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VERBAND/306: Aus Interesse am Leben der Enkel - Gedanken zu 20 Jahren Eurosolar (Solarzeitalter)


Aus Interesse am Leben der Enkel

Eine Rück- und Vorbesinnung auf die Arbeit von EUROSOLAR aus Anlass des 20. Geburtstags

Von Mathias Greffrath


EUROSOLAR ist keine Lobby, kein Bundesverband mittelständischer Innovatoren, keine politische Partei, keine Anwaltskanzlei für Energiefragen, keine PR-Agentur und keine Bundeszentrate für solare Bildung. Und hat doch Elemente von all dem. Die Aktivitäten reichen von praktischen Handreichungen - für die kommunale Einführung alternativer Energien, den Städtebau, das Energierecht, Speichertechniken - über die Vorbereitung von Gesetzesinitiativen bis hin zum beharrlichen Kampf für eine Internationale Agentur für Erneuerbare Energie (IRENA).

Als Organisation steht EUROSOLAR quer zu der gängigen soziologischen Trennung der Systeme von Politik, Ökonomie und Wissenschaft, ihre Mitglieder sind politische Aktivisten, Politiker verschiedener Parteien, Wissenschaftler, Kommunalbeamte, Unternehmer, Ingenieure, und die Aktivitäten reichen von handwerklicher Spezialexpertise bis zur Aufklärung über die "gesamtgesellschaftliche, ja weltzivilisatorische" Aufgabe, die in diesem Jahrhundert bewältigt werden muss - so formulierte Hermann Scheer.

Weltzivilisatorisch - ist das nicht etwas zu laut gedröhnt? Mit Sicherheit nicht. Eurosolar ist einer der Knotenpunkte in einem globalen Netzwerk, in dem die Zukunft einer neuen Epoche vorbereitet wird. Auch am Anfang unserer Epoche - des fossilbefeuerten Industriekapitalismus und des nie beendeten Kampfes um Demokratie - standen solche Netzwerke. Die Bewegung der Enzyklopädisten, um nur das bekannteste europäische zu nennen, war beides: eine politische Initiative zur Ablösung der Herrschaft von Kirche und Feudalen und zur Propagierung der fortgeschrittensten Techniken ihrer Zeit. Ihre Aktivisten, ihre Parteigänger, ihre Leser in ganz Europa kamen aus dem Adel, dem Klerus, der aufstrebenden Bürgerschicht, dem Volk. Advokaten und Philosophen kämpften gegen die Despotie der Grundbesitzer, verteidigten die Lebensinteressen der Nationen gegen die aggressiven letzten Gefechte funktionslos gewordener Stände, innovative Unternehmer wollten sich aus den Fesseln der alten Produktionsweise befreien, eine neue Schule von Nationalökonomen begründete die rationale Volkswirtschaft.

In den niedergehenden Ancien Régimes bildeten die europaweit korrespondierenden Enzyclopädisten - und andere - Inseln des Neuen, praktisch und polemisch, politisch und industriell. Und durchaus realistisch: Der Artikel "Holz" der Grande Encyclopédie warnt vor der ökologischen Katastrophe, die sich Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich anbahnte: die völlige Abholzung der Wälder auf der Ile de France für den Feuerholzbedarf der Metropole Paris. Denis Diderot plädierte für einen präventiven und radikalen Systemwechsel: die schnelle Umstellung auf die neue Energiequelle Kohle: "Es scheint mir", schrieb er, "dass mein Vorschlag nützlich ist, aber ich gebe zu, dass er einen großen Fehler hat. Er zieht eher die Interessen unserer Enkel in Betracht als unsere - und wir leben nun einmal in einem Zeitalter, dessen Philosophie zufolge jedermann alles für sich tut und nichts für die Nachwelt."

Der Übergang zum Kohlezeitalter geschah bekanntlich nicht durch einen von Philosophenvorschlägen induzieren Akt kollektiver Vernunft, sondern erst, als mit tausenden von Dampfmaschinen und Bergwerken - das Industriezeitalter anbrach. Technische Pioniere und Venturekapitalisten gingen voran, der Staat finanzierte die Infrastruktur, und die feudalen Waldbesitzer schichteten ihr Kapital um, gingen bankrott oder wurden entmachtet. Die Industriegesellschaft aber, die entstand, begünstigte die Emanzipation der Bürger, trieb den Kampf um Demokratie und um politische Institutionen an, die im Interesse und mit der Mitwirkung aller Bürger das allgemeine Wohl sichern. In zehn Generationen veränderte eine soziale Doppelhelix die Welt: der von fossiler Energie und Kapital befeuerte Industrialismus und der Kampf um die Demokratie, die Balance der Macht der Wenigen durch die Zahl der Vielen.

Und nun sind wir am Ende dieser Epoche. Hermann Scheer gründete EUROSOLAR am Ende eines Jahrzehnts, in dem die ökologischen Probleme und die Erkenntnis der "Grenzen des Wachstums" politisch "salonfähig" geworden waren. Die ersten Initiativen der Organisation waren noch vom Geist der scheinbar unausweichlichen rot/grünen Koalition getragen. Dann kam 1989, und danach brach die Globalisierungswelle los, ein von neuen Märkten getriggertes, von neuen Kommunikationsmedien und einer Verbilligung der Transporttechniken beschleunigtes, in weltweiter Privatisierungs-, Deregulierungs- und Flexibilisierungsmanie endendes kapitalistisches Johannisfieber. Das WTO-Abkommen von Marrakesch stellte die RIO-Konvention in den Schatten, seine Ideologen propagierten die Unendlichkeit des weltweiten Transfers und Verbrauchs von Energie, Rohstoffen, Waren und Arbeitskräften. Unter der Parole "Unser Lebensstil für die ganze Welt", ohne demokratische Legitimation oder institutionalisierte Verantwortung für Menschen, Natur und Zukunft machten sich die vom Finanzkapital angetriebenen Multis daran, eine "privatunternehmerisch organisierte globale Planwirtschaft in Form globaler Kartelle" (Scheer) zu errichten, die um die Warenmärkte kämpfen, immer neue Lebensbereiche durchdringen, sich ein letztes Gefecht um die Energie- und Rohstoffressourcen liefern.

Spätestens seit den weltweit wirkenden IPCC-Berichten von 2007 ist die Erkenntnis nicht mehr wegzuideologisieren, dass die energetischen Grundlagen für diese Art Weltordnung schwinden, dass der Planet das Ausnahmewachstum der vergangenen hundert Jahre nicht hergibt und nicht aushält, dass wir nicht nur ein Klimaproblem vor uns haben, sondern wahrscheinlich auch soziale Katastrophen, Kriege um Wasser und Boden, weltweite Hungermigration derer, die nicht gebraucht werden vom Markt, die ohne Kaufkraft sind oder nicht in rohstoffhaltigen Regionen siedeln. Aber fasziniert vom Wachstum der kapitalistischen Newcomer kämpft die "Koalition der Weitermacher" einen zähen Abwehrkampf - und ihre Hauptfront ist die Energieversorgung, denn die Konzentration und Zentralisation weltweit operierender Unternehmen ist auf weltweiten Verkehr und weltweit wachsende Märkte angewiesen und damit auf billige und im Überfluss vorhandene Energien.

Es geht also um mehr als um ein Energieproblem, es geht um die "Kultur des Kapitalismus" (so der Soziologe Dieter Claessens) insgesamt. Denn ebenso wenig wie die Erneuerbaren Energien werden die produktiven Kräfte einer nachfossilen Welt zentralisierbar sein. Aus Gründen der Technik, der Rentabilität und der Sicherheit werden sie regionalen Wirtschaftskreisläufen entstammen oder sind universell verfügbar, also nicht monopolisierbar. Durch die Verteuerung des Transports werden zunehmend regionale Rohstoffe verarbeitet werden und der Export von Produktionsstätten in Billiglohnländer wird weniger rentabel. Ein funktional differenzierter Weltmarkt wird sich allmählich auf technische Güter und industrielle Massenprodukte beschränken, und Kapital wird stärker in die regionalen Kreisläufe gelenkt. Die Wiederkehr regionaler Energie, Lebensmittel- und Güterproduktion wird die Landflucht umkehren, die Verwüstung ganzer Kontinente durch Exportmonokulturen und die Verschuldung der rohstoff- und energiearmen Nationen beenden. Diese geradezu kulturrevolutionären Ziele sind keine sozialpolitischen Wünschbarkeiten, sondern die Konsequenz aus der Erkenntnis naturgesetzlich begründeter Notwendigkeiten und dem Festhalten an einem humanistischen Menschenbild. "Wir müssen", so sagt der Leiter des Potsdamer Klimaforschungsinstituts, Hans-Joachim Schellnhuber, "die Industriegesellschaft neu erfinden, die Landschaften und die Städte umbauen, und das in kurzer Zeit"; und weiter: eine nachhaltige Ökonomie werden unsere Art zu wohnen, zu konsumieren und zu essen umkrempeln. Schellnhuber nennt es die "dritte industrielle Revolution". Zukünftige Historiker werden sagen: es war die solare Revolution. Und so wie die industrielle Revolution neue politische Formen und Denkweisen beförderte, wird es auch diesmal gewesen sein.

Aber Revolutionen geschehen nicht an einem Tag, sie sind eher der politische Schlusspunkt einer Vielzahl ökonomischer Veränderungen und sozialer Auseinandersetzungen. Sie entstehen nicht aus einem Masterplan, folgen keiner konstruierten Utopie, sondern der Reaktion auf harte Notwendigkeiten und punktuelle Innovationen - das war beim Übergang zur fossilkapitalistischen Ordnung so, das wird auch jetzt wieder so sein. Mit einigen Unterschieden: Anders als der Übergang zur fossilen Periode der Menschengeschichte hat der Übergang zur solaren Weltwirtschaft einen zeitlichen Index; er wird bestimmt durch die Grenzwerte der Klimaforschung und durch die berechenbare Erschöpfung und Schädlichkeit der fossilen Energien.

Anders als die erste industrielle Revolution muss die solare von vornherein weltweiten Charakter haben: in der koordinierten und kooperativen Transformation der Energiesysteme. Und gleichzeitig muss diese Transformation kulturell vielfältig und differenziert sein und die verschiedenen geographischen Bedingungen, die unterschiedlichen Lebensstile, Entwicklungsstufen, Konsumerwartungen, politischen und kulturellen Traditionen der unterschiedlichen Weltregionen in Rechnung stellen.

Wahrlich ein weltzivilisatorisches und ökumenisches Projekt. Ökumenisch, weil an einem Ziel, der Sicherung der Lebensgrundlagen für alle Menschen, orientiert, und gleichzeitig nicht zentralistisch durch globale Verschmutzungsbegrenzungsabkommen steuerbar, sondern nur durch eine Vielzahl nationaler, regionaler und lokaler Aktivitäten durchsetzbar, die diesen Prozess in "aktiver Evolution" (Scheer) in Gang setzen und halten.

Dutzende von Regierungen werden differenziert Energieordnungen erlassen müssen, tausende von Unternehmen nachhaltige und effiziente Produkte entwickeln, hunderttausende von Wissenschaftlern, Lehrern und Journalisten aufklären und Millionen von Menschen ihre Gewohnheiten ändern. Der Bogen reicht von internationalen Abkommen über nationale Energiepolitiken, neue Transporttechniken, die Transformation oder den Untergang ganzer Industrien (zum Beispiel Tourismus) bis hin zur millionenfachen Veränderung kleiner und kleinster Gewohnheiten (von der Lust - mehr Zeit statt mehr Dinge zu haben - die heute noch als "erzwungene Askese" denunziert wird - bis zur Frage "Hast du das Licht ausgemacht, Desdemona?"). Und am Ende wird, wenn alles gut geht, eine andere Zivilisation stehen.

Wir sind erst am Anfang dieses Prozesses. Ob er gut ausgeht, können wir nicht wissen. Einstweilen werden die "großen" Entscheidungen noch in Expertenrunden vorbereitet, in denen die Schamanen der alten Welt das Sagen haben; einstweilen vertrauen demokratisch gewählte Politiker noch nicht der Vernunft ihrer Wähler. Einstweilen gilt ihnen noch die alte, zentralfossilistische Landkarte, aber sie wird zunehmend gesprenkelt von Orten und Inseln des Neuen.

Eine dieser Inseln, und wahrlich nicht die unbedeutendste, ist EUROSOLAR. Vom 1.000-Dächer-Programm (1989) über das 100.000 Dächer-Programm und das EEG (1999/2000) bis zur Initiative 1.000.000 Klein-KWK-Anlagen von 2008 - das ist ein exponentieller Fortschritt, der sich sehen lassen kann, und in der Welt gesehen wird.

Im kommenden Frühjahr wird IRENA gegründet, zwanzig Jahre nach der ersten EUROSOLAR-Initiative; aber es wird noch lange dauern und vieler Anstrengungen bedürfen, bis sie die Durchschlagskraft einer IAEA erreicht. Und selbst der öffentliche Bewusstseinswandel nach dem IPCC-Schock des vorigen Jahres ist ambivalent: er begünstigt einen Vorstoß solarer Politik, Technik und Strukturen, gleichzeitig aber bekommen die Herren von Atom und mächtigen Netzwerken Oberwasser und dienen sich nun der Politik als Retter an: nur sie, so immer noch die Religion, könnten der Industrie die Energie geben, die sie braucht, die billig genug ist für die Verlierer, die das Abschmelzen der Polkappen verhindert; so wird der Blick auf die Unmöglichkeit ewigen Wachstums, auf die sozialen Konsequenzen, auf die Verwerfungen der Weltgesellschaft vernebelt.

Und deshalb werden alle Sparten und Aktivitäten von EUROSOLAR weiterwachsen müssen: hartnäckige Vorstöße im Parlament für nationale Gesetze und internationale Institutionen; Unterstützung und Initiierung technischer, lokaler und regionaler Solaraktivitäten; und, nicht zuletzt: die Entwicklung sozialer und kultureller Phantasie, damit wir alle die kommenden, notwendigen Veränderungen nicht als Einschränkungen über uns ergehen lassen, sondern uns als Teilnehmer "an der spannendsten Situation, vor der sich die Weltgesellschaft je befunden hat" (Schellnhuber) begreifen, mit der Chance, neu über die Art, wie wir leben wollen, nachzudenken. In dieser Dreidimensionalität wären die Aktivisten von EUROSOLAR dann die würdigen Erben der Enzyklopädisten, die sich für den neuesten Schrei in der Bergwerksentwässerung oder der Metallurgie ebenso begeisterten wie für eine neue Ordnung der menschlichen Freiheit und des öffentlichen Glücks - und für den Zusammenhang von beiden, und wie man sie durchsetzt. Wie der französische Aufklärer Diderot schrieb: aus Interesse am Leben der Enkel.


Mathias Greffrath ist Schriftsteller und Journalist, war Chefredakteur der Zeitung Wochenpost, ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze und schreibt unter anderem für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung, die tageszeitung und verschiedene Zeitschriften.


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Quelle:
Solarzeitalter 3/2008, 20. Jahrgang, S. 5-8
Politik, Kultur und Ökonomie Erneuerbarer Energien
Redaktion: EUROSOLAR e.V.
Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien
Kaiser-Friedrich-Straße 11, 53113 Bonn
Tel. 0228/36 23 73 und 36 23 75, Fax 0228/36 12 79 und 36 12 13
E-Mail: info@eurosolar.org
Internet: www.eurosolar.org

Erscheinungsweise: vierteljährlich
Jahresabonnement: 20,- Euro zuzüglich Porto.
Für Mitglieder von EUROSOLAR im Beitrag enthalten


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2009