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KATASTROPHEN/079: Fukushima - Die Vertuschung beginnt (IPPNWforum)


IPPNWforum | 136 | 13
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Die Vertuschung beginnt
Über die Verharmlosung der gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe in Fukushima durch UNSCEAR

von Dr. Alex Rosen



Die Anzahl unserer Kinder und Enkelkinder mit Krebs in ihren Knochen, Leukämie in ihrem Blut und Gift in ihren Lungen mag manchem im Vergleich zu natürlichen Gesundheitsrisiken statistisch gering vorkommen. Aber dies ist kein natürliches Gesundheitsrisiko und hier geht es nicht um Statistik. Der Verlust auch nur eines einzigen menschlichen Lebens oder die Missbildung eines einzigen Säuglings, der lange nach uns das Licht der Welt erblicken mag, sollte uns alle berühren. Unsere Kinder und Enkelkinder sind keine bloßen Statistiken, die uns kalt lassen können." Was John F. Kennedy 1963 zu den Auswirkungen überirdischer Atomwaffentests sagte, trifft auch heute noch zu.

Uns Ärzten liegt das Einzelschicksal unserer Patienten am Herzen. Was soll ein Arzt in Fukushima einem jungen Mann sagen, der fragt, ob ihm seine Arbeit in der Dekontaminationseinheit gesundheitlich schaden wird? Was soll man der Mutter sagen, die sich Sorgen über die auffälligen Schilddrüsenzysten macht, die bei ihrem dreijährigen Mädchen gefunden wurden? Was kann man der jungen Frau raten, die in den Wirren der ersten Tage des Super-GAUs aus der Sperrzone um das AKW in ein Gebiet mit noch höherer Strahlung evakuiert wurde und die jetzt Angst hat, schwanger zu werden?

Vor Kurzem veröffentlichte das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen zu den Auswirkungen Radioaktiver Strahlung (UNSCEAR) seinen vorläufigen Bericht zu den Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima. Die Wissenschaftler kommen darin zum Schluss, dass "kein erkennbarer Anstieg der Krebshäufigkeit in der Bevölkerung zu erwarten ist, der mit der Strahlenexposition durch das Unglück in Verbindung gebracht werden könnte." Dem Laien mag dies als Entwarnung gelten, dem wissenschaftlich versierten Leser fallen rasch die gravierenden Einschränkungen dieser vermeintlichen Heilsbotschaft auf. Zwischen den Zeilen ist zu lesen: Es wird zu erhöhten Krebsraten kommen, aber sie werden im statistischen Grundrauschen, also der ohnehin hohen Zahl der Krebserkrankungen in der Bevölkerung, unentdeckt bleiben; und sie werden nicht kausal mit der Strahlenexposition in Verbindung zu bringen sein. Die aufwendige KiKK-Studie, die einen signifikanten Anstieg der Krebsraten bei Kindern in der Umgebung deutscher Atomkraftwerke fand, zeigte allerdings, dass es durchaus möglich ist, solche Effekte aus dem statistischen Rauschen hervorzuheben und überzeugende Dosis-Wirkungsbeziehungen herzustellen - wenn man dies will.

Der UNSCEAR Bericht will dies jedoch offenbar nicht. Er stellt nach Meinung zahlreicher Wissenschaftlerinnen eine bewusste Missinformation der Öffentlichkeitund eine systematische Verharmlosung der gesundheitlichen Risiken von Fukushima dar. UNSCEAR nutzte für seinen Bericht nur Daten der ersten anderthalb Jahre seit Beginn der Katastrophe und verkündete im Mai 2013 in einer groß publizierten Presseerklärung, dass bislang keine gesundheitlichen Effekte in Fukushima beobachtet werden konnten. Doch was bedeutet das, wenn wir über Schadstoffe sprechen, die ihre Wirkung über Jahrzehnte und Jahrhunderte entfalten? Eine definitive Prognose für alle Ewigkeit zu wagen, wie das UNSCEAR in seinem Bericht tut, und dafür noch nicht einmal alle zur Verfügung stehenden Daten oder die derzeitigen Ereignisse in Fukushima miteinbezieht, ist keine gute Wissenschaft. Denn die Atomkatastrophe dauert noch an: Die ungeschützten Kraftwerksruinen stellen noch immer eine große Gefahr dar und durch Lecks werden weiterhin jeden Tag mehrere Hundert Tonnen radioaktives Wasser in den Pazifik gespült.

Zudem stützen sich die Annahmen von UNSCEAR zur radioakstiven Belastung der Arbeiter in Fukushima ausschließlich auf die Daten des Kraftwerkbetreibers TEPCO. Das Komitee verlässt sich dabei fast blind auf die Dosisangaben der Kraftwerksbetreiber und ignoriert Berichte über Manipulationen und Ungereimtheiten dieser Messwerte. Bezüglich der Angaben zur inneren Verstrahlung durch radioaktiv kontaminierte Nahrungsmittel beschränkt sich UNSCEAR auf die Datenbank der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), einer Organisation deren selbst erklärtes Ziel die weltweite Unterstützung und Förderung der Atomenergie ist - nicht gerade eine neutrale Quelle für unabhängige Forschung. Institute und Forschungseinrichtungen, die die Ereignisse in Fukushima kritischer beurteilen und von höheren Strahlendosen ausgehen, werden von den Mitgliedern des Komitees ignoriert.

Diese Einseitigkeit in der Berichterstattung ist im Wesentlichen nicht neu. UNSCEAR war bereits in der Vergangenheit durch eine unangemessene Nähe zur Atomlobby aufgefallen. So wurde beispielsweise in der Bewertung des Super-GAUs von Tschernobyl entgegen vorliegender Forschungsergebnisse behauptet, dass als einzige gesundheitliche Folge 54 Fälle von Schilddrüsenkrebs aufgetreten seien. Alle gesundheitlichen Folgen für die Liquidatoren, die betroffene Bevölkerung in den stark verstrahlten Gebieten und für die Menschen in Europa, die dem radioaktiven Fallout ausgesetzt waren, wurden geflissentlich ignoriert. Und auch in der Aufarbeitung von Fukushima werden die betroffenen Gebiete außerhalb der Präfektur Fukushima gerne außer Acht gelassen und somit das Ausmaß der Folgen kleingerechnet.

Auch werden in dem aktuellen UNSCEAR-Bericht grundlegende Erkenntnisse der Strahlenbiologie ignoriert. So wird beispielsweise behauptet, das ungeborene Kind hätte dieselbe Strahlenempfindlichkeit wie ein Kleinkind. Dabei wissen wir spätestens seit den 1950er Jahren, dass Strahlenexposition im Mutterleib das Krebs- und Missbildungsrisiko von Kindern signifikant steigert. Selbstverständlich hat ein Embryo eine vielfach höhere Strahlenempfindlichkeit - vor allem aufgrund der höheren Zellteilung und des weniger ausgebildeten Immunsystems. Aus diesem Grund versuchen wir Mediziner, wo immer möglich, Kinder und Schwangere vor unnötiger Strahleneinwirkung zu schützen.

Der Strahlenschutzbeauftragte der japanischen Regierung, Shunichi Yamashita, behauptet gerne, dass bei Strahlendosen unter 100 mSv keine gesundheitlichen Folgen zu erwarten sind. Ein solcher Schwellenwert ist natürlich ebenso unwissenschaftlich wie eine "sichere Menge" an Zigaretten, die ein Kind rauchen dürfte, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen. Mittlerweile wird selbst von UNSCEAR und der IAEO anerkannt, dass es keinen Schwellenwert für Strahlung gibt, unterhalb dessen keine gesundheitlichen Folgen zu erwarten sind. Jede auch noch so kleine Strahlendosis bringt ein statistisches Risiko mit sich, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln. Dennoch behaupten die Autoren von UNSCEAR, dass keine nachweisbaren gesundheitlichen Folgen durch die massive Freisetzung radioaktiver Strahlung in Fukushima zu erwarten sind. Die Tatsache, dass eine Krebserkrankung keine Herkunftsbezeichnung trägt und sich nie eindeutig auf eine einzelne Ursache zurückführen lässt, wird von der Atomlobby und auch von UNSCEAR genutzt um jegliche Kausalität abzustreiten - eine Taktik, wie man sie zu Genüge bereits von der Tabakindustrie oder der Asbestwirtschaft kennen.

Zeitgleich mit dem UNSCEAR Bericht veröffentlichte auch der UN-Sonderbeauftragte zum Menschenrecht auf Gesundheit, Anand Grover, seinen Bericht zu der Situation in Fukushima. Er prangert darin an, dass den Betroffenen das Recht auf Gesundheit und auf eine gesunde Umwelt verwehrt wird. Sie hätten keinen Zugriff auf ihre medizinischen Daten, keine Möglichkeit, eine Zweitmeinung einzuholen, und erhielten keine Unterstützung, wenn sie den Beschluss fassten, die kontaminierten Gebiete zu verlassen. Bei der Lektüre von Grovers ausgewogenem, gut recherchiertem und einfühlsamem Bericht wird der eklatante Unterschied zur UNSCEAR-Publikation besonders deutlich. In der Debatte um die Folgen von Fukushima geht es um mehr als nur die Unabhängigkeit der medizinischen Forschung, die sich nicht vor wirtschaftlichen und politischen Interessen beugt. Es geht auch, und vor allem, um das Recht eines jeden Menschen, in einer gesunden Umwelt ohne radioaktive Verstrahlung zu leben. Den Bewohnern der verstrahlten Gebiete wird dieses Menschenrecht derzeit verwehrt.

Als Ärztinnen und Ärzte sind wir eine Verpflichtung eingegangen, uns der Gesundheit unserer Patienten zu widmen, Schaden von ihnen abzuwenden und Empfehlungen auf solide wissenschaftliche Erkenntnisse zu basieren. Als Mitglieder der IPPNW haben wir Bernard Lowns Aufruf verinnerlicht: "Never whisper in the presence of wrong" ("Im Angesicht von Unrecht sollst du nicht flüstern"). Die Verharmlosung der gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima ist ein Unrecht. Den Beschwichtigern geht es um politische Interessen, um Profite, Gelder, um die Zukunft der 50 japanischen Atomreaktoren und das Vermeiden folgenschwerer Schadensersatzansprüche. Uns muss es jedoch um das Schicksal der verstrahlten Menschen gehen. Ihr Leben und ihre Gesundheit auf ein statistisches Problem zu reduzieren, ist zynisch und unangemessen. Deshalb müssen wir uns als Ärztinnen und Ärzte dagegen wehren und unsere Stimme erheben.


Dr. Alex Rosen ist Kinderarzt aus Berlin und stellvertretender Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW.

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Quelle:
IPPNWforum | 136 | 13, S. 16-17
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2014