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ATOM/1275: 4 Jahre nach Fukushima - Eine Risikobetrachtung (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 676-677 / 29. Jahrgang, 5. März 2015

Atommüll
4 Jahre nach Fukushima - Eine Risikobetrachtung

Von Thomas Dersee


Bedeutung, Fehler und Unlogik in den Konzepten des Umgangs mit dem Atommüll in Japan und Deutschland

Seit inzwischen vier Jahren sind alle kommerziellen Atomreaktoren in Japan nicht mehr am Netz. Nach dem Erdbeben, dem Tsunami und der Kernschmelze von drei Reaktoren im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi im März 2011 wurden sie sämtlich abgeschaltet. Wer heute Japan besucht, erlebt in der Nacht trotzdem unvermindert taghell erleuchtete Städte, die deutsche Städte im Vergleich dazu als dunkle Löcher erscheinen lassen. Kein Fahrstuhl in den Hochhäusern und keine Rolltreppe in Bahnhöfen und Kaufhäusern hat mangels Atomstrom den Betrieb eingestellt. Technisch bereitet das offensichtlich keine Probleme. Auch der Tokyoter Stromerzeuger Tepco, Eigentümer der havarierten Anlagen von Fukushima, besaß bereits vor der Katastrophe mehr Kapazitäten zur Stromerzeugung aus Wasserkraft als aus Atomenergie. Trotzdem sollen nach dem Willen der Regierung unter dem japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe bis 2030 die Atomkraftwerke wieder einen Anteil von 15 bis 20 Prozent an der Stromerzeugung haben. In 2010, vor der Katastrophe von Fukushima, waren es noch 27 Prozent (Abbildung 1). Circa 20 Anträge der Betreiber zum Wiederanfahren liegen inzwischen vor. Für die ersten Reaktoren in Sendai auf der südwestlichen Insel Kyushu und in der Präfektur Fukui, 400 Kilometer westlich von Tokyo, hat die Regierung bereits die Genehmigungen dafür erteilt. Im Sommer 2015 sollen diese Reaktoren wieder hochgefahren werden. Das hatte sich verzögert, weil die Betreiber damit verbundene Auflagen nicht rechtzeitig erfüllen konnten.

Das "Wiederherstellungsprogramm" zur Senkung der Strahlenexposition in Japan

Der Umgang mit dem radioaktiven Niederschlag aus den drei Kernschmelzen von Fukushima Daiichi und die fortlaufende Verseuchung des Pazifiks offenbart die Hilflosigkeit des Betreibers, der Regierung und der Behörden. Mehr als 560.000 Kubikmeter radioaktiv belastetes Kühlwasser haben sich bisher angesammelt und lagern in 10 Meter hohen Tanks auf dem Kraftwerksgelände und in dessen Umgebung (Abbildung 2). Circa 400 Tonnen Grundwasser dringen täglich in die Untergeschosse der Reaktoren ein und vermischen sich dort mit 320 Tonnen Kühlwasser, das täglich zur Kühlung der Anlagen zugeführt werden muß, wird berichtet. Eine unbekannte Menge belastetes Wasser sickere durch Lecks in den Pazifik. Tepco baut an einem Eiswall aus gefrorenem Boden, dessen Fertigstellung inzwischen für April 2015 vorgesehen sein soll. Ob er funktionieren wird, ist ungewiß.

Drei Anlagen zur Dekontaminierung des Wassers laufen seit März 2013 lediglich im Testbetrieb. Tepco-Chef Naomi Hirose hatte dem Ministerpräsidenten Abe ursprünglich zugesichert, bis Ende März 2015 alles Wasser "gereinigt" in den Pazifik leiten zu können. Das ist nicht abzusehen. Eine vollständige Entfernung der Radionuklide aus dem Wasser ist technisch nicht möglich und für die Abtrennung von Tritium existiert noch kein einziges Verfahren; lediglich drei Forschungsaufträge hat die japanische Regierung dazu vergeben.

Am 28. Mai 2013 trat eine Neueinteilung der Evakuierungszonen von Fukushima in Kraft. Um den wirtschaftlichen Wiederaufbau anzukurbeln, haben die Behörden beschlossen, die Evakuierungszone von 20 Kilometern um die havarierten Anlagen wieder zu öffnen.(1) Zuvor hatte es eine "Verbotszone" im Umkreis von 10 Kilometern gegeben, die nur mit Schutzkleidung betreten werden durfte, und eine "Evakuierungszone" im restlichen Gebiet. Stattdessen gibt es nun die 'Zone noch unbestimmter Rückkehr' und die 'Zone der Vorbereitung auf die Aufhebung der Evakuierungsanordnung'. Die 'Zone noch unbestimmter Rückkehr' wird charakterisiert als Gebiet mit äußeren Strahlenbelastungen über 50 Millisievert pro Jahr (mSv/Jahr). Zudem soll dort nicht zu erwarten sein, daß in den nächsten 5 Jahren die Belastungen auf 20 mSv/Jahr absinken werden. Unterhalb 20 mSv/Jahr hält die japanische Regierung die "Rückkehr zum normalen Leben" für möglich. 20 mSv/Jahr ist in Deutschland Grenzwert für beruflich strahlenbelastete Personen. In der 'Zone der Vorbereitung' soll "eine Rückkehr zur Normalität innerhalb von 2 Jahren abzusehen" sein. Die Evakuierten dürfen sich hier frei bewegen und ihren Berufen und Geschäften nachgehen. Sobald die radioaktive Belastung, die hier noch zwischen 20 und 50 mSv/Jahr liegt, auf unter 20 mSv/Jahr zurückgeführt ist, sollen die Evakuierten auch wieder ohne Einschränkungen dort wohnen dürfen. (Abbildung 3)

Am Tag nach dem Unfall von Fukushima, am 12. März 2011, waren die 11.500 Einwohner von Okuma-machi evakuiert worden, das circa 5 Kilometer westlich der Reaktoren liegt. Und ebenso 65.000 Menschen aus acht anderen Gemeinden in weniger als 20 Kilometern Entfernung vom Kraftwerk.

Die verbotene Zone ist jetzt kleiner als vorher. Auf diese und andere Weise soll ein Gefühl der Sicherheit und der wiedergewonnenen Bewegungsfreiheit verbreitet und die Gegend um das Kraftwerk Fukushima Daiichi wieder bevölkert werden.

Vom 14. bis 21. Oktober 2013 bereiste danach eine Kommission der Internationalen Atomenergieagentur IAEA die Präfektur Fukushima und verkündete anschließend: "Die japanischen Institutionen werden ermutigt, verstärkt zu kommunizieren, daß in Wiederherstellungssituationen (remediation situations) jede Individualdosis zwischen 1 mSv/Jahr und 20 mSv/Jahr akzeptabel ist und internationalen Standards sowie den Empfehlungen der relevanten internationalen Organisationen wie ICRP, IAEA, UNSCEAR und WHO entspricht."(2)

1 Millisievert pro Jahr (mSv/Jahr) bedeutet: Von 100.000 derart strahlenbelasteten Menschen sterben dadurch jährlich 5 bis 6(3) bis 55(4) an Krebs. Und diejenigen, die einen Grenzwert von 20 mSv pro Jahr deklarieren, meinen entsprechend, daß dadurch verursachte jährliche 110 bis 1.100 zusätzliche Krebstodesfälle unter 100.000 Menschen zu akzeptieren seien. Hinzu kommen nicht tödliche Krebserkrankungen in ähnlicher Größenordnung und ein Mehrfaches an Nicht-Krebserkrankungen wie Stoffwechselstörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Die IAEA verkündete weiter: "Die [japanische] Regierung sollte ihre Bemühungen verstärken, der Öffentlichkeit klar zu machen, daß eine zusätzliche individuelle Dosis von 1 mSv/Jahr ein langfristiges Ziel ist, und zum Beispiel allein durch Dekontaminationsarbeiten nicht in kurzer Zeit erreicht werden kann. Ein Ansatz 'Schritt für Schritt' sollte im Hinblick auf dieses langfristige Ziel verfolgt werden." Und: "Der Nutzen einer solchen Strategie, die es erlauben würde, Ressourcen auf den Wiederaufbau der wesentlichen Infrastruktur zur Verbesserung der Lebensbedingungen zu verwenden, sollte der Öffentlichkeit sorgfältig kommuniziert werden."(2) Mit anderen Worten: Wirtschaftlichen Aspekten wird Vorrang vor der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung eingeräumt.

Zum Vergleich: Die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK) empfahl im Februar 2014 im Einklang mit EU-Empfehlungen künftig gegebenenfalls notwendige langfristige Umsiedlungen erst für Gebiete mit jährlich mehr als 100 Millisievert (mSv) Dosisbelastung. Diskutiert wurde, diesen Wert auf 50 Millisievert pro Jahr (mSv/Jahr) zu halbieren, wovon jedoch abgesehen wurde. Man wollte keine unbequemen Diskussionen in der Öffentlichkeit provozieren. Denn in Japan beträgt dieser Wert jetzt 20 mSv/Jahr und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion betrug er nach der Katastrophe von Tschernobyl 5 mSv/Jahr.(5)

Bislang sollte in Japan bis zu einer Ortsdosisleistung von 0,23 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h) generell in den Ortschaften dekontaminiert werden. Als weiteres Kriterium wurde dazu eine jährliche Belastung von 1 Millisievert (mSv) genannt. Nun ergeben 0,23 µSv/h auf ein Jahr umgerechnet tatsächlich 2 mSv. Begründet wurde diese Diskrepanz mit der Kalkulation, die Menschen würden sich nicht den ganzen Tag im Freien aufhalten und innerhalb von gesäuberten Häusern sei die Belastung entsprechend geringer.

Neues Ziel der japanischen Behörden ist nun seit August 2014 stattdessen eine "zielgerichtete Dekontamination".(6) Messungen und Kalkulationen in vier Gemeinden hätten ergeben, so wurde verkündet, daß in Gebieten mit 0,3 bis 0,6 µSv/h der Jahresgrenzwert von 1 mSv pro Jahr auch eingehalten werde. Als Alternative zur teuren allgemeinen Geländedekontamination, würden die Strahlungsbelastungen jedes einzelnen Bürgers erfaßt und durch individuelle Maßnahmen wie Abschirmungsmaterial auf dem Gelände und "die Aufforderung Hot Spots zu meiden", ersetzt. Die Bürgermeister der vier Städte Fukushima, Koriyama, Soma und Date hätten nämlich die Regierung zuvor gebeten, Möglichkeiten zur Reduzierung der explosionsartig zu nehmenden Dekontaminationskosten zu erarbeiten.(6)

Allein in der Präfektur Fukushima gibt es geschätzte 22 Millionen Kubikmeter Dekontaminat und noch nicht geräumter verstrahlter Schutt durch den Tsunami. Jeweils knapp die Hälfte dieser Menge enthalten japanischen Verlautbarungen zufolge "8.000 Bq/kg und weniger Gesamtaktivität" beziehungsweise "zwischen 8.000 und 100.000 Bq/kg Gesamtaktivität".(7) Material mit einer Belastung von bis zu 8.000 Bq/kg dürfe in normalen Mülldeponien oder Verbrennungsanlagen behandelt werden. Auf dem Gebiet der evakuierten, auf absehbare Zeit nicht mehr bewohnbaren Gemeinden Okuma-machi und Futaba-machi werde ein Zwischenlager geplant, in dem das höher belastete Material bis zu 30 Jahre gelagert werden soll. Danach soll dann ein Endlager außerhalb der Präfektur Fukushima zur Verfügung stehen. In den übrigen vom Fukushima-Fallout betroffenen 11 Präfekturen soll radioaktiv belastetes Erdreich direkt endgelagert werden. Solche Endlager würden in den Präfekturen Miyagi, Tochigi, Chiba, Ibaraki und Gumma geplant.(7)

Das Abschleifen der Fahrbahnoberfläche eines Parkplatzes in Fukushima-Stadt im November 2012 hatte die Belastung zunächst von 2,1 µSv/h auf 0,43 µSv/h verringert.(8) Die Säcke mit dem Dekontaminat sind bisher an Straßenrändern oder auf freien Plätzen in den Gemeinden zwischengelagert. Man kann solche Säcke auch beim Neubau der Deiche in den vom Tsunami zerstörten Gebieten wiederfinden. Führt man sich die gebirgige und bewaldete Natur der Präfektur Fukushima und der angrenzenden Präfekturen vor Augen, so wird klar, daß diese Dekontaminationsversuche nichts anderes als eine Sisyphusarbeit sind. Mit dem nächsten Windhauch beginnen sich die behandelten Flächen wieder mit Radionukliden aus der weiteren Umgebung aufzufüllen.

Empfohlen wird den Bewohnern in Japan auch, die abgetragenen oberen Zentimeter des Erdreichs an einer Ecke des derart bearbeiteten Schulhofs oder Spielplatzes zu vergraben. Das ist insofern sinnvoll, als man von dieser Stelle Abstand halten kann, sofern man sie sich merkt.

Der Umgang mit Atommüll in Deutschland

In Deutschland wird dagegen der umgekehrte Weg gegangen. Belastete Materialien aus dem Abriss und Rückbau der stillgelegten Atomkraftwerke werden zum Recycling und zur Verteilung in der Umwelt freigegeben. Das betrifft rund 95 Prozent der Abrissmaterialien. Nur 5 Prozent sollen in Zwischen- und Endlagern verwahrt werden. Von den 1,8 Millionen Tonnen Abrissmaterialien, aus denen zum Beispiel das Atomkraftwerk Greifswald besteht, werden den Angaben des Eigentümers, der Energiewerke Nord, zufolge 1,2 Millionen Tonnen als "restriktionsfreie" Materialien in die Umwelt entlassen, weitere 500.000 Tonnen werden "freigemessen" und ebenfalls in die Umwelt entlassen, und lediglich 100.000 Tonnen kommen in Zwischenlager und sollen schließlich "endverwahrt" werden.

Die Freimessungen werden vom Eigentümer der Atomkraftwerke selbst durchgeführt. Anhand meßtechnischer "repräsentativer" Indikatornuklide wird festgelegt, ob sie ohne Einschränkung freigegeben oder auf normalen Deponien abgelagert werden.(9) Auf der Deponie Ihlenberg, östlich von Lübeck, wurden zwischen 1996 und Mitte 2010 rund 14.530 Tonnen sogenannte freigemessene radioaktive Abfälle aus dem stillgelegten Atomkraftwerk Lubmin bei Greifswald abgelagert. Die Indikatornuklide während der Freimessung des größten Teils der an die Deponie Ihlenberg abgegebenen Abfälle um das Jahr 2000(10) waren Eisen-55, Cobalt-60, Nickel-63 und Cäsium-137. Deren Gesamtmasse in rund 9.000 Tonnen der Abfälle wird von der zuständigen Behörde mit 1,08 Milligramm angegeben. Die Gesundheitsschädlichkeit liegt jedoch nicht in dieser Masse von gut einem Milligramm, sondern in deren Radioaktivität. Und die beträgt 6,9 Milliarden radioaktive Zerfälle pro Sekunde, genannt Becquerel.(9)

In den Sickerwässern der Deponie Ihlenberg finden sich nun jedoch noch andere Radionuklide: Uran-234 und -238, Blei-214, Strontium-90, Beryllium-7 und vor allen Dingen mit den höchsten Aktivitätswerten Tritium.(11)

Tritium ist ein reiner Betastrahler. Es kommt überwiegend in Wassermolekülen vor und entfaltet seine Schadwirkung besonders dann, wenn es mit Wasser oder Nahrungsmitteln vom Körper aufgenommen wird. Tritium hat im Vergleich zu Wasserstoff eine dreifach höhere Masse. Tritiumwasser hat einen geringeren Dampfdruck, es verdunstet langsamer und kondensiert schneller. Deshalb kann es in Böden zur Anreicherung von Tritium kommen. Der Tritiumgehalt in pflanzlichen Assimilationsprozessen wäre dann größer als im daneben fließenden Bach. Tritiumatome unterscheiden sich chemisch nicht von Wasserstoff und lassen sich deshalb mit chemischen Methoden nicht aus dem Wasser entfernen.(12) Physikalische Methoden sind dafür bisher nicht erprobt.

Die Freigabe von Atommüll zum Recycling, zum Verbrennen und zur Lagerung auf normalen Hausmülldeponien wurde in der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) vom 20. Juli 2001 geregelt, zuletzt geändert am 4. Oktober 2011. Sie enthält eine Liste von mehr als 300 Radionukliden und Isotopen, für die jeweils angegeben ist, wie hoch deren Aktivitätskonzentration sein darf, damit der Atommüll freigegeben werden kann. Das erste Radionuklid in dieser Liste ist Tritium und davon dürfen es in flüssigen und festen Stoffen bis zu 1 Million Becquerel pro Kilogramm sein, um uneingeschränkt, das heißt ohne weitere Kontrolle freigesetzt zu werden. Für die Ablagerungen auf Deponien dürfen es auch 60 Millionen Becquerel pro Kilogramm sein. Gemessen und kontrolliert werden im Freigabeverfahren jedoch alle diese Radionuklide aus der Liste der Strahlenschutzverordnung nicht. Das geschieht lediglich mit vier bis fünf Indikatornukliden.

Sind die Bedingungen in der Radionuklidliste der Strahlenschutzverordnung erfüllt, so wird davon ausgegangen, daß "für Einzelpersonen der Bevölkerung nur eine effektive Dosis im Bereich von 10 Mikrosievert im Kalenderjahr auftreten kann." Und für natürlich vorkommende radioaktive Stoffe, das heißt insbesondere für die Altlasten aus dem Uranbergbau in Sachsen und Thüringen, dürfen es auch 1 Millisievert im Kalenderjahr sein, bis zu denen keine Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergriffen werden (Abbildung 4). 1 Millisievert ist das Hundertfache von 10 Mikrosievert.



Abbildung 4: Verordnung über den Schutz vor Schäden durch ionisierende Strahlen
Das im Strahlenschutz etablierte Dosiskonzept kann keine Risiken von Einzelpersonen beschreiben

Solche Werte werden von den Regierungen deklariert, das heißt von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates, also der Länderregierungen beschlossen, ohne daß ein Parlament darüber befindet.(13) Derart werden institutionelle Fakten etabliert, die es zuvor nicht gab und die von den Leuten oftmals nur deswegen akzeptiert werden, weil sie deren Bedeutung nicht verstehen.(14) Deshalb sei hier erläutert:

"... für Einzelpersonen der Bevölkerung ..."

Eine solche auf Einzelpersonen bezogene Formulierung hatte es in der Strahlenschutzverordnung zuvor nicht gegeben. Mit dem Hinweis, die Stilllegung alter Atomkraftwerke werde immer teurer, veröffentlichte 1998 der damalige Vorsitzende der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) Roger H. Clarke sein neues Konzept der "Controllable Dose", der "kontrollierbaren Dosis", mit dem Grundsatz: Ist das Schadensrisiko für die Gesundheit des am stärksten exponierten Individuums insignifikant (trivial), so sei das Gesamtrisiko insignifikant, unabhängig davon, wieviel Menschen exponiert sind.

Zuvor benutzte die ICRP gesellschaftsbezogene (societal) Kriterien, indem sie mittels des Begriffs der Kollektivdosis die Summen über alle Populationen und alle Zeiten bildete, um den entstehenden Gesamtschaden und seine Kosten gegen die Kosten für die Aufwendungen zum Strahlenschutz abzuwägen.

Jedoch: Nicht die Schwere einer Erkrankung, nur die Zahl der Erkrankungen wird durch die Strahlendosis bestimmt. Wer erkrankt, erleidet die Krankheit in ihrer vollen Ausprägung. Auch die kleinste Strahlendosis kann eine Erkrankung auslösen. Oder verglichen mit einer Lotterie: Wenn jemand mit hohem Einsatz nicht gewinnt, so kann trotzdem jemand gewinnen, der weniger einsetzt. Wir haben es mit "stochastischen" Strahlenschäden zu tun.

Die skandinavischen Strahlenschützer urteilten deshalb: Die "kontrollierbare Dosis" entspricht lediglich der Politik der langen Schornsteine, sie ändert nichts an der Gesamtbelastung und am Gesamtschaden, sie macht ihn nur weniger übersichtlich. Beim Wirtschaftsverband Kernbrennstoff-Kreislauf und Kerntechnik e.V. (WKK) ist man dagegen stolz darauf, den deutschen Behörden und Politikern die Verwendung der Kollektivdosis ausgeredet zu haben.(15)

Das hatte Konsequenzen auch bei der Neufestlegung von Sicherheitsanforderungen für die Endlagerung wärmeentwickelnder (sogenannter hochaktiver) radioaktiver Abfälle, wie sie im Juli 2009 vom Bundesumweltministerium festgelegt wurden (Abbildung 5). Abgelöst wurden damit Anforderungen aus dem Jahr 1983. Nun heißt es darin:



Abbildung 5 - Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle


Es wird festgelegt, daß "für wahrscheinliche Entwicklungen das vom Endlager ausgehende zusätzliche Risiko eines Menschen kleiner als 10-4 ist, im Laufe seines Lebens einen scherwiegenden Gesundheitsschaden (...) zu erleiden". Das heißt, von 10.000 Personen darf dadurch eine an Krebs sterben.

Für "weniger wahrscheinliche Entwicklungen" soll ein Risiko bis 10-3 zulässig sein. Das heißt, auch bereits von 1.000 Personen darf eine an Krebs sterben, wobei "das gleichzeitige Auftreten mehrerer unabhängiger Fehler nicht zu unterstellen" sei.

Tatsächlich bedeutet das: Innerhalb einer großen Gruppe von Individuen erkrankt oder stirbt unter einem bestimmten Einfluss zum Beispiel von 10.000 Individuen eine Person. In der Umkehrung, also wenn eine Person davon herausgegriffen wird, hat diese aber nicht ein Risiko von 10-4; sie erleidet entweder den Schaden oder eben nicht. In dem Bild der Lotterie: Das einzelne Los ist entweder ein Gewinn oder eine Niete, es kann seine Eigenschaft nicht wechseln.

In der Statistik sind die Aussagen stets gerichtet, können nicht umgekehrt werden, es gilt kein Gleichheitszeichen. Umgangssprachlich ausgedrückt: Das individuelle Risiko hängt von diversen individuellen Gegebenheiten ab, über die in Richtung der ursprünglichen Aussage hinweggemittelt wurde. Die Formulierung "... für Einzelpersonen der Bevölkerung ..." in der Strahlenschutzverordnung und in den Sicherheitsanforderungen für die Endlagerung wärmeentwickelnder (hochaktiver) radioaktiver Abfälle ist deshalb sachlich falsch.

"... eine effektive Dosis ..."

Zudem: Die effektive Dosis wird als Summe der Strahlendosen gebildet, die die einzelnen Organe und Gewebe des Körpers treffen, wobei diese Organdosen mit Wichtungsfaktoren multipliziert werden, die die unterschiedliche Empfindlichkeit der Organe gegenüber Strahlenbelastungen berücksichtigen sollen. Dabei werden bei der Wichtung jedoch nur die Todesfälle und genetische Schäden der 1. Generation berücksichtigt. Nicht tödliche Krebserkrankungen und andere Erkrankungen wie Stoffwechselstörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die ebenfalls Folge von Strahlenbelastungen sein können, bleiben bei diesem Dosiskonzept unberücksichtigt.

Dosis [Sv] aus Inhalation und Ingestion = Dosiskoeffizient [Sv/Bq] x Aktivität [Bq]

Die Dosis in Sievert aus Inhalation und Aufnahme mit der Nahrung (Ingestion) wird berechnet aus einem nuklidspezifischen Dosiskoeffizienten in Sievert pro Becquerel mal der Aktivität in Becquerel. Weil jedoch bei der Freigabe des Atommülls in der Strahlenschutzverordnung nur die Einhaltung von Aktivitätskonzentrationen in Becquerel pro Gramm (Bq/g) vorgeschrieben ist, kann die Dosis in Sievert daraus erst errechnet werden, wenn auch die freigegebenen Müllmengen bekannt sind und in einem Register erfaßt werden. Das wird zur Freigabe jedoch nicht gefordert, weshalb die Einhaltung der 10 Mikrosievert pro Jahr nicht überprüfbar ist.

Die zu erwartenden Schäden lassen sich auch erst kalkulieren, wenn zusätzlich Annahmen über die Größe des betroffenen Kollektivs gemacht werden. Bei einer uneingeschränkten Freigabe ohne weitere Kontrollen ist davon auszugehen, daß alle circa 80 Millionen Menschen in Deutschland davon betroffen sein können. Dann bedeuten jährlich zusätzliche 10 Mikrosievert effektive Dosis zusätzlich 44 (lt. ICRP 2007)(3) bis 440 Krebstote (lt. diversen anderen Autoren)(4) pro Jahr. Werner Neumann hat zudem gezeigt, daß im Rahmen der Freigabepraxis auch eine 1.000-fache Überhöhung möglich ist.(16)

Fazit

Während in Japan versucht wird, die Belastung durch den radioaktiven Fallout von Fukushima wenigstens teilweise zu verringern, wird in Deutschland mit der Freigabe von Materialien aus stillgelegten Atomanlagen die radioaktive Umweltbelastung absichtsvoll erhöht.

Die Freimessungen von Atommüll sind ein Bluff. Durchgeführte Kalkulationen zu Radionuklidkonzentrationen und Dosisbelastungen sind reine Hypothesen. Kontrollrechnungen lassen sich nicht durchführen.

Mit der Freigaberegelung wurde in Deutschland auf dem Verordnungswege eine der Grundlagen des Strahlenschutzes, das Minimierungsgebot, praktisch abgeschafft. Die Praxis der Freigabe zeigt eindrücklich, wie wirtschaftliche Interessen vor dem Gesundheitsschutz rangieren.

In Frankreich wird auch der schwachaktive Atommüll in oberflächennahen Endlagern verwahrt.

Wissenschaftlich begründbare Kriterien für eine Entscheidung darüber, wieviele Menschenopfer entsprechend den 20 Milli-, 1 Milli- oder 10 Mikrosievert pro Jahr akzeptabel sein sollen, gibt es nicht. Abgeordnete des Deutschen Bundestages sträuben sich dagegen, eine öffentliche Diskussion darüber zu führen und eine solche Entscheidung zu treffen. Sie überlassen das dem Wechselspiel von Lobbyisten, Regierungen und Behörden. Der Verantwortung derart nicht gerecht zu werden ist nicht nur ein Versagen einzelner Parlamentarier, sondern auch des Parlaments insgesamt.


Anmerkungen

(1) Annette Hack: "Wir werden unser Leben damit verbringen, unser eigenes Grab zu schaufeln". Strahlentelex 634-635, 2013, S. 9-10,
www.strahlentelex.de/Stx_13_634-635_S09-10.pdf

(2) IAEA Preliminary Summary Report: The Follow-up IAEA International Mission on remediation of large contaminated areas offsite the Fukushima Daiichi Nuclear Power Plant, Tokyo and Fukushima Prefecture, Japan, 14-21 October 2013, NE/NEFW/ 2013.
www.strahlentelex.de/Stx_13_646-647_S10-11.pdf

(3) 5,5 %/Sv den Risikoschätzungen der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP von 2007 zufolge

(4) Risikoschätzungen anderer Autoren, z.B. Wolfgang Köhnlein, Rudi H. Nussbaum: Neue Erkenntnisse über die Gefährlichkeit niedriger Strahlendosen; Strahlentelex 90-91, Okt. 1990, S. 3-11

(5) Neue Deutsche Notfallpläne bringen nur vergleichsweise reduzierten Strahlenschutz, Strahlentelex 654-655, April 2014. S. 9-10,
www.strahlentelex.de/Stx_14_654-655_S09-10.pdf

(6) The Yomiuri Shinbun, August 02, 2014, Sparmaßnahmen bei Dekontaminationen in Japan, Strahlentelex 664-665, Sept. 2014, S. 10-11,
www.strahlentelex.de/Stx_14_664-665_S10-11.pdf

(7) Nihonkeizaishinbun, August 26, 2014, Sparmaßnahmen bei Dekontaminationen in Japan, Strahlentelex 664-665, Sept. 2014, S. 10-11,
www.strahlentelex.de/Stx_14_664-665_S10-11.pdf

(8) Eigene Messung des Autors am 9.11.2012 in Fukushima Stadt

(9) Thomas Dersee: Große Mengen Atommüll vorgeblich "freigemessen" und wie gewöhnlicher Müll auf Deponie abgelagert, Strahlentelex 570-571, Okt. 2010, S. 9-10,
www.strahlentelex.de/Stx_10_570_S09-10.pdf

(10) 2000: 1.747,1 Tonnen, 2001: 7.154,5 Tonnen freigemessene radioaktive Abfälle lt. Schreiben des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Mecklenburg-Vorpommern, Kai Erichsen, Az 582-00006, Schwerin, 14.09.2010

(11) Thomas Dersee: "Freigemessene" Radionuklide aus dem Rückbau von Atomkraftwerken werden mit Sickerwässern aus Deponien freigesetzt, Strahlentelex 638-639, Aug. 2013, S. 6-7,
www.strahlentelex.de/Stx_13_638-639_S06-07.pdf

(12) Sebastian Pflugbeil: Gründe für besondere Aufmerksamkeit im Umgang mit dem Wasserstoffisotop Tritium, Strahlentelex 406407 v. 4.12.2003, S. 5-7
www.strahlentelex.de/Stx_03_406_S05-07.pdf

R. Scholz: Das Tritium-Problem, Informationen zur Strahlenchemie/biologie/pathologie und Bewertung einer Strahlenbelastung durch Tritium. Strahlentelex 122123 v. 6.2.1992, S. 1,3,4

R. Scholz: "Was schwer Meßbar ist, kann auch nicht schaden?" Die falsche Bewertung von Tritium, Strahlentelex 84-85 v. 2.8.1990, S. 4
www.strahlentelex.de/Umweltradioaktivitaet.htm#Tritium

(13) Sylvia Kotting-Uhl, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, am 7. April 2014 in Berlin anläßlich des Fachgesprächs "Verlorene Mädchen" durch Radioaktivität zum Autor: "Das soll die Wissenschaft entscheiden."

(14) "'Deklarationen' etablieren institutionelle Fakten, die es zuvor nicht gab. Sie beschreiben die Welt und verändern die Welt und erreichen dies, indem sie die Welt so beschreiben, als ob die beabsichtigte Veränderung bereits eine Tatsache wäre."
"Deklarationen sind in dem Maße erfolgreich, in dem andere sie akzeptieren. Manchmal geschieht dies durch direkte Einigung oder durch Autorität, die auf Sachkenntnis oder politischem Verständnis beruht. Manchmal ist Überredung nötig, um Akzeptanz zu erzielen. Manchmal wird die Einigung mit einer Art quid pro quo erkauft. Wenn all das scheitert, kann Gewalt oder ein ähnliches Mittel angewandt werden, um jede andere Möglichkeit auszuschließen. Aber Leute akzeptieren oftmals institutionelle Fakten auch bloß deswegen, weil sie deren Bedeutung nicht verstehen. Sie akzeptieren einfach, daß die Deklarationen die natürliche und notwendige Ordnung der Dinge darstellen."

Shoshana Zuboff, em. Charles-Edward-Wilson-Professorin an der Harvard Business School: "Lasst Euch nicht enteignen!" Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.9.2014, S. 9

(15) Thomas Dersee: Strahlenschutz ist keine demokratische Veranstaltung, Strahlentelex 546-547, Okt. 2009, S.7-8,
www.strahlentelex.de/Stx_09_546_S07-08.pdfh

(16) Werner Neumann: Bis zu 1.000-fach höheres Strahlenrisiko bei der Freigabe von Atommüll aus dem Abriss von Atomkraftwerken, Strahlentelex 662-663, Aug. 2014, S. 1-8,
www.strahlentelex.de/Stx_14_662-663_S01-08.pdf


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abbildung 1: Japans Nettostromerzeugung nach Brennstoffen in Trewattstunden, 2000 bis 2013. Source: U.S. Energy Information Administration, International Energy Agency, METI

Abbildung 2: In großen Tanks auf dem Kraftwerksgelände von Fukushima-Daiichi lagern insgesamt 560.000 Kubikmeter radioaktiv verseuchtes Wasser.

Abbildung 3: Zoneneinteilung seit dem 28. Mai 2013 in der Umgebung des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter:
www.strahlentelex.de/Stx_15_676-677_S01-06.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, März 2015, Seite 1-6
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2015

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