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ATOM/1259: Europäischer Standard für die Planung von Katastrophenschutzmaßnahmen für AKW (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 670-671 / 28.Jahrgang, 4. Dezember 2014

Katastrophenplanung
Ein europäischer Standard für die Planung von Katastrophenschutzmaßnahmen für Atomkraftwerke

von Thomas Dersee



Die Leiter der europäischen Strahlenschutz- und Reaktorsicherheitsbehörden haben erstmals ein europaweites Konzept für die Bewältigung von schweren kerntechnischen Unfällen vorgelegt, das auf eine Initiative des deutschen Bundesumweltministeriums (BMUB) zurückgehe und ein einheitliches Bewertungsschema für den Zustand von Atomanlagen enthalte. Das erklärte das BMUB anläßlich der Veröffentlichung des Papiers am 24. November 2014. Damit würden auch erstmals grenzüberschreitende Empfehlungen für erste Maßnahmen bei schweren Atomunfällen gegeben.

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks lobte der Mitteilung zufolge die Entscheidung als wichtigen Schritt hin zu einheitlichen Standards. Radioaktive Strahlung mache nicht an Grenzen halt. Da es in unseren Nachbarländern mehrere Atomkraftwerke in der Nähe der deutschen Grenze gebe, diene ein gemeinsames Vorgehen auch unserem Schutz. Sie begrüße daher, daß es gelungen sei, ein gemeinsames europäisches Konzept zur Bewältigung von schweren atomaren Unfällen zu erarbeiten.

Das Konzept war in den zurückliegenden Monaten von einer gemeinsamen "Task Force ATHLET" erarbeitet worden. 21 Experten für Reaktorsicherheit, Notfallschutz und Strahlenschutz aus 14 Ländern leiteten "aus den Erfahrungen in Fukushima ein robustes Bewertungsschema für den Zustand eines havarierten Atomkraftwerks ab und gaben Empfehlungen für die Planung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung in der Frühphase eines schweren Unfalls", wird erklärt. Die Experten sind Vertreter der Leiter der europäischen Strahlenschutz- (Heads of the European Radiological Protection Competent Authorities, HERCA) und Reaktorsicherheitsbehörden (Western European Nuclear Regulator's Association, WENRA). HERCA ist eigenen Angaben zufolge ein freiwilliger Zusammenschluß, der 2007 gegründet wurde. WENRA begann mit seiner Kooperation bereits 1999.

In allen europäischen Ländern gebe es seit Jahren effiziente Mechanismen, um im Notfall adäquat reagieren zu können, behauptet das BMUB. Auf Basis einer Vielzahl von Anlagenparametern könne in Verbindung mit numerischen Wettervorhersagen präzise prognostiziert werden, welche Maßnahmen an welchem Ort notwendig seien, um die Bevölkerung vor Schaden zu bewahren. Wie die dreifache Katastrophe von Fukushima allerdings gezeigt hat, hat genau das in Japan nicht funktioniert. "Widrige Umstände", heißt es deshalb jetzt, könnten dazu führen, daß der für diese Form von Vorhersagen und Bewertungen notwendige Datenaustausch unterbrochen wird. In genau solchen "extrem unwahrscheinlichen" Situationen, wie sie aber in Japan bereits stattfanden, soll das nun vorgestellte Bewertungsschema Anwendung finden. Es ermögliche eine "robuste Klassifizierung auf Basis einer stark reduzierten Anzahl von Anlagen- und Wetterparametern", die auch unter ungünstigsten Bedingungen zur Verfügung ständen.

Das Bewertungsschema sei bewusst auf die wesentlichen Maßnahmen Evakuierung, Aufenthalt in Gebäuden und Jodblockade reduziert, wird erklärt:

• Bis zu einem Abstand von 5 Kilometern vom Atomkraftwerk sollen die zuständigen Behörden auf eine Evakuierung vorbereitet sein. Und für eine eventuelle Ausweitung auf bis zu 20 Kilometer soll eine geeignete Strategie vorliegen.

• Bis zu einer Entfernung von 20 Kilometern sollen die Bewohner darauf vorbereitet sein, sich in ihren Wohnungen aufzuhalten. Auch eine Jodblockade ist hier vorgesehen. Für eine eventuelle Ausweitung auf bis zu 100 Kilometer soll eine geeignete Strategie vorliegen.

Diese Planungsradien entsprechen weitgehend denjenigen, die die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK) in diesem Jahr empfohlen hat und die derzeit in Deutschland von den zuständigen Behörden umgesetzt werden, erklärt das BMUB. Der deutsche Ansatz gehe bei der Jodblockade aber über den jetzt verabredeten europäischen Standard hinaus. Für Kinder, Jugendliche und Schwangere soll im ganzen Bundesgebiet und nicht nur im Umkreis von 100 Kilometern um Atomkraftwerke herum Vorsorge getroffen werden.

"In Anbetracht des Sicherheitsniveaus europäischer Atomkraftwerke" und der im Rahmen der Fukushima-Nachlese umgesetzten Verbesserung meinen HERCA und WENRA, daß die Wahrscheinlichkeit eines mit Fukushima vergleichbaren Ereignisses, das tatsächlich Evakuierungen in bis zu 20 Kilometer Entfernung und Aufenthalt in Gebäuden sowie Jodblockaden bis zu einer Entfernung von 100 Kilometern notwendig macht, in Europa sehr gering sei.

Die Empfehlungen der deutschen SSK waren am 13./14. Februar 2014 von diesem Gremium verabschiedet worden. Strahlentelex hatte unter der Überschrift "Neue deutsche Notfallpläne bringen nur vergleichsweise reduzierten Strahlenschutz" in der Ausgabe vom 3. April 2014 berichtet. Die praktische Umsetzbarkeit der Empfehlungen wird bezweifelt. Langfristig umgesiedelt werden soll demnach zudem in Gebieten, in denen eine jährliche Strahlenbelastung von mehr als 100 Millisievert infolge des radioaktiven Niederschlags zu erwarten ist. Wie verlautete hatte man in der SSK diskutiert, diesen Wert auf 50 Millisievert zu halbieren. In ihrer dann veröffentlichten Empfehlung spricht die SSK jedoch nicht mehr davon. In Japan beträgt dieser Wert nämlich lediglich 20 Millisievert und bei Tschernobyl betrug er sogar nur 5 Millisievert pro Jahr. Der deutsche Strahlenschutz ist damit schlechter als der in Japan und in den Ländern der früheren Sowjetunion. 20 Millisievert jährlich ist zudem der Wert, der beruflich strahlenexponierten Personen zugemutet wird. Diese Tatsachen könnten zu einer Diskussion des deutschen Richtwertes führen und dessen Absenkung die Größe der betroffenen Gebiete und die Zahl der betroffenen Personen vervielfachen, wird befürchtet. Offenbar ist das der Grund, weshalb dies von der SSK nicht mehr erwähnt wird.

Für die Umsetzung der Pläne sind in Deutschland die Bundesländer zuständig. Deshalb ist unklar, wann sie in Kraft treten werden. Eine vorangegangene Empfehlung der SSK aus dem Jahre 2006 war erst nach zwei Jahren rechtlich wirksam geworden.


Anmerkungen

Das Positionspapier der gemeinsamen Task Force ATHLET von HERCA und WENRA ist im Internet zu finden unter
http://www.herca.org/herca_news.asp?newsID=41 .

Die Empfehlung der deutschen Strahlenschutzkommission "Planungsgebiete für den Notfallschutz in der Umgebung von Kernkraftwerken":
http://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/2014/Planungsgebiete.pdf?__blob=publicationFile

Hinweise zur Jodblockade: www.jodblockade.de
Strahlentelex 654-655 vom 3. April 2014:
www.strahlentelex.de/Stx_14_654-655_S09-10.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter:
www.strahlentelex.de/Stx_14_670-671_S06-07.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Dezember 2014, Seite 6-7
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2015


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