre" aus gefrorenem Boden gegen den Grundwasserfluß - hält, was man sich davon verspricht.

Zwar waren große Teile der Präfektur Fukushima sowie weitere Gebiete in den Nachbarpräfekturen und im Großraum Tokio durch den Nuklearunfall vom 11. März 2011 verstrahlt worden, doch konnte man insofern noch von Glück im Unglück sprechen, als nicht lange nach der Zerstörung von vier der sechs Meiler des Akw Fukushima Daiichi der Wind gedreht hatte und der radioaktive Fallout nicht ausschließlich, aber hauptsächlich über dem Pazifik niedergegangen war.

Die japanische Regierung erweist sich offenbar als nicht so gnädig wie der Wind. Sie will einen erheblichen Teil des im Rahmen von Dekontaminationsarbeiten abgetragenen radioaktiven Erdreichs im ganzen Land verteilen - es soll als Baumaterial im Straßenbau verwendet werden. Man will das massive Mengenproblem quasi unter den Teppich kehren, indem man nonchalant eine Asphaltdecke über den Strahlenmüll legt.

Die Entscheidung des japanischen Umweltministeriums, verseuchten Boden im Straßenbau einzusetzen, sei getroffen worden, obwohl die Radioaktivität des Materials erst nach 170 Jahren soweit abgeklungen sein werde, daß es die Sicherheitskriterien erfüllt, berichtete Mainichi Shimbun im Juni dieses Jahres. Laut einer Arbeitsgruppe im Umweltministerium zu den Strahlenfolgen hätten solche Aufschüttungen einen Bestand von 70 Jahren, was bedeute, daß das Erdreich eigentlich noch weitere 100 Jahre nach den gebotenen Sicherheitskriterien gehandhabt werden müsse, meldete die Zeitung. [1]

Dieser Wert ergibt sich daraus, daß in Japan der Grenzwert für radioaktives Material aus dem Rückbau von Kernkraftwerken bei 100 Becquerel Cäsium pro Kilogramm liegt. Das Umweltministerium erwägt jedoch, Erdreich mit einer Kontamination von bis 8000 Becquerel pro Kilogramm in Umlauf zu bringen. Der Grenzwert orientiert sich anscheinend daran, daß die Zentralregierung verpflichtet wäre, Strahlenmüll ab einer Belastung von 8.000 Becquerel pro Kilogramm zu entsorgen. [2]

Da Cäsium-137 eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren hat, wäre ein mit 8000 Becquerel pro Kilogramm belastetes Erdreich sogar erst nach acht Zyklen und folglich 240 Jahren (vermeintlich) sicher. Zum Vergleich: Rechnet man 240 Jahre von heute in die Vergangenheit, so landet man in der Edo-Zeit Japans, als der Tokugawa-Clan das Shogunat innehatte und das Land kaum Kontakte in die westliche Welt besaß. Seitdem wurden die Beläge der Straßen viele Male gewechselt - und so wird es voraussichtlich auch in Zukunft sein.

22 Millionen Kubikmeter radioaktives Erdreich stehen zur Disposition. Wieviel davon für den Straßenbau verwendet wird, gilt zwar noch als offen, doch hatte es bereits im vergangenen Jahr geheißen, daß 99,8 Prozent davon recycelt werden könnten. [3] Die Pläne des Umweltministeriums sehen nun vor, daß das Material zunächst rund 30 Jahre lang in einem noch zu errichtenden Zwischenlager in der Nähe des zerstörten Akw und somit innerhalb der Präfektur Fukushima gelagert wird. Erst danach darf es laut Gesetz auch außerhalb der Präfektur verbracht werden.

Wenig überraschend stecken Gründe der Kostenersparnis hinter dem Bemühen, kontaminiertes Erdreich im Straßenbau (oder auch als Bedeckung für konventionelle Müllkippen) einzusetzen. Laut der Mainishi Shimbun könnten mehr als 1,5 Billionen Yen (umgerechnet rund 13 Mrd. Euro) erspart werden, wenn man das Material nicht bis auf 100, sondern 8.000 Becquerel pro Kilogramm reinigt. [4]

Der von der Zeitung unhinterfragt verwendete Begriff "reinigen" täuscht allerdings. Das verstrahlte Material würde weiter existieren, nur eben nicht verteilt über ein Volumen von 22 Mio. Kubikmetern. Im Grunde genommen betreibt die japanische Regierung nichts anderes als ein ständiges Verschiebespiel. Mal wird die Radioaktivität aufkonzentriert, mal verteilt. Und um sie zu verteilen, muß das Material aufgetrennt werden, dabei würde ein Teil wiederum aufkonzentriert, und so weiter. Sollten nach vielleicht siebzig Jahren die Straßen komplett neu gebaut werden, so ginge das "Spiel" von vorne los. Es müßte gemessen werden, welches Erdreich noch unzulässig hoch verstrahlt und bei welchem die Strahlung abgeklungen ist. Daraufhin würde eine Trennung vorgenommen, durch die das Strahlenmaterial wieder abgeschieden und somit aufkonzentriert würde ...

Wenn die japanische Zeitung darauf aufmerksam macht, daß die Idee, radioaktives Erdreich im ganzen Land im Straßenbau einzusetzen, auf finanzielle Gründe zurückzuführen ist, dann berichtet sie nichts Neues. Denn bereits hinter dem Bau von Atomkraftwerken steckten zumindest oberflächlich betrachtet finanzielle Gründe, wobei es bei der Einführung der Atomtechnologie ganz entscheidend war, daß die Betreiber der Kernreaktoren vom Staat subventioniert wurden. Atomstrom wäre von der Wirtschaft als viel zu unrentabel verworfen worden, wenn die Nutznießer dieser Form der Energieproduktion nicht von immensen Kosten freigestellt worden wären. Beispielsweise mußten sie kein Konzept für die (nach wie vor ungeklärte) Endlagerfrage vorlegen. Geschweige denn, daß sie ein Endlager hätten bauen müssen, bevor sie angefangen haben, radioaktives Material zu produzieren, das ein solches Endlager erforderlich macht.

Politik und Wirtschaft gehen Hand in Hand - das ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal Japans, aber dort ist der sogenannte Drehtüreffekt, bei dem Personen aus der Wirtschaft in die Politik wechseln und umgekehrt, besonders stark entwickelt. Man nennt in Japan die enge Verzahnung dieser beiden gesellschaftlichen Bereiche der Nuklearstromproduktion - mit den Medien als drittem Faktor - das "Dorf".

Es ist in dem vorherrschenden Wirtschaftssystem, das einzelne begünstigt, so daß sie sich auf Kosten der anderen bereichern können, von vornherein so angelegt, daß nicht die Profite aus der Produktion, sondern nur ihre Schäden vergesellschaftet werden. In diesem konkreten Fall bedeutet es, daß die japanische Regierung den Akw-Betreiber Tepco nach der Fukushima-Katastrophe faktisch übernommen hat, um ihn vor der Pleite zu bewahren. Und es ist der Staat, der für die Dekontaminationsmaßnahmen aufkommt, wobei es auch da, wie schon bei der grundsätzlichen Entscheidung, Akws in die Welt zu setzen, erneut nicht um den Schutz der Bevölkerung geht.

Indem er den Strahlenmüll unter den Teppich kehren will, erhofft sich der Staat eine hohe Kostenersparnis. Bei dieser vermeintlich vernünftigen, abwägenswerten Begründung werden wesentliche Voraussetzungen der Rechnung vernachlässigt. Denn wenn der Staat mehr Geld für die möglichst sichere Verbringung des verstrahlten Erdreichs ausgeben würde, flösse das Geld an Unternehmen, die diese Aufgabe erfüllen könnten, wegen der guten Auftragslage prosperieren und wahrscheinlich Arbeitsplätze schaffen würden. Die vermeintliche Ersparnis, wenn man überhaupt davon sprechen will, besteht nun darin, daß jetzt Unternehmen des Straßenbaus davon profitieren. Mit dieser vereinfachten Gegenüberstellung soll verdeutlicht werden, daß die Frage, was eigentlich Kosten sind und was nicht, für wen sie entstehen und wer davon profitiert, nicht nur unbeantwortet bleibt, sondern gar nicht erst gestellt wird. Eines läßt sich jedoch am Ende als gesichert konstatieren: Der Staat verteilt die Radioaktivität im ganzen Land und setzt dadurch die Bevölkerung einem erhöhten Gesundheitsrisiko aus.

In der Anti-Akw-Bewegung heißt es, Atomkraft sei menschenfeindlich. Das scheint eine etwas verkürzte Sicht zu sein. Am Beispiel der Fukushima-Katastrophe wird deutlich: Nicht die Atomkraft, sondern der Mensch ist des Menschen Feind und er bedient sich der Atomkraft, um seine Anliegen zu verfolgen.


Fußnoten:

[1] http://mainichi.jp/english/articles/20160627/p2a/00m/0na/010000c

[2] http://www.asahi.com/ajw/articles/AJ201606080056.html Da

[3] https://japansafety.wordpress.com/2015/12/29/government-estimate-almost-100-percent-of-contaminated-soil-can-be-recycled-the-asahi-shimbun/

[4] http://mainichi.jp/english/articles/20160803/p2a/00m/0na/014000c

8. August 2016


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