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ATOM/014: 125.000 Unterschriften gegen Export von Atomtechnologie (urgewald)


urgewald / Campact - Mittwoch, 6. Juli 2011

125.000 Unterschriften gegen Export von Atomtechnologie

Umweltorganisationen kritisieren Doppelmoral deutscher Atompolitik und fordern Rücknahme der Hermesbürgschaft für das brasilianische AKW Angra 3


Berlin, 6.7.2011. Aktivisten der Organisationen urgewald, Campact und Attac protestierten heute vor dem Kanzleramt in Berlin gegen eine deutsche Hermes-Bürgschaft für das brasilianische Atomkraftwerk Angra 3. Sie hatten in den letzten Wochen über 125.000 Unterschriften gegen die Bürgschaft gesammelt, die Wirtschaftminister Rösler übergeben werden sollen.

"Im Windschatten der Debatte um den deutschen Atomausstieg will die Bundesregierung still und heimlich den Ausbau der Atomkraft in Brasilien fördern", erklärt Fritz Mielert von Campact. "Mit unserer Aktion heute protestieren wir gegen diese Doppelmoral in der deutschen Atompolitik."

Sit-in und Kundgebung bei strahlender Sonne vor dem Bundeskanzleramt - © Christian Russau, FDCL

© Christian Russau, FDCL

Die Bundesregierung hat bereits im Februar 2010 die Grundsatzzusage für eine Bürgschaft über 1,3 Milliarden Euro für das Atomkraftwerk Angra 3 erteilt, diese aber bis heute nicht in eine endgültige Bürgschaft umgewandelt. "Die Finanzierung ist ins Stocken geraten, weil die beteiligten französischen Banken zusätzliche Sicherheitsanalysen gefordert haben. Es ist ein Armutszeugnis, dass Banken aus dem atomfreundlichen Frankreich kritischer nachfragen als die Bundesregierung", kommentiert Regine Richter, Energieexpertin von urgewald.

Vor dem Bundeskanzleramt - Fotoshoot für ein atomkritisches T-Shirt - © Christian Russau, FDCL

© Christian Russau, FDCL

Der brasilianische Atomsektor stand in den letzten Wochen im Kreuzfeuer der Kritik: So wurde bei einer Prüfung nach der Fukushima-Katastrophe festgestellt, dass der Meiler Angra 2 seit zehn Jahren ohne Betriebsgenehmigung läuft. In ihrer Bewertung von Angra 3 kommt die Bundesregierung zu dem Schluss, dass auch die Katastrophenpläne für diesen Reaktor unzureichend sind und er nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert ist. Trotzdem hält Schwarz-Gelb an dem Projekt fest. "Wenn es um gute Geschäfte geht, ist der deutschen Regierung die Sicherheit von uns Brasilianern wohl egal", sagt Sérgio Dialetachi, brasilianischer Energieexperte. "Gerade in Sachen Katastrophenschutz und Sicherheitsstandards birgt der brasilianische Atomsektor enorme Risiken in sich. So etwas darf die Bundesregierung nicht mit einer Bürgschaft unterstützen."

Hermesbürgschaften werden Unternehmen gewährt, um diese in so genannten "schwierigen Märkten", besonders Entwicklungs- und Schwellenländern, gegen die Zahlungsunfähigkeit lokaler Besteller abzusichern.

Protest im Liegestuhl vor dem Bundeskanzleramt; atomkritische Plakate und Fahnen - © Christian Russau, FDCL

© Christian Russau, FDCL

Raute

Hermesbürgschaft für brasilianisches AKW Angra 3 zurückziehen und Ausschlusskriterium für Atomexportförderung wieder einführen

Die Bundesregierung hat in der Folge der Reaktorkatastrophe von Fukushima die Sicherheit aller deutschen Kernkraftwerke überprüfen lassen und beschlossen, die Nutzung der Kernenergie bis 2022 zu beenden. Das entsprechende Gesetz hat am 30. Juni 2011 mit breiter, parteienübergreifender Mehrheit den Bundestag passiert.

Wir begrüßen den Atomausstieg, er wäre allerdings aus Sicht der Umweltorganisationen zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen. Was in der Debatte um den Atomausstieg jedoch bisher vollkommen fehlt, ist die Kohärenz in der Außenwirtschaftsförderung. Im Jahr 2001 wurde als Folge des damaligen Atomausstiegs auch die Exportförderung von Nukleartechnologie durch Hermesbürgschaften ausgeschlossen. Dieses Ausschlusskriterium wurde 2009 wieder aufgehoben. Seitdem wurden mindestens elf Anträge für Atom-Bürgschaften bewilligt (in China, Frankreich, Japan, Südkorea, Litauen, Russland, Slowenien); weitere liegen derzeit zur Prüfung oder als Anfrage vor (in Südafrika, Großbritannien, Finnland, Vietnam). Besonders skandalös ist die Gewährung einer Grundsatzzusage für eine Bürgschaft über 1,3 Milliarden Euro für den Bau des brasilianischen AKW Angra 3, die die Bundesregierung bereits im Februar 2010 erteilte. Bisher wurde diese nicht in eine endgültige Bürgschaft umgewandelt, weil die Finanzierung noch nicht geklärt ist und noch gravierende Sicherheitsbedenken gegen das Projekt bestehen.


Denn in den letzten Monaten gab es zahlreiche Negativschlagzeilen aus dem brasilianischen Atomsektor:

• So wurde bei einer Prüfung der brasilianischen Atomreaktoren nach der Fukushima-Katastrophe festgestellt, dass der Zwillingsmeiler Angra 2 seit zehn Jahren ohne endgültige Betriebsgenehmigung läuft.

• Seit Jahren stehen die brasilianischen Atombehörden in der Kritik, ihre Kontrollfunktion nicht hinreichend wahrzunehmen. Neben Angra 2 laufen zahlreiche andere Nuklearanlagen seit Jahren nur mit provisorischer Betriebsgenehmigung, zentrale Auflagen werden nicht umgesetzt und auf Störfälle nicht adäquat reagiert. Besonders problematisch sind die rudimentären Katastrophenschutzmaßnahmen bei Angra 1 und 2: der zentrale Fluchtweg ist nicht darauf ausgerichtet, die Bevölkerung hinreichend schnell zu evakuieren. Zudem blockieren immer wieder Erdrutsche diesen Fluchtweg, ohne dass deswegen die Anlagen bei solchen Notfällen heruntergefahren werden.

• Im Mai gab es im brasilianischen Nordosten in der Nähe der einzigen Uranmine des Landes, Caetité, die bisher größten Atomproteste des Landes. Die Bevölkerung protestierte mit einer einwöchigen Blockade gegen den Versuch der Atombehörde INB, einen Urantransport von Sao Paulo nach Caetité geheim zu halten.

• Trotz zahlreicher Sicherheitsbedenken gegen Angra 3, die sich u.a. in einer großen Anzahl von Bau- und Betriebsauflagen niederschlagen, hält die brasilianische Regierung weiter unbeirrt an diesem Atomprojekt fest. Brasiliens staatliche Entwicklungsbank Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social (BNDES) hat ungeachtet der laufenden Gespräche zwischen der brasilianischen und deutschen Regierung zur Sicherheit der Anlage am 27. Juni 2011 die erste Kreditzahlung für den Bau des umstrittenen Atomkraftwerks Angra 3 an Eletronuclear in Höhe von umgerechnet ca. 90 Millionen Euro überwiesen. Damit versucht sie, Fakten zu schaffen und den Druck auf internationale Banken und Exportkreditagenturen zu erhöhen, ihre Kreditentscheidung möglichst schnell und definitiv zu treffen.

Obwohl diese aktuellen Vorkommnisse den Nuklearsektor in Brasilien in höchst fragwürdigem Licht erscheinen lassen, hält die Bundesregierung an der Grundsatzzusage für die Hermesbürgschaft fest. Während im Inland alle Expertenkommissionen zum Thema Atomenergie inzwischen Ergebnisse und Empfehlungen vorgelegt und den Ausstieg empfohlen haben, verhandeln brasilianische und deutsche Regierung weiter über Angra 3. Ein Indiz dafür, dass beim Thema Atomexportförderung andere Maßstäbe angelegt werden als beim deutschen Atomausstieg. Dies zeigt sich auch daran, dass z.B. die Reaktor-Sicherheitskommission im Inland die Risiken "zivilisatorisch bedingter Ereignisse" und dabei konkret das Risiko von Flugzeugabstürzen geprüft und Empfehlungen dazu abgegeben hat. Gleichzeitig gibt die Bundesregierung offen zu, dass Angra 3 nicht entsprechend gegen Flugzeugabstürze gesichert ist, was allerdings auch nicht erforderlich sei, da sich der Prüfkatalog der Kommission schließlich nur auf deutsche Kernkraftwerke beziehe. Eine solche Argumentation halten wir für verantwortungslos und inakzeptabel.


Angesichts der prekären Sicherheitslage in Brasilien und im Sinne einer kohärenten Atom-Ausstiegspolitik fordern wir von der Bundesregierung:

• die Rücknahme der Grundsatzzusage für Angra 3, da sich mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima und dem beschlossen Atomausstieg, die Sach- und Rechtslage geändert hat, was die Rücknahme der Bürgschaft erlaubt;

• die Wiedereinführung des Ausschlusskriteriums für Atomexporte bei der Vergabe von Hermesbürgschaften;

• die Aufkündigung der noch existierenden bilateralen Nuklearabkommen (u.a. zwischen Deutschland und Brasilien).

Dr. Barbara Happe/Regine Richter, urgewald Juli 2011


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Quelle:
urgewald/Campact-Pressemitteilung vom 06.07.2011
urgewald-Hintergrund Juli 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2011