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WALDSCHADEN/001: Grüne Lunge - mehr Kippunkte als vermutet? (SB)


Neue Studie: Beschleunigter Waldverlust in den feuchten Tropen

US-Wissenschaftler widersprechen der Einschätzung, daß sich der Schwund des tropischen Regenwalds verlangsamt


Entgegen früheren Meldungen nimmt die Geschwindigkeit, mit der tropischer Regenwald abgeholzt, verbrannt oder auf andere Weise vernichtet wird, nicht ab, sondern zu. Die Auswertung von Bildern der Landsat-Satelliten zwischen 1990 und 2010 zeigen einen um 62 Prozent höheren Waldverlust. Bislang sei die Wissenschaft von dem Forest Resources Assessment der Food and Agriculture Organization (FAO) ausgegangen, derzufolge die Verluste des tropischen Regenwalds um 25 Prozent abgenommen haben, berichtete SpaceDaily.com. [1]

Der Geograph Do-Hyung Kim und seine Kollegen Joseph Sexton und John Townshend von der University of Maryland, College Park, haben 5.444 Landsat-Aufnahmen aus den Jahren 1990, 2000, 2005 und 2010 mit einer Genauigkeit von einem Hektar (100 mal 100 Meter) unter der Fragestellung ausgewertet, ob es innerhalb dieser Flächen zu einer Zu- oder Abnahme des Walds gekommen ist. In die Untersuchung flossen Aufnahmen aus 34 Ländern ein, die 80 Prozent des weltweiten tropischen Regenwalds abdecken.

Demnach betrug der jährliche Netto-Waldverlust im Zeitraum von 1990 bis 2000 vier Millionen Hektar, zwischen 2000 und 2010 bereits 6,5 Millionen Hektar. Innerhalb von fünf Jahren geht eine Waldfläche von der Größe Norwegens verloren. Der größte Waldverlust ereignete sich in Lateinamerika und dort wiederum in Brasilien, gefolgt von Asien und Afrika. Die aktuelle, begutachtete Studie wurde von den "Geophysical Research Letters", dem Journal der American Geophysical Union, bereits akzeptiert, aber noch nicht in der Printausgabe veröffentlicht. [2]

Die Frage, ob und inwiefern sich die Ergebnisse der FAO-Untersuchung und der Studie der Universität von Maryland widersprechen oder ergänzen, wird sicherlich in der Fachwelt kontrovers diskutiert werden. Die FAO hat unter anderem Daten vor Ort erhoben, die durch die Analyse der Satellitenbilder nicht erfaßt werden. Andererseits weist die Landsat-Studie mit einer Rasterung von nur einem Hektar eine vergleichsweise große Genauigkeit auf.

Nimmt man diese Auswertung als Maßstab, dann zeigt sich hier ein Trend mit schwerwiegenden Konsequenzen. Das Potsdam-Institut für Klimawandelfolgen (PIK) zählt den Amazonas-Regenwald zu den "wichtigsten Kippelementen im Erdsystem". Kippelemente seien "Achillesfersen im Erdsystem", denn sie seien von "überregionaler Größe" und könnten schon "durch kleine externe Störungen in einen neuen Zustand versetzt werden", heißt es. Was das hinsichtlich der "Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes" bedeutet, beschreibt das PIK auf seiner Website so:

"Ein Großteil der Niederschläge im Amazonasbecken stammt aus über dem Wald verdunstetem Wasser. Ein Rückgang der Niederschläge in einem wärmeren Erdklima und die Abholzung des Regenwaldes könnten den Wald an eine kritische Grenze bringen. Dabei können zwischen dem Überschreiten dieser kritischen Grenze und seinen sichtbaren Auswirkungen mehrere Jahrzehnte liegen. Eine Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes in einen an die Trockenheit angepassten saisonalen Wald oder eine Graslandschaft hätte grundlegende Auswirkungen auf das Erdklima, da ein Regenwald der Atmosphäre effektiv mehr Kohlendioxid entzieht. Gleichzeitig würde das Verschwinden des Regenwaldes einen gewaltigen Verlust von Biodiversität bedeuten." [3]

Mit anderen Worten, niemand weiß, wann die kritische Grenze erreicht wird oder ob sie nicht bereits überschritten wurde. Jedenfalls sind Experten verblüfft darüber, daß innerhalb von sechs Jahren (2005 und 2010) im Amazonasbecken zweimal eine "Jahrhundertdürre" auftrat. Hat man es demnach mit den Folgewirkungen einer längst angelaufenen Entwicklung, eben der Abholzung des Regenwalds, zu tun? Auch der aktuelle, dramatische Wassernotstand im Südosten Brasiliens mit dem dicht besiedelten Großraum Sao Paulo könnte durch den Waldverlust ausgelöst worden sein. Diesen Schluß zieht der Wissenschaftler Antonio Nobre vom brasilianischen Raumforschungsinstitut Inpe nach Auswertung von über 200 Studien und wissenschaftlichen Artikeln. [4]

Wenn der Wald verschwindet, nimmt die Verdunstung ab, in der Folge enthalten die Wolken weniger Wasser, die Niederschlagsmengen gehen zurück. Aufgrund dessen verkümmern die Bäume, es wird weniger Wasser verdunstet, und so weiter. Ein sich selbst verstärkender Prozeß, der natürlicherseits auftreten kann, aber auf den der Mensch mit Abholzung und Umwandlung des artenreichen tropischen Regenwalds in Monokulturen (Soja, Palmen, Eukalyptus, etc.) durchaus Einfluß ausübt.

Einen weiteren Schwellenwert haben anscheinend selbst die PIK-Forscher noch nicht auf dem Radar: Welche Folgen hat der Verlust an tropischem Regenwald auf den Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre?

Ohne Pflanzen, die Sauerstoffverbindungen aufspalten und damit Sauerstoff überhaupt erst verfügbar machen, gäbe es weder Tier noch Mensch. Den weltweit größten Anteil an der Sauerstofffreisetzung haben photosynthetisch aktive Pflanzen und Bakterien, die Primärproduzenten, in der obersten, rund 100 Meter dicken Schicht der Ozeane. Bereits an zweiter Stelle folgen die tropischen Regenwälder.

Der Gehalt an frei verfügbarem Sauerstoff in der Erdatmosphäre liegt einigermaßen stabil bei rund 21 Prozent, mit leicht abnehmender Tendenz. Vereinfacht könnte man sagen, daß sich Verbrauch und Freisetzung die Waage halten. Nun wird aber auf einer Seite der Waage, um in diesem Bild zu bleiben, etwas weggenommen, nämlich der Wald. Könnte das die Waage aus der Balance bringen? Wann wäre dafür der Zeitpunkt? Und in welchem Verhältnis dazu stehen andere reduzierende Einflüsse auf den Sauerstoffgehalt, zum Beispiel die Erwärmung der Meere und die Zunahme von sogenannten toten Zonen?

In dem Bericht "World Ocean Review" aus dem Jahr 2010 heißt es dazu unter der Überschrift "Sauerstoff - Renaissance einer hydrographischen Messgröße":

"Auch wenn hier sicherlich das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, deutet sich bereits jetzt an, dass der schleichende Sauerstoffverlust des Weltozeans ein Thema von hoher Relevanz ist, das möglicherweise auch sozioökonomische Konsequenzen hat und dem sich die Meeresforschung stellen muss. (...)
Aktuelle Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben für nahezu alle Ozeanbecken Trends abnehmender Sauerstoffkonzentrationen aufgezeigt." [5]

Wenn sowohl durch die Weltmeere als auch den tropischen Regenwald immer weniger Sauerstoff freigesetzt wird, dann sind damit die beiden wichtigsten Faktoren, die den Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre zur Zeit einigermaßen in der Waage halten, geschwächt. Ob und wann es zum Kippen kommt und welche Folgen ein Mangel für die Menschheit hätte, sind Fragen, mit denen sich eigentlich die Wissenschaft intensiv befassen müßte. Allerdings scheint die Fähigkeit des Menschen, die Schadensfolgen seines Handelns rechtzeitig zu erkennen, nicht besonders gut entwickelt zu sein, bedenkt man beispielsweise die Zunahme der Treibhausgasemissionen, deren Auswirkungen lange Zeit nicht erkannt wurden. Ganz abgesehen davon, daß diese Erkenntnis nichts wert ist, wenn daraus keine Konsequenzen gezogen werden, um die heraufziehenden Gefahren zu beheben.


Fußnoten:

[1] http://www.spacedaily.com/reports/Felling_of_tropical_trees_has_soared_satellite_shows_not_slowed_999.html

[2] "Accelerated Deforestation in the Humid Tropics from the 1990s to the 2000s", Do-Hyung Kim, Joseph O. Sexton und John R. Townshend. In: Geophysical Research Letters, DOI: 10.1002/2014GL062777
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/2014GL062777/abstract

[3] https://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente

[4] http://brasilienmagazin.net/gesundheit-umwelt/19452/studie-abholzung-im-amazonas-regenwald-verursacht-duerre-in-sao-paulo/

[5] http://worldoceanreview.com/wor-1/meer-und-chemie/sauerstoff/2/

26. Februar 2015


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