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SCHADSTOFFE/221: Auf Gift gebaut - UFZ-Meßkampagnen in Neuruppin (UFZ-Newsletter)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Newsletter September 2010

Auf Gift gebaut

Von Doris Böhme


Wie würden Sie reagieren, wenn Sie in Ihrem schönen Häuschen mit Seeblick am Frühstückstisch sitzen und im Amtsblatt lesen, dass Sie Ihren Hausbrunnen nicht mehr nutzen dürfen, weil das Grundwasser gesundheitsgefährdende Schadstoffe enthält? Und wenn Sie dann noch erfahren, dass schon vor dem Verkauf und der Bebauung der Grundstücke bekannt war, dass der Untergrund nicht sauber ist? Sicherlich verunsichert, verärgert, aufgebracht und nach Aufklärung suchend.

"Im Juni 2009 erhielten mein Kollege Martin Bittens und ich unerwartete Anrufe vom Vorsitzenden der Bürgerinitiative "Giftskandal 2009" und vom damaligen Landrat aus Neuruppin", erinnert sich Prof. Dr. Holger Weiß, Grundwasserexperte am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). "Wir wurden als neutrale, fachkompetente und öffentlich finanzierte Forschungseinrichtung auf Empfehlung des Brandenburgischen Umweltministeriums gebeten, ein scheinbar auf Altlasten gebautes Wohngebiet zu untersuchen und vor allem wieder Vertrauen herzustellen, da die Atmosphäre zwischen den betroffenen Bürgern und den zuständigen Behörden in Neuruppin inzwischen ebenfalls vergiftet war." Bei Holger Weiß und seinen Kollegen waren sehr schnell wissenschaftliches Interesse und Forschergeist geweckt. Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit Altlasten, vor allem an ehemaligen Chemiestandorten oder auf militärisch genutzten Flächen.


Trügerische Idylle

Gerade in Brandenburg haben viele Städte und Ortschaften mit den Hinterlassenschaften der Sowjetarmee zu kämpfen. Mehr als 10.000 Flächen - meist in der Nähe von Kasernen und Flugplätzen - standen in den 1990er Jahren unter Verdacht, mit Chemikalien belastet zu sein. An einigen Standorten wird das verschmutzte Grundwasser abgepumpt und gereinigt, damit es nicht in Wasserwerke oder Oberflächenge wässer gelangt. Das passierte jedoch nicht in Neuruppin. Hier befand sich von 1945 bis 1991 eine sowjetische Kaserne mit einer Tankstelle und einer Kfz-Halle. 1999 wurde genau dort die Agentur für Arbeit gebaut. 2002/2003 folgte ein Sportcenter mit Schwimmhalle, danach ein Eigenheim nach dem anderen. Ein Grundstück ganz in der Nähe des Neuruppiner Sees versprach Idylle, Ruhe und gut angelegtes Geld. Dass die Anwohner auf Gift gebaut haben, erfuhren sie erst viel später. Im Frühjahr 2009 informierte der Landkreis über die Belastung von Grundwasser und Boden, obwohl Informationen darüber bereits Jahre zuvor bekannt waren.

"In Neuruppin ist etwas geschehen, was niemals hätte geschehen dürfen: Es wurde ein Gelände der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte hochwertig bebaut, ohne es vorher genau zu erkunden. Vermutlich wurde an dieser Stelle gespart - falsch gespart", erklärt Holger Weiß. Denn bei den Schadstoffen handelt es sich um leichtflüchtige chlorierte Kohlenwasserstoffe (LCKW): Trichlorethen (Tri) und seine Abbauprodukte cis-1,2-Dichlorethen, Vinylchlorid (VC) sowie das weniger flüchtige 1,2-Dichlorethan (1,2-DCA), von denen die beiden letztgenannten sogar als eindeutig humankanzerogen wirkende Substanzen eingestuft werden.

Was für die Bewohner wichtig ist, ist für die Forscher vor allem eine wissenschaftliche und technische Herausforderung. Hier in Neuruppin konnten die Wissenschaftler ein technisches Equipment und Know-how einsetzen, das kaum zu übertreffen ist. Sie haben vom Juli 2009 bis zum Frühjahr 2010 in vier großen Messkampagnen das gesamte Areal und dessen Umgebung auf Gefahren für Mensch und Umwelt untersucht. Sie waren dabei weder in gutachterlicher Funktion tätig, noch haben sie für eine der interessierten Parteien gearbeitet. Ihr Wissen haben sie allen Beteiligten zur gleichen Zeit zukommen lassen, meist im Rahmen von Bürgerversammlungen. Ziel war es, Wissen zu generieren, das für weitere Entscheidungen und Sanierungsempfehlungen notwendig ist.


Messen, messen, messen

Wie an eine solche schwierige Aufgabe herangegangen wird, gehört ebenfalls zur Expertise der UFZ-Forscher. Auch wenn alles sehr schnell gehen sollte, stand für alle Beteiligten fest: Qualität geht vor Tempo. Nachdem die Wissenschaftler einen großen Stapel an Unterlagen vom Landrat und der Bürgerinitiative durchforstet hatten, war klar: An erster Stelle der Gefahrenanalyse standen die unmittelbaren Risiken für die menschliche Gesundheit. Dazu mussten sich die UFZ-Experten zunächst einen Überblick über die Situation im Untergrund verschaffen. In Zweierteams - darunter Doktoranden und zwei Gastwissenschaftler aus Brasilien - nahmen sie zahlreiche Grundwasserproben, um möglichen Schadstoffquellen und Ausbreitungspfaden auf die Spur zu kommen und diese zu kartieren. Die Messpunkte wurden nach einer Arbeitshy pothese festgelegt. Dazu nutzten sie die Hausbrunnen der Eigentümer, das bereits vorhandene Grundwassermessnetz und temporäre Grundwassermessstellen, die mittels DirectPush-Verfahren eingerichtet wurden. Ergänzt wurden die Grundwasseruntersuchungen durch Bodenluftmessungen, Baumkernbeprobungen sowie geoelektrische Widerstands- und Leitfähigkeitsmessungen im Untergrund, um Gesteinseigenschaften und die Lage der Grundwasseroberfläche und stauender Schichten zu identifizieren. Dort, wo hohe Schadstoffkonzentrationen im Grundwasser und in der Bodenluft gefun den wurden, beprobten die Wissenschaftler Innenräume von öffentlichen Gebäuden und Eigenheimen, denn leichtflüchtige chlorierte Kohlenwasserstoffe - der Name sagt es - haben die Eigenschaft, relativ leicht aus dem Medium Grundwasser oder Boden in die Luft zu gelangen. Zum Einsatz kam dabei erstmals für die Forschung eine neuartige Vor-Ort-Analysentechnik, ein so genannter Gaschromatografie-Thermoionendetektor. Die Ergebnisse konnten durch die enge Zusammenarbeit mit einem zertifizierten Labor validiert werden.


Von fast nichts bis sehr viel

"Wir waren bei unseren Messkampagnen oft bis spät in den Abend oder die Nacht hinein in Neuruppin unterwegs. Wir haben jeweils über 50 Boden-, Innenraum- und Außenluftproben sowie mehr als 50 Grundwasserproben genommen, analysiert und ausgewertet", erzählt Thomas Putzmann, Doktorand im Department Grundwassersanierung. "Manche Probennahmen können ein oder zwei Stunden dauern. Allein die Technik von einem Ort zum nächsten zu rücken, ist mit einem hohen Aufwand verbunden." Gefunden wurde von "fast nichts" bis "viel". Im Grundwasser wurden Trichlorethen und seine Abbauprodukte in erhöhten Konzentrationen nachgewiesen. Diese bereiten den Wissenschaftlern jedoch weniger Kopfzerbrechen, denn deren Verteilungsmuster legt den Schluss nahe, dass der natürliche Schadstoffabbau bereits weit fortgeschritten ist und die Chemikalien im Grundwasserstrom langsam abgebaut werden. Da allerdings auch das 1,2-Dichlorethan im Grundwasser gefunden wurde - und zwar in lokal deutlich höheren Konzentrationen -, mussten die Wissenschaftler von der Existenz zweier zeitlich und räumlich unterschiedlicher Schadensherde ausgehen. Als Quelle des 1,2-DCA-Schadens machten die Wissenschaftler den Bereich der heutigen Agentur für Arbeit aus, an dem die Kfz-Halle und die Tankstelle der sowjetischen Streitkräfte standen. Durch Grundwasserabsenkungen im Zuge von Baumaßnahmen wurde dieser Schadstoff offensichtlich mobilisiert.


Kein Anlass zur Sorge?

Zu dieser Aussage lassen sich die UFZ-Forscher nicht hinreißen. Auch wenn zurzeit keine Schadstoffgehalte vorliegen, die eine akute Gefährdung der Anwohner darstellen oder Sofortmaßnahmen erfordern - die vorliegenden Ergebnisse sind Momentaufnahmen des Schadensszenarios. Was jetzt folgen muss, ist eine Beurteilung der Langzeitfolgen durch amtlich berufene Umweltmediziner. Parallel zur humantoxikologischen Bewertung wurde mit Unterstützung des UFZ die Sanierungsuntersuchung ausgeschrieben. Schlitz- oder Spundwände, um die Schadstoffe abzufangen, sind aufgrund der dichten Bebauung kaum einsetzbar. Zwar sind hydraulische Maßnahmen möglich, aber der heterogene Grundwasserleiter wird das 1,2-Dichlorethan nicht so leicht freigeben. Deshalb arbeiten bereits UFZ-Forscher aus dem Department Technische Umweltchemie an einer Lösung des 1,2-DCA-Problems.

Die Wissenschaftler des UFZ haben in Neuruppin auch viel gelernt. So konnten sie an einem realen Fall Szenarien für das Management von Flächen mit vornutzungsbedingten Kontaminationen weiterentwickeln. Sie konnten neue Technik testen, effizient miteinander kombinieren und Analysenmethoden vergleichen. Die Forscher konnten aber auch hautnah miterleben, wie es ist, wenn Altlastenmanagement eine menschliche Komponente erhält, wenn Betroffene von ihren Ängsten und Befürchtungen erzählen. "Hier hatten die jungen Wissenschaftler die Chance, mehr als die Bedeutung von Henry-Konstanten, Diffusionskoeffizienten oder Sorptionsisothermen kennenzulernen", zieht Holger Weiß als Fazit. "Raus aus dem Elfenbeinturm, rein ins reale Leben!"

UFZ-Ansprechpartner:
Prof. Dr. Holger Weiß
Dept. Grundwassersanierung
Telefon: 0341/235-1253
e-mail: holger.weiss@ufz.de
Martin Bittens
Dept. Grundwassersanierung,
Terra-, Aqua- und Sanierungskompetenzzentrum (TASK)

Telefon: 0341/235-1682
e-mail: martin.bittens@ufz.de


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Quelle:
UFZ-Newsletter September 2010, S. 8-9
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2010