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STADT/392: Stadtsoziologe Dieter Rink zum Projekt Zukunftsstadt (UFZ-Newsletter)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Newsletter Oktober 2015

Zukunftsstadt
"Wenn wir so langsam weitermachen wie bislang, ist das ein Jahrhundertprojekt."

Interview von Susanne Hufe mit Prof. Dr. Dieter Rink


"Zukunftsstadt" heißt das aktuelle deutsche Wissenschaftsjahr. Wieso spielt die Zukunft der Stadt gegenwärtig eine so große Rolle in der Öffentlichkeit, der Politik und der Wissenschaft?

Die Sicht auf Städte hat sich fundamental gewandelt. In den 1990er Jahren sah man die Entwicklung der Großstädte sehr pessimistisch, denn sie waren durch Abwanderung, Ausbluten und Verlust an Urbanität geprägt. Da wurde in der Stadtforschung und in den Medien von deren "Tod", "Ende" oder "Verschwinden" gesprochen. Etwa seit der Jahrtausendwende erleben wir mit dem neuen Wachstum der Kern- und Innenstädte eine Renaissance und damit verbunden eine optimistische, ja teils euphorische Sichtweise. Jetzt wird die Stadt als Ort gesehen, wo die großen Herausforderungen gelöst werden sollen - die Stadt als "Laboratorium der Zukunft". Entsprechend hat die Stadt auch in der Wissenschaft an Aufmerksamkeit gewonnen: "Zukunftsstadt" ist ja nicht nur ein Wissenschaftsjahr, sondern auch eine nationale Forschungsplattform der Bundesregierung; im aktuellen Forschungsrahmenprogramm der EU spielt das Thema eine Rolle, etwa in der Joint Programming Initiative "Urban Europe"; die Fraunhofer-Gesellschaft hat mit ihrem "Morgenstadt-Projekt" vor einigen Jahren einen wichtigen Impuls gesetzt und die Helmholtz-Gemeinschaft hat jüngst eine Stadtforschungsinitiative ins Leben gerufen.

Wo liegen die Gründe?

Die liegen vor allem im Wandel wirtschaftlicher Strukturen, dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- bzw. Wissensgesellschaft. Und der findet vor allem in den großen Städten statt, wo sich die Orte der Innovationen befinden - mit Forschungseinrichtungen, Universitäten, großen IT- und Dienstleistungsunternehmen. Im Zuge dessen erfahren (Groß)Städte einen neuen Bedeutungsgewinn, der sich vor allem in den Städten der westlichen Welt in neuem Wachstum, Reurbanisierung und Aufwertung niederschlägt. Länder in Asien oder Afrika dagegen erleben die erste Welle der Urbanisierung. Der Unterschied ist, dass sie in den meisten Ländern des globalen Südens - mit Ausnahme Chinas - ohne Industrialisierung stattfindet. Dafür entstehen dort einige der größten städtischen Agglomerationen, die Megacities.

Laut UN-Post-Agenda-2015-Bericht sind es "die Städte, wo der Kampf um eine nachhaltige Entwicklung gewonnen oder verloren wird". Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

Vor dem Hintergrund weiterer Urbanisierung, Globalisierung, demografischen Veränderungen und Klimawandel sehen sich Städte so vielen Anforderungen gegenüber, die nahezu alle Arbeits- und Lebensbereiche der Menschen betreffen: Wohnen/Arbeiten, Mobilität/Verkehr, Energie/Stoffkreisläufe, Kommunikation, Natur, soziale Gerechtigkeit.

Ich sehe die größte Herausforderung darin, dass Städte dazu beitragen, den Klimawandel zu bremsen und sich gleichzeitig an die klimabedingten Veränderungen und Extremereignisse wie Hochwasser, Dürre oder Hitze anzupassen.

Die alten Industriemetropolen des Westens und Osteuropas sind diejenigen Städte, die die meisten Treibhausgase emittieren. Hier beruhen Produktion sowie Energie- und Wärmeversorgung noch fast ausschließlich auf fossilen Energieträgern. Das muss sich relativ rasch ändern. Denn wenn wir es ernst nehmen, haben wir für den Umbau der Energieinfrastruktur ein Zeitfenster von 35 Jahren bis 2050. Wenn wir jedoch so weitermachen wie bislang, dann wird das ein Jahrhundertprojekt.

Was heißt das für die konkrete Stadtplanung?

Bleiben wir der Einfachheit halber beim Energiebereich. Die Stadtplanung hat es mit den unterschiedlichsten Transformationsprozessen zu tun: Von einer Stadt, die viel Energie braucht, zu einer Stadt, die wenig Energie braucht; von einer Stadt, die von fossilen Energieträgern abhängig ist, zu einer Stadt, die davon komplett unabhängig ist; von einer Stadt, die viel CO2 emittiert, zu einer Stadt, die kaum CO2 emittiert usw. Dafür müssen nahezu alle Infrastrukturen umgebaut werden. Pläne gibt es dafür schon sehr gute, auch Technologien. Das Problem ist, dass die Städte gar nicht die finanziellen Ressourcen haben, das alles in der notwendigen Geschwindigkeit anzupacken. Und nicht weniger problematisch ist es, alle Akteure mit jeweils unterschiedlichen Interessen einzubinden - Gremien, Behörden, Vereine, Unternehmen, Bürger etc. Mit anderen Worten: Man weiß, was man technologisch machen müsste, aber wie man das Ganze wirtschaftlich und institutionell über lange Zeiträume gestaltet, das weiß man nicht.

Wie weit sind wir eigentlich von der CO2-neutralen Stadt entfernt?

Davon sind die meisten deutschen Städte noch ziemlich weit entfernt. Denn wir beobachten, dass sich kaum Reduktionen erreichen lassen, weil die Effekte, die man durch Einsparung oder Umstellung auf Erneuerbare erzielt, überkompensiert werden. Durch höhere Verbräuche von größeren Autos, mehr gefahrene Kilometer oder größere Wohnflächen. Wir bezeichnen das als "Rebound-Effekt". Einige Kleinstädte in Deutschland gehen positiv voran. Delitzsch zum Beispiel, eine 25.000-Einwohner-Stadt nördlich von Leipzig, hat die Produktion von Energie und Wärme praktisch auf Erneuerbare umgestellt und ist rechnerisch "stromenergieautark". Betrachtet man die Großstädte, sind es vor allem die Skandinavier, die schon sehr weit sind. Kopenhagen etwa, die "grüne Hauptstadt Europas", will als erste Metropole der Welt bis 2025 CO2-neutral sein. Davon können deutsche Großstädte eine Menge lernen, auch Leipzig.

Welche Rolle spielt Forschung?

Forschung sollte natürlich das entsprechende Know-how zur Verfügung stellen. Das sind technische Lösungen, aber vor allem auch Wirtschaftskonzepte, institutionelle Lösungen, Vorschläge für GovernanceStrukturen. Dafür, wie man die Bevölkerung am besten mitnimmt oder wie man kleine Lösungen auf eine größere Ebene überträgt - oder in eine andere Stadt. Da gibt es auch Bewegung in der Wissenschaft, die viel stärker anwendungsorientiert arbeitet, als noch vor Jahren. Im Rahmen von Urban Labs beispielsweise entwickeln die Akteure eines konkreten Standortes gemeinsam mit Wissenschaftlern Modelle, wie so eine Transformation gelingen kann.

Wo liegt die spezielle Expertise des UFZ?

Eine Spezialität ist, dass wir auch im Helmholtz-Vergleich schon sehr lange Stadtforschung machen - nämlich seit Gründung des UFZ vor fast 24 Jahren. In dieser Zeit haben wir beachtliche Expertise aufgebaut zu ganz unterschiedlichen Fragen rund um Transformation, Stadtökologie, Suburbanisierung, Reurbanisierung, Stadtumbau, Governance usw. Der zweite Punkt ist, dass wir von Beginn an die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Natur- und Technikwissenschaftlern des UFZ gepflegt haben, die sich zum Beispiel mit Biodiversität, dezentraler Abwassertechnologie oder Geothermie befassen. Drittens haben wir uns in der gesamten Zeit immer mit den großen Herausforderungen wie Nachhaltigkeit, Resilienz, Vulnerabilität, Schrumpfung oder Flächeninanspruchnahme beschäftigt.

Da haben wir unter den deutschen und auch europäischen Stadtsoziologen lange Zeit eine Nische besetzt, die jetzt Mainstream geworden ist. Viertens schließlich haben wir von Beginn an mit ganz unterschiedlichen Akteuren der Stadtentwicklung zusammengearbeitet - aus Politik und Verwaltung, Unternehmen und der Zivilgesellschaft. Daraus sind zahlreiche langjährige Kooperationen entstanden. Schöne Beispiele dafür sind die Lokale Agenda 21, die das UFZ etwa Mitte der 1990er Jahre in Leipzig mitgegründet hat und in der wir noch immer aktiv sind.

Oder die Langzeitstudie Leipzig Grünau, die vom Stadtteilladen bis zur Wohnungswirtschaft mitgetragen wird und Aussagen zur soziodemographischen und städtebaulichen Entwicklung dieser Großwohnsiedlung über mehr als 35 Jahre ermöglicht. Oder das Projekt "Leipzig Weiter denken", wo wir mit vielen verschiedenen Akteuren der Stadtentwicklung - auch Bürgerinnen und Bürgern - Themen wie "Energetische Sanierung" oder "Nachhaltige Finanzen" analysiert und diskutiert haben.

Leipzig spielt also nach wie vor eine große Rolle ...

Aber ja, für uns ist es sozusagen das "Labor vor der Haustür" und "der" exemplarische Fall postsozialistischer Transformation. Deshalb haben wir die Stadt in vielen großen internationalen Projekten - etwa zu Themen wie Suburbanisierung, Schrumpfung oder Reurbanisierung - immer wieder als ein Fallbeispiel genutzt und dadurch natürlich eine beachtliche Expertise für Leipzig entwickelt. Leipzig ist freilich auch ein Extrem- und damit Sonderfall. Im Zuge der Urbanisierung des 19./20. Jahrhunderts ist die Stadt stark gewachsen, dann ist sie wie kaum eine andere europäische Stadt über sehr lange Zeit - etwa 70 Jahre - geschrumpft. Um das Jahr 2000 begann sie wieder zu wachsen und ist derzeit die am schnellsten wachsende Großstadt Deutschlands. Hinzu kommt der Wechsel der politischen Verhältnisse, der mit vielen Brüchen verbunden war. Na, wenn das nicht alles spannend ist für Soziologen!

Wo sind die UFZ-Stadtforscher international aktiv?

Nachdem sich die UFZ-Stadtforschung in den Anfangsjahren hauptsächlich mit den regionalen Umweltproblemen befasste, kamen Mitte der 1990er Jahre nach und nach internationale Kooperationen hinzu: Zum einen wurden systematisch Kontakte in einige Länder Osteuropas aufgebaut, weil hier die Städte natürlich ähnliche Probleme wie wir mit der postsozialistischen Transformation hatten, und die Idee darin bestand, unser Wissen gut übertragen zu können. Zum anderen wurden Kontakte nach Südamerika aufgebaut, wo uns die Anpassung großer Metropolen an den Klimawandel beschäftigt; und seit einigen Jahren sind wir auch in Afrika aktiv, wo es um den Klimawandel und die Vulnerabilität geht. Das heißt, wir befassen uns mit ausgewählten Themen in ausgewählten Regionen.

Und Ihre persönliche Vision von einer Stadt wie Leipzig im Jahr 2050?

Ich bin weniger Visionär als analytisch empirisch arbeitender Stadtsoziologe. Wenn ich mir jedoch etwas wünschen könnte, wäre das eine CO2-neutrale Stadt, und zwar eine, die sich alle Menschen noch leisten können. Wo es gemischte Wohnquartiere gibt, viele öffentliche Frei- und Grünflächen, in denen man sich begegnen und austauschen kann. Und ich hoffe, dass es auch in 30 Jahren noch wache, mündige und mitunter auch aufmüpfige Bürger gibt, die sich für ihre Stadt interessieren und sie friedlich mitgestalten.

Das Interview führte Susanne Hufe


Der Stadtsoziologe Prof. Dr. Dieter Rink, stellvertretender Leiter des Departments Stadt- und Umweltsoziologie am UFZ, beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit nachhaltiger Stadtentwicklung, Stadtökologie und Stadtnatur, Suburbanisierung und Schrumpfung sowie Partizipation und Governance.

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Quelle:
UFZ-Newsletter Oktober 2015, Seite 6 - 7
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2015

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