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KATASTROPHEN/051: Japans Vorsorgeplanung für die nächste Atomkatastrophe (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 624-625 / 27. Jahrgang, 3. Januar 2013

Katastrophenplanung
Neue "Schutzmaßnahmen bei Krisen" in Japan
Vorsorgeplanung für die nächste Atomkatastrophe

von Thomas Dersee



Die japanische Nuclear Regulation Authority (NRA) beim japanischen Umweltministerium (Ministry of the Environment, MOE) hat am 13. Dezember 2012 "Überlegungen" zur Festsetzung sogenannter Optimierter Eingreifrichtwerte (Optimized Intervention Level, OIL) für Schutzmaßnahmen bei Atomkatastrophen veröffentlicht. Als "Indikator für Evakuierungen als Schutzmaßnahmen bei Krisen" galt bisher in Japan eine Effektivdosis durch äußere Bestrahlung von 50 Millisievert (mSv). Dies wurde jetzt modifiziert zu einer Effektivdosis von 50 mSv innerhalb 1 Woche. Derselbe Wert von 50 mSv/Woche soll auch für die Schilddrüsen-Organdosis und für die Äquivalentdosis für Föten gelten.

Schnelle Evakuierung innerhalb weniger Stunden

Als "Standard für die Evakuierung der Bevölkerung innerhalb weniger Stunden oder den Aufenthalt in geschlossenen Räumen" setzt die NRA zudem 500 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h) fest. Für "den Zeitraum, in dem die Konzentration von Radionukliden in Lebensmitteln noch nicht gemessen werden kann" soll zudem ein Standard von 0,5 µSv/h für die Verzehrsbeschränkung von Lebensmitteln aus lokaler Produktion gelten - "soweit sie nicht unverzichtbar sind". Und als Standard für die Dekontamination der Körperoberfläche der Evakuierten wird die Zählgeschwindigkeit des Detektors (ß-Strahlung: 40.000 cpm) festgesetzt. Dazu sollen die Evakuierten einer Reihenuntersuchung unterzogen werden und bei Überschreiten des Standards soll schnell dekontaminiert werden. (Der Wert von 40.000 cpm (counts per minute) bezieht sich auf Meßfenster mit einer Oberfläche von 20 Quadratzentimetern. In Japan sind Geräte mit größeren Meßfenstern in Gebrauch, als es dem Standard der IAEA entspricht.)

Maßnahmen in der frühen Phase innerhalb weniger Tage bis Wochen

Für Maßnahmen, die in einer frühen Phase, das heißt "innerhalb einer bis einiger Wochen" durchzuführen sind, legt die NRA in Anlehnung an den Indikator für geplante Evakuierungen (innerhalb eines Monats zu räumende Regionen) nach der Reaktorenkatastrophe von Fukushima Daiichi in Höhe einer Effektivdosis von 20 mSv pro Jahr diesen Wert als Standard fest: 20 mSv über 1 Jahr. Als Standard für eine zeitweise Umsiedlung der Wohnbevölkerung innerhalb einer Woche leitet die NRA daraus einen Wert von 20 µSv/h ab.

Verzehrsbeschränkungen über lange Zeiträume

Der Richtwert, der für Maßnahmen der Verzehrsbeschränkungen für Lebensmittel von wenigen Tagen bis zu langen Zeiträumen gilt, habe bisher in Japan bei einer Expositionsdosis durch Lebensmittel von bis zu 5 mSv pro Jahr für alle Radionuklide gelegen. Die IAEA hat dafür einen Wert von 10 mSv pro Jahr empfohlen. Weil der japanische Wert bisher jedoch niedriger als der der IAEA war, solle er in Japan weiter beibehalten werden, meint die NRA und leitet daraus Verzehrsbeschränkungen für Lebensmittel ab beim Überschreiten von:

300 Becquerel Jod-131 pro Kilogramm (Bq/kg Jod-131) in Trinkwasser, Milch und Milchprodukten sowie von
2000 Bq/kg Jod-131 in Gemüse, Eier, Fisch u.a.
200 Bq/kg Cäsium-137 und Strontium-90 in Trinkwasser, Milch und Milchprodukten sowie von
500 Bq/kg Cäsium-137 und Strontium-90 in Gemüse, Eier, Fisch u.a.
20 Bq/kg Uran in Trinkwasser, Milch und Milchprodukten sowie von
100 Bq/kg Uran in Gemüse, Eier, Fisch u.a.
1 Bq/kg Plutonium in Trinkwasser, Milch und Milchprodukten sowie von
10 Bq/kg Plutonium in Gemüse, Eier, Fisch u.a.

In Japan seien Messungen aller Radionuklide relativ leicht durchzuführen, erklärt die NRA. Deshalb würden Werte für ein von der IAEA empfohlenes vorgeschaltetes Screeningprogramm als unnötig angesehen.

Kommentar: Die Methodik der IAEA

Die japanische Atomregulierungsbehörde NRA bezieht sich bei ihrer Planung für neue Atomkatastrophen ausdrücklich auf die Methodik der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) - der internationalen Lobbyorganisation der Atommächte und der Atomindustrie. Das ist besorgniserregend.

Die grundsätzliche Entscheidung der NRA, die Standards der IAEA anzuwenden, ist bereits im Oktober 2012 getroffen worden. Am 30. Oktober 2012 erließ die Behörde neue Katastrophenschutzrichtlinien, die einen verbesserten Katastrophenschutz in 30 Kilometer-Zonen um Atomkraftwerke gewährleisten sollen. Dazu gehören Evakuierungsrichtlinien mit den jetzt konkretisierten Grenzwerten, bei deren Überschreitung evakuiert werden muß, und Evakuierungspläne, die in den betreffenden Regionen bis Ende März 2013 erarbeitet werden sollen. Nach den bisher gültigen Richtlinien waren solche Pläne nur für ein Gebiet von 8 bis 10 Kilometer um die Kraftwerke gefordert. Nach den neuen Richtlinien sollen Einwohner im 5 Kilometer-Umkreis sofort zur Evakuierung aufgefordert werden, wenn ein schwerer Nuklearunfall zu erwarten ist.

Die Erfahrungen aus der Katastrophe von Fukushima, mit Erdbeben, Reaktorunfall und Tsunami - unpassierbare Straßen, zerstörte Bahnlinien und Transportmittel, unterbrochene Versorgung mit Elektrizität und Treibstoffen, unbrauchbar gewordene Monitore, unterbrochene Datenübermittlung, um nur einiges zu nennen -, haben bei der Erarbeitung der Richtlinien offenbar eine untergeordnete Rolle gespielt. Zugrundegelegt wurde eine Computersimulation der Kernschmelze für 16 der jetzt noch intakten 50 japanischen Atomkraftwerke auf der Basis der von den Betreibern gesammelten Wetterdaten (Windrichtung, Niederschlag u. ä.). Ziel der Simulation war es, je Kernkraftwerk die Gebiete herauszufinden, in denen die Strahlung den IAEA-Evakuierungswert von 100 Millisievert innerhalb von 7 Tagen überschreiten könnte. Die Simulation wurde der Öffentlichkeit bereits am 24. Oktober vorgestellt. 6 der 16 Simulationen waren fehlerhaft - aufgrund von Dateneingabefehlern waren die geographischen Lokalisierungen um 22,5 Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht und mußten korrigiert werden. In vier der 16 simulierten Szenarien ging die 100 Millisievert in 7 Tagen-Grenze über den 30 Kilometer-Radius hinaus. Das berichtete die japanische Zeitung The Daily Yomiuri in ihrer Ausgabe vom 1. November 2012.

Konzentration auf die Vermeidung akuter Strahlenschäden

Eingreifrichtwerte oder Notfall-Referenzwerte wurden erstmals in den späten 1950er Jahren nach dem Unfall in Windscale in Großbritannien (UK) vom UK Medical Research Council aufgestellt. Ähnliche Konzepte und Richtwerte für Maßnahmen nach einem Nuklearunfall wurden in der Folgezeit zwar von vielen Ländern übernommen, erst in den frühen 1980er Jahren jedoch hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (KEG) damit begonnen, von einem Expertengremium Maßnahmen nach Nuklearunfällen analysieren zu lassen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden in einer KEG-Veröffentlichung [CEC 82] zusammengeführt, die als Leitfaden für Strahlenschutzkriterien zur Beschränkung von Strahlendosen der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen radioaktiver Stoffe verstanden werden sollte. Enthalten sind darin Zahlenwerte als Eingreifrichtwerte (Intervention Level) für kurzfristige Maßnahmen, speziell den Verbleib in geschlossenen Räumen, die Evakuierung und die Ausgabe von stabilem Jod. Über letztes scheinen in Japan noch Unklarheiten zu bestehen.

Es wurden dabei jeweils zwei Werte festgelegt, einen unteren, bei dessen Erreichen man beginnen sollte, die Durchführung der Maßnahme zu erwägen, und einen oberen, bei dessen Erreichen die Maßnahme bereits durchgeführt sein sollte. Den konkreten Umständen eines Nuklearunfalls entsprechend sollte dann innerhalb dieses Wertebereichs ein geeigneter Eingreifwert gewählt werden.

Nachdem der Leitfaden der KEG erschienen war, wurden mehrere vergleichbare Veröffentlichungen auch von verschiedenen internationalen Organisationen herausgegeben, speziell von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) [ICR 84], der Weltgesundheitsorganisation (WHO) [WHO 88] und der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) [IAE 85]. Inhaltlich sind diese Veröffentlichungen, vor allem in Bezug auf die Grundsätze, auf denen Maßnahmen beruhen sollen und hinsichtlich der empfohlenen Eingreifrichtwerte praktisch gleich bis völlig identisch. Sie wurden nämlich weitgehend von derselben Expertengruppe erstellt, merkte bereits Neale Kelly von der Generaldirektion XII for Science, Research and Development der Kommission der Europäischen Gemeinschaften während einer Klausurtagung der deutschen Strahlenschutzkommission im Jahre 1991 an. Wenn hier Einmütigkeit erzielt wurde, sollte dies nicht notwendigerweise als repräsentativ für die Auffassung einer breiteren internationalen Gemeinschaft betrachtet werden, betonte er. Zwar seien die Leitlinien in einigen Bereichen durchaus angreifbar und mehrdeutig, ihr Vorhandensein habe sich jedoch unmittelbar nach dem Unfall von Tschernobyl als sehr hilfreich erwiesen.

Monetäre Kosten-Nutzen-Analysen

Diese Leitlinien in jeder dieser Veröffentlichungen enthalten die Rechtfertigung der Maßnahmen, ihre Optimierung und die Vermeidung deterministischer, also dosisabhängiger akuter Strahlenwirkungen. Die Leitlinien waren jedoch mit Blick auf Atomunfälle geringeren Ausmaßes erdacht worden, bei denen die vorgeschlagenen Maßnahmen zeitlich und örtlich deutlich begrenzt wären. Das Vorgehen bei großen Katastrophen mit Auswirkungen für viele Länder, wie sie inzwischen geschehen sind, wurde nicht behandelt. Kurz nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erließ denn auch die Europäische Gemeinschaft eine erste Verordnung zur Beschränkung der Konzentration von Radionukliden in Nahrungsmitteln [EUR 90]. Diese Verordnung bezieht sich auf Nahrungsmittel bei der Einfuhr aus Drittländern in die EU und ist in etwas modifizierter Form bis heute in Kraft. Ebenso gilt das für eine weitere Verordnung, die die Konzentration von Radionukliden in Nahrungsmitteln bei einem künftigen Unfall in der EU auf einem deutlich höheren Belastungsniveau festschreibt [EUR 89].

Die Erfahrungen mit Tschernobyl führten international zu einer Überarbeitung der Leitlinien. Dabei setzte sich die IAEA an die Spitze dieser Aktivitäten und stellte im Januar 1990 eine neu überarbeitete Fassung fertig [IAE 91]. Die Grundsätze der IAEA-Leitlinien lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Die Maßnahme soll "gerechtfertigt" sein und "mehr Nutzen als Schaden" verursachen. Die Werte, bei denen eine Maßnahme eingeführt und später wieder aufgehoben wird, sollen "optimiert" werden, um einen "maximalen Nettonutzen" zu erzielen. Und schließlich: Schwerwiegende deterministische gesundheitliche Wirkungen sollen verhindert werden, indem man die Strahlendosen für einzelne Personen auf Werte unterhalb der Schwelle für solche Wirkungen begrenzt. Dieser letzte Punkt wird zum Teil auch als Folge einer konsequenten Anwendung der beiden ersten gesehen.

Die "Optimierung" beruht dabei auf Begriffen der monetären Kosten-Nutzen-Analyse. Unter "Nettonutzen" werden dabei die Kosten verstanden, die dem durch die Strahlenbelastung verursachten gesundheitlichen Risiko zuzuschreiben sind, wenn keine Maßnahmen getroffen werden, abzüglich der Kosten, die dem verbleibenden gesundheitlichen Strahlenrisiko zuzuschreiben sind, nachdem die Maßnahme getroffen wurde, sowie abzüglich der Kosten, die den Risiken zuzuschreiben sind, die sich aus der Maßnahme selbst ergeben, und schließlich abzüglich auch der finanziellen und sozialen Kosten der Maßnahme selbst. Gerechtfertigt wäre eine Maßnahme demnach, wenn ihr Nettonutzen positiv ist und das Optimum wäre erreicht, wenn der Nettonutzen einen Höchstwert annimmt.

Die Beschränkung auf deterministische Strahlenschäden bedeutet, daß die empfohlenen Eingreifrichtwerte nicht - wie man erwarten könnte - die Zahl der vielfältigen (stochastischen) Folgewirkungen innerhalb der betroffenen Bevölkerung vermindern helfen, sondern lediglich auf eine Vermeidung unmittelbarer und deshalb auffälliger akuter (deterministischer) Gesundheitsschäden hinwirken sollen. In der öffentlichen Darstellung wird dies gern mit Schweigen übergangen. Allerdings wird damit die vielfach zu hörende formelhafte Beschwörung erklärlich, es bestehe "keine akute Gefahr", während die Menschen sich vielmehr um ihre Zukunft sorgen.

Es ist nicht verwunderlich, wenn die IAEA so vorgeht, denn ihr satzungsgemäßes Ziel ist, die (zivile) Nutzung der Atomenergie zu fördern. Gefährlich allerdings ist es für eine Bevölkerung, wenn deren Regierung und Behörden einer Lobbyorganisation wie der IAEA die Definitionsmacht über Nutzen, Sinn und Zweck von Maßnahmen des Katastrophen-, Strahlen- und Gesundheitsschutzes überlassen. Das gilt nicht nur für Japan, sondern auch für Deutschland. Nötig wäre stattdessen eine offene und öffentliche Diskussion darüber, wieviele mittel- und langfristige Folgeschäden eine Gesellschaft und der Einzelne zu akzeptieren bereit sind.


Nuclear Regulation Authority (NRA) Japan: Grundsätzliche Überlegungen zur Festsetzung von OIL, Materialien 2-3, 13.12. Heisei 24 (2012), (japanisch) www.nsr.go.jp/committee/yuushikisya/pre_taisaku/data/0003_04.pdf, hier zitiert nach einer Übersetzung aus dem Japanischen ins Deutsche von Annette Hack.

The Daily Yomiuri, 1.11.2012, S. 1 u. 3; hier zitiert nach einer Übersetzung von Annette Hack.

G. N. Kelly: Die internationale Entwicklung von Eingreifwerten zur Anwendung bei Nuklearunfällen; in Notfallschutz und Vorsorgemaßnahmen bei kerntechnischen Unfällen, SSK Band 25, Klausurtagung der Strahlenschutzkommission 7./8. November 1991, Gustav Fischer Verlag 1993


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_13_624-625_S03-06.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Januar 2013, Seite 3-6
Herausgeber und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2013