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ATOM/1098: Merkel will Sicherheits-Anforderungen für AKW heimlich absenken (IPPNW)


IPPNW - Berlin, den 9. September 2010

Merkel will Sicherheits-Anforderungen für Atomkraftwerke absenken

"Vertuschungs-Paragraph" soll Abgeordnete hinters Licht führen


Entgegen ihrer Ankündigung, die Sicherheitsanforderungen für Atomkraftwerke zu erhöhen, plant die Bundesregierung nach Informationen der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW klammheimlich, diese Anforderungen gegenüber der aktuellen Rechtslage zu reduzieren. Ein neuer Sonderparagraph im Atomgesetz (§ 7d AtG) soll rückgängig machen, was ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. April 2008 ermöglicht hat: Kläger können derzeit einen Schutz gegen Flugzeugabstürze, gegen Ereignisse mit Ausfall des Schnellabschaltsystems (ATWS) oder beispielsweise auch Schutzmaßnahmen gegen eine Kernschmelze vor Gericht einklagen. Außerdem können die Behörden entsprechende Nachrüstungen verlangen, da es sich bei diesen "auslegungsüberschreitenden" Ereignissen nicht um ein zu akzeptierendes "Restrisiko" handelt.

"Mit dem neuen § 7d soll die derzeit bestehende Klagemöglichkeit, der so genannte Drittschutz, aufgehoben werden. Doch selbst die Aufsichtsbehörden könnten künftig Probleme bekommen, wenn sie gegenüber den Betreibern sicherheitstechnische Nachrüstungen durchsetzen wollen. So bezeichnet der vorgesehene § 7d ein sehr weites Spektrum möglicher Nachrüstungen mit selbst für Juristen absonderlichen Formulierungen faktisch als nicht erforderlich", so IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz. "Das bedeutet in der Konsequenz nichts anderes, als dass die Bundesregierung die seit langem diskutierte Heranführung der Atomkraftwerke an den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik unterlassen möchte. Auch die Schutzmaßnahmen gegen Flugzeugabstürze sind vom Tisch, wenn das Atomgesetz in dieser skandalösen Form novelliert wird."

Nach Auffassung der IPPNW handelt es sich um einen "Vertuschungs-Paragraphen", der vordergründig eine Betreiberpflicht für einen "nicht nur geringfügigen Beitrag zur weiteren Vorsorge" vorgaukelt. "Damit sollen Presse und Öffentlichkeit, insbesondere aber auch die eigenen Bundestagsabgeordneten der Regierungskoalition getäuscht werden, damit sie der Gesetzesänderung zustimmen. Anders ist die nebulöse Gesetzessprache kaum erklärbar", so Paulitz. "Wer nichts zu verbergen hat, wählt auch in Gesetzestexten verständliche Formulierungen."

Darüber hinaus sei dieser Paragraph in sich widersprüchlich, da eine Pflicht für Vorsorgemaßnahmen festgeschrieben werden soll, die nach dem Wortlaut des vorgesehenen Gesetzestextes nicht "erforderlich" ist. "Damit könnten die Betreiber jegliche Nachrüstungsforderungen einer Behörde mit dem Gang vor Gericht blockieren und jahrelang über die richtige Auslegung des Gesetzes streiten. Die Konsequenz dieser neuen Rechtsvorschrift wäre, dass es sich jede Landesbehörde dreimal überlegen würde, bevor sie eine von ihr als notwendig erachtete Nachrüstung verlangt."


Hintergrundinformationen:

1. Im Entwurf der Bundesministerien für Wirtschaft und Umwelt für ein "Energiekonzept" der Bundesregierung vom 7. September wird behauptet, "die Regelungen über Sicherheitsanforderungen an die deutschen Kernkraftwerke" würden im Rahmen der nächsten Atomgesetzänderung "erweitert und auf technisch höchstem Niveau fortgeschrieben". Das entspricht wie dargelegt nicht den Tatsachen.

2. Wesentliche Eckpunkte des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.04.2008: 1. Risikovorsorge gegen "auslegungsüberschreitende Ereignisse" wie zum Beispiel Flugzeugabsturz ist erforderlich. 2. Es handelt sich hierbei nicht um ein zu akzeptierendes "Restrisiko". 3. Bürger können Schutzmaßnahmen gegen derartige Ereignisse vor Gericht einklagen (Drittschutz).

3. Der geplante, neue § 7d AtG "Weitere Vorsorge gegen Risiken" im Wortlaut: "Der Inhaber einer Genehmigung à ist verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die jeweilige Anlage dem Entwicklungsstand von Einrichtungen, Verfahren und Betriebsweisen entspricht, die angemessen und geeignet sind, über die erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch den Betrieb der Anlage hinaus einen nicht nur geringfügigen Beitrag zur weiteren Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit zu leisten."


Über die IPPNW:

Diese Abkürzung steht für International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges engagieren sich seit 1982 für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg. 1985 wurden sie dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seit 1990 stehen zusätzlich gesundheitspolitische Themen (z.B. Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten) auf dem Programm des Vereins. In der IPPNW sind rund 7.000 ÄrztInnen und Medizinstudierende organisiert.


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Quelle:
Presseinformation der IPPNW - Deutsche Sektion der
Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, 09.09.2010
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Sven Hessmann, Pressereferent
Tel.: 030-69 80 74-0, Fax: 030-69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2010