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ARTENSCHUTZ/006: Kasachstan - Der plötzliche Saiga-Tod (KRITISCHE Ökologie)


KRITISCHE Ökologie - Zeitschrift für Umwelt und Entwicklung
Nr. 75 Ausgabe 25 [2] - Herbst 2010

Kasachstan: Der plötzliche Saiga-Tod

Von Axel Goldau


Am Anfang des vorherigen Jahrhunderts im zaristischen Russland fast ausgerottet, anschließend durch das größte nachhaltige Wildnutzungsprogramm auf der Nordhalbkugel zum häufigsten Großsäuger der ehemaligen Sowjetunion gemacht, schien die Saiga-Antilope [1] (Saiga tartarica) auch mit der Sowjetunion dem Untergang geweiht: Das ländliche Wirtschaftsleben war zusammengebrochen, und die Bevölkerung hatte ihre Erwerbsquellen verloren. Den Menschen blieb als einzige Einkommensquelle oft nur die Ausbeutung der Wildtierbestände: 43% der zentralasiatischen Huftiere gerieten seit der post- sowjetischen Zeit an den Rand ihrer Ausrottung. Vor den Saigagebieten befindet sich ein riesiger Markt, der kontrolliert während der Sowjetzeit auch bedient wurde. Auf das nachhaltige Wildnutzungsprogramm folgte der freie Handel mit Saigaprodukten - vor allem Horn - für den riesigen Markt, den die traditionelle chinesische Medizin eröffnete (KÜHL 2008a, b).

Abb. 1: Saiga-Bock im typischen Passgang; Zoologischer Garten Köln - 13. Mai 2008. Foto: Kritische Ökologie / - ag

Abb. 1: Saiga-Bock im typischen Passgang; Zoologischer Garten Köln - 13. Mai 2008.
Foto: Kritische Ökologie / - ag

Zu dumm, dass bei dieser Art nur die Böcke Hörner tragen: Und so wurde vor allem ihnen so erbittert nachgestellt, dass sich in einigen Populationen überhaupt keine, in anderen nur noch zwischen 1 - 10 % Böcke fanden (IUCN 2010). Dieser Prozess wurde von einer großen internationalen Naturschutz-Organisation sogar noch gefördert: 1991 hatte der WWF eine Öffentlichkeitskampagne in Hongkong gestartet, die Produkte der hoch gefährdeten Nashörner durch Hörner der - damals noch für ungefährdet gehaltenen - Saigas zu ersetzen. Bereits ein Jahr darauf reiste der vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UN Environment Programme: UNEP) als "Sondergesandter" berufene WWF-Ökologe Esmond Bradley Martin durch viele asiatische Länder, um Apotheker zu überreden, Saigahorn einzuführen (PEARCE 2003). "Der Erfolg" stellte sich schnell ein: Nomadisierten 1994 noch etwa 1 Millionen Saigas durch die Steppen Kasachstans, Turkmenistans und Usbekistans sowie der Russischen Föderation, war bereits zehn Jahre darauf der Tiefpunkt von weniger als 50.000 Saigas erreicht - ein plötzlicher Absturz um etwa 95% (KÜHL 2008a, b).

Durch Beweidung - vor allem an ihren Wurfplätzen - schufen Saigas ideale Brutbiotope für Großtrappe (Otis tarda) und Steppenkiebitz (Vanellus gregarius). Seit 2003 folgt der Steppenkiebitz der Saiga auf der Roten Liste der gefährdeten Fauna in die Kategorie "unmittelbar von der Ausrottung bedroht" (critically endangered), und die Zahlen der Großtrappe im Saiga-Verbreitungsgebiet sind stark rückläufig (ZGF). Mittlerweile geht es Dank großer Anstrengungen in den Arealstaaten und internationaler Koordination wieder bergauf: Vier der fünf Populationen sind mittlerweile stabil oder wachsen. Allerdings sind die einzelnen Populationsgrößen nach wie vor noch sehr gering: Noch ist die Saiga nicht über dem Berg (UNEP/CMS 2010).

Und dann dies! Zwischen dem 18. und 21. Mai 2010 verendeten - je nach angenommener Populationsgröße - etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Tiere der Ural-Population - plötzlich in der Nordwest-Provinz Kasachstans nördlich des Dorfes Borny. 11.920 Tiere erlagen dem plötzlichen Saiga -Tod, darunter waren 7.625 Geißen, 4.259 neugeborene Lämmer und nur 45 junge Böcke. Die gute Nachricht: Die nur geringe Anzahl toter Böcke spiegelt nicht das durch Wilderei verschobene Geschlechterverhältnis wider, sondern gründet sich in der Tatsache, dass der plötzliche Saiga-Tod an einem Wurfplatz erfolgte, der ohnehin allenfalls nur noch von vorjährigen Jungböcken aufgesucht wird. Die schlechte Nachricht: Der plötzliche Saiga-Tod ist wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt (GRACHEV & BEKENOV 2010).

Die umfassenden Untersuchungen ergaben eine Pasteurellosis-Epidemie, verursacht durch das gram-negative Kurzstäbchen Pasteurella multocid, das sowohl bei Wild- als auch bei Haustieren weit verbreitet ist, aber selten zu Todesfällen oder gar Epidemien führt: Gesunde Tiere können den Erreger mit ihrem Immunsystem abwehren. Pasteurella macht erst dann seinem zweiten Name multocid ("viel tötend") volle Ehre, wenn das Immunsystem ihrer Wirte bereits überfordert ist. Dies ist bei einer Schwächung des Allgemeinzustands der Fall, dem eine Influenza-artige Virusinfektion, Mangelernährung oder allgemeine Konditionsschwäche zugrunde liegen kann.

Der plötzliche aktuelle Saiga-Tod ereignete sich nach einem sehr harten Winter und zur Wurfzeit: Die trächtigen Geißen kamen geschwächt aus dem Winter; Trächtigkeit und das Ablammen stellt ohnehin eine große Belastung für die Geißen dar. Solch plötzliches Massensterben bei Saigas im Zusammenhang mit Pasteurellosis ist in Kasachstan bereits mehrfach beobachtet worden:
• im Mai 1981 etwa 100.000 Saigas in der ehemaligen Turgai-Provinz;
• im Februar / März 1984 etwa 100.000 Saigas im Wolga Ural-Gebiet;
• im Mai 1988 etwa 270.000 Saigas wiederum in der ehemaligen Turgai-Provinz im selben Gebiet wie bereits 1981 (BEKENOV et al. 1998).

In sämtlichen Fällen - einschließlich beim aktuellen Massensterben in diesem Jahr - zeigten die verendeten Tiere Ausflüsse blutigen Schaums aus den Mäulern und Nasenhöhlen und blutigen Durchfall. Der plötzliche Saiga-Tod im Mai 1988 und 2010 erfolgte jeweils zur Wurfzeit nach besonders strengen, schneereichen Wintern.

Massensterben in Verbindung mit Pasteurellose ist auch von anderen Wildboviden bekannt: Nach MORGAN (2010) sind nordamerikanische Dickhornschafe (Ovis canadensis) sehr empfänglich für Pasteurellose mit Verlustraten bis zu 90% in bestimmten Populationen. LUSHCHEKINA (2010) berichtet von wiederholtem Massensterben von Mongolischen Gazellen (Procapra gutturosa) 1974, 1980, 1983 und 1985 in der Mongolei. Sie zitiert Untersuchungen, nach denen die Mineralien-Zusammensetzung der Futterpflanzen in den Zusammenhang mit dem Massensterben gebracht wird.

Einigkeit besteht unter allen beteiligten Wissenschaftlern, dass diese Fälle von Massensterben mit Pasteurellose in Verbindung stehen und dass Pasteurella multocid seinem Name große Ehre macht (s. o.). Ebenso besteht Einigkeit darin, dass das Geflecht von Ursache und Wirkung hier längst noch nicht aufgeklärt ist und dringender Forschungsbedarf besteht.

Massensterben für "Massentiere" wie Saiga und Procapra könnten durchaus völlig natürliche Prozesse sein, die sich unter bestimmten Bedingungen wiederholen: Für eine Art wie Saiga tartarica aber, die nicht durch Pasteurellose, sondern durch unkontrollierte Bejagung an den Abgrund gerückt worden ist, können solche Ereignisse allerdings den Todesstoß bedeuten.

Auffällig ist, dass derartiges Massensterben bei Saigas erst seit den frühen achtziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts dokumentiert ist: Hat es dies vorher nicht gegeben? Ist es übersehen oder vertuscht worden?

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre hatten die Saigas ihren Höhepunkt mit etwa 1,5 Millionen Tieren erreicht. Kasachstan alleine aber könnte drei Millionen Tieren Platz bieten. Diese Bestandshöhe wurde aber nie erreicht. Vielleicht liegen die Gründe des Massensterbens tiefgründig verborgen und stehen im Zusammenhang mit dem, was dazu führte, dass die Saiga-Bestände bereits vor längerer Zeit nicht mehr angewachsen sind? Die Saiga-Arealstaaten, insbesondere Kasachstan, sind dabei, die Gründe solchen Massensterbens zu ermitteln. Momentan fehlt es allerdings noch an entsprechenden Forschungsmitteln.

Abb. 2: Karte über die heutige Verbreitung der beiden Unterarten der Saiga-Antilope, der Russischen (Saiga tartatrica tartarica) sowie der Mongolischen (S. t. mongolica), verändert nach IUCN 2010 - Kritische Ökologie / - ag

Abb. 2: Die heutige Verbreitung der beiden Unterarten der
Saiga-Antilope, der Russischen (Saiga tartatrica tartarica) sowie
der Mongolischen (S. t. mongolica), verändert nach IUCN 2010
Kritische Ökologie / - ag

Danksagung: Ich danke Frau Dr. Aline Kühl, Saiga Conservation Alliance und CMS, dass sie mich sicher durch die teils widersprüchliche Datenlage geleitet hat und für wichtige Informationen, Hinweise auf die aktuelle einschlägige Literatur sowie deren Bereitstellung.


Angaben nach:

BEKENOV, A. B.; GRACHEV, Iu. A. & E. J. MILNER-GULLAND
(1998): The ecology and management of the Saiga
antelope in Kazakhstan; Mammal Rev.: 28[1]: 1-52.

GOLDAU, A. (2005): Mit der Sowjetunion endete auch die größte Erfolgsgeschichte nachhaltiger Wildtiernutzung auf der Nordhalbkugel; Kritische Ökologie Nr. 62/63 - 20[1/2]: 26-33; Berlin / Göttingen

GRACHEV, Y. & A. BEKENOV (2010): Mass mortality among saigas in Kazakhstan: 12,000 dead; Saiga News: Nr. 11 [Sommer]: 2 - 3; Saiga Conservation Alliance (Ed.) ICUN (2010): Redlist of threatened species 2010.3: www.redlist.org/ apps/redlist/details/19832/0 (Zugriff am 04. Okt. 2010)

KÜHL, S. A. (2008a): The conservation Ecology of the Saiga-Antelope; Ph.D. Thesis Div. Biol. Univ. London

KÜHL, S. A. (2008b): What drives saiga poaching?; http://www.cic-wildlife.org/uploads/media/008_Kuehl_EN_small_03.pdf

LUSHCHEKINA, A. (2010): Possible underlying causes of
mortality from Pasteurellosis; Saiga News: Nr. 11
[Sommer]: 4-5; Saiga Conservation Alliance (Ed.)

MORGAN, E. (2010): Pasteurellosis as a cause of diseases in wild ungulates; Saiga News: Nr. 11 [Sommer]: 3-4; Saiga Conservation Alliance (Ed.)

PEARCE, F. (2003): Rhino rescue plan decimates Asian antelopes; New Scientist vom 12. Februar 2003 online: http://www.newscientist.com/article.ns?id=dn3376

UNEP/CMS (2010): Revised Overview Report, Ulan Bator 09. - 10. Sept. 2010; http://www.cms.int/species/saiga/2ndMtg_Mongolia/Mtg_Rpt/Annex_4_Revised_Overview_Report_E.pdf

ZGF (o.J.): Schutzprogramm für die kasachische Saiga-Population; http://www.zgf.de/?projectId=40&id=65&language=de (Zugriff am 07. Okt. 2010)



[1] "Antilope" ist kein zoologisch-systematischer Begriff. Sie alle gehören in die sehr vielfältige, naturhistorisch relativ junge Familie der Hornträger (Bovidae). Saiga-Antilopen werden in die nähere Verwandtschaft der Gazellen (Antilopinae) gestellt. Insofern ist die Bezeichnung Saiga-Antilope hier angemessen, wenn auch im fortlaufenden Text einfach nur von Saiga die Rede sein wird.


Mit dem Auf und Nieder der Saiga beschäftigt sich ausführlich das Titelthema der Kritischen Ökologie Nr. 62/63 - Bd. 20[1/2]: 26 - 33. 2005:

Mit der Sowjetunion endete auch die größte Erfolgsgeschichte nachhaltiger Wildtiernutzung auf der Nordhalbkugel.


*


Quelle:
Kritische Ökologie, Nr. 75 Ausgabe 25 [2] Herbst 2010, S. 8-10
Herausgegeben vom Institut für angewandte Kulturforschung (ifak) e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2011