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KATASTROPHEN/089: Streit über Ursache der Flutkatastrophe im Dreiländereck Bolivien, Brasilien, Peru (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. April 2014

Südamerika: Kontroverse über Ursache der Flutkatastrophe im Dreiländereck Bolivien, Brasilien und Peru

von Mario Osava


Bild: © Mario Osava/IPS

Der Beni, ein Zufluss des Madeira, während des Hochwassers 2011 oberhalb von Cachuela Esperanza, wo die bolivianische Regierung ein Wasserkraftwerk plant
Bild: © Mario Osava/IPS

Rio de Janeiro, 17. April (IPS) - Die Entwaldung in den Andenhochlandgebieten von Bolivien und Peru war nach Ansicht von Marc Dourojeanni, einem emeritierten Professor an der Nationalen Agraruniversität von Lima, die eigentliche Ursache für die dramatischen Überschwemmungen im bolivianischen Departement Beni und im Grenzgebiet zu Brasilien. Doch Umweltschützer und die Regierung in Sucre machen die beiden brasilianischen Staudämme Jirau und Santo Antônio für das Hochwasser des Flusses Madeira verantwortlich, das 60 Menschen den Tod brachte.

Der Madeira oder Madera, wie er in Brasilien beziehungsweise in Bolivien und Peru genannt wird, ist der größte Nebenfluss des Amazonas, der sich wiederum aus vier großen Flüssen speist. Seine Wasserscheide erstreckt sich über eine Gesamtfläche von mehr als 900.000 Quadratkilometern - ein Gebiet von der Größe Venezuelas. Auf Bolivien entfallen etwa 80 Prozent der Wasserscheide. Der Andenstaat bezieht sein Wasser zu zwei Dritteln aus den mehr als 250 Flüssen, die in den Madeira fließen und auf brasilianischem Territorium die Form eines Trichters bilden.

Drei der größten Nebenflüsse des Madeira - der Beni, der Mamoré und der Madre de Dios - entspringen in den Anden in etwa 2.800 bis 5.500 Meter Höhe über den Meeresspiegel. Von dort bis ins bewaldete Tiefland Boliviens geht es steil bergab. Es liegt 500 Meter unter dem Meeresspiegel.

"Vor 1.000 Jahren waren die Berghänge noch bewaldet. Doch jetzt sind sie vor allem aufgrund der dort praktizierten Brandrodung kahl", meint Dourojeanni, ein Agronom und Forstingenieur, der in den 1990er Jahren die Umweltabteilung der Interamerikanischen Entwicklungsbank geleitet hatte. Die Folge sei, dass sich die Wassermassen ungebremst ins bolivianische Tiefland wälzten, bevor sie ihren Weg nach Brasilien fortsetzten. "Gegen die Staudammtheorie sprechen allein schon das Gesetz der Schwerkraft und die Topographie."

Die Überschwemmungen im Zuge heftiger Niederschläge haben rund 68.000 Familien in die Flucht getrieben. Ähnliche Tragödien hatten vor dem Bau der Staudämme nur die beiden Klimaanomalien El Niño und La Niña verursacht.


"Tsunami an Land"

Der Verlust der Wälder in 500 bis 3.800 Meter Höhe über dem Meeresspiegel stellt Bolivien und Peru vor immense Probleme. Da die Bäume als natürliche Entschleuniger wegfallen, ist es Dourojeanni zufolge zu einem solchen "Tsunami an Land" gekommen, der im ersten Quartal 2014 sechs bolivianische Departements und den brasilianischen Bundesstaat Rondônia überschwemmte. Mehr als 5.000 brasilianische Familien mussten den Wassermassen des Madeira weichen, insbesondere als dieser in Porto Velho, der Hauptstadt von Rondônia, über seine Ufer trat. Rondônia ist der Standort der beiden Wasserkraftwerke.

Seit Februar ist zudem die BR-364, eine Straße durch den Amazonas-Regenwald, unpassierbar. Dies führte dazu, dass der brasilianische Bundesstaat Acre vom Rest des Landes abgeschnitten wurde, was zu Engpässen bei der Nahrungsmittel- und Treibstoffversorgung führte. Der Ausbruch von Krankheiten wie Leptospirose und Cholera kostete ebenfalls Menschenleben.

Auch in Brasilien wurden die beiden Dämme für die Überschwemmungen verantwortlich gemacht. Die Bundesgerichte wiesen die Bauunternehmen an, den Überschwemmungsopfern zu helfen, indem sie ihnen beispielsweise Ausweichquartiere zur Verfügung stellen. Die Firmen wurden ferner aufgefordert, neue Untersuchungen über die Auswirkungen der Dämme vorzulegen. Obwohl die Kapazitäten der Wasserkraftwerke erhöht worden waren, sind entsprechende Umweltverträglichkeitsstudien ausgeblieben.

Die Unternehmen und die Behörden sind bestrebt, die aufgebrachte Bevölkerung zu beschwichtigen und sie davon zu überzeugen, dass die Überschwemmungen nicht durch die beiden Staudämme verschärft wurden, deren Stauseen erst kürzlich aufgefüllt worden sind.

Victor Paranhos leitet die Firma 'Energia Sustentável do Brasil' (E-SBR), die den Jirau-Damm errichtet. Er führt das Desaster vor allem auf intensive Niederschläge in der Region zurück. "Zu derartigen Regengüssen kommt es nur alle 500 Jahre", betont er. Den bisher höchsten Wasserstand seit Beginn der Aufzeichnungen 1967 gibt Francisco de Assis Barbosa, Chef des Geologischen Dienstes im Bundesstaat Rondônia, mit 17,52 im Jahr 1997 an. Der neue, Ende März gemessene Pegel lag bei einem Rekordwert von 19,68 Metern.

Während das Einzugsgebiet des Madeira mit den Folgen der extremen Regenfälle zu kämpfen hatte, sahen sich andere Teile Brasiliens von einer Dürre heimgesucht, die in São Paulo Wasserknappheit und eine Energiekrise auslöste. Von Dezember bis März hatte sich ein Mantel aus heißer, trockener Luft über den mittleren Süden Brasiliens gelegt. Dadurch konnten die Winde, die normalerweise feuchtnasse Wolken aus dem Amazonas-Regenwald vor sich hertreiben, nicht in die Region vordringen. Die Folge war, dass die Niederschläge über Bolivien und Peru niedergingen. Klimatologen zufolge werden sich solche Phänomene im Zuge des Klimawandels häufen.

Die Entwaldung beeinflusst das Klima. Werden Wälder in Weiden umgewandelt, multipliziert sich die Wassermenge, die in die Flüsse abfließt, um einen Faktor von 26,7, und die Bodenerosion um den Faktor 10,8, wie Philip Fearnside für das Amazonasforschungsinstitut INPA im Jahre 1989 herausfand. Dies wiederum bedeutet, dass die Hälfte der Niederschläge, die auf Grasland niedergehen, direkt in die Flüsse strömen und die Flutgefahr und Sedimentbildung verstärken.

Je höher die Vegetation und je tiefer die Wurzeln, umso weniger Wasser fließt in die Flüsse ab, ergaben die Messungen von Fearnside auf einem Gelände mit 20-prozentiger Steigung in Ouro Preto D'Oeste, einer Gemeinde in Rondônia.


Bodenerosion durch Landwirtschaft

Der Anbau von Nahrungsmitteln sei für die Böden schlechter als die Umwandlung von Wäldern in Weideland, meint Dourojeanni. Denn durch die Landwirtschaft würden die Böden ausgelaugt. Tatsächlich sorgt das Vieh für eine Verdichtung der Böden, wie Fearnside bestätigt, ein in den USA geborener Professor, der seit 1974 den brasilianischen Amazonas-Regenwald erforscht. Seiner Meinung nach kann die Entwaldung nicht zu den Überschwemmungen in Bolivien beigetragen haben, "da diese zum größten Teil noch vorhanden sind".

Jorge Molina, bolivianischer Hydrologe an der San-Andrés-Universität in La Paz, teilt die Ansicht. Dennoch gehört Bolivien zu den zwölf Ländern der Welt mit den höchsten Abholzungsraten. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie von 15 Forschungszentren, die in der Zeitschrift 'Science' im November 2013 veröffentlicht wurde. Allein zwischen den Jahren 2000 bis 2012 hat das südamerikanische Land knapp 30.000 Quadratkilometer Waldfläche eingebüßt.


Santo-Antônio-Damm durch Überschwemmungen außer Betrieb

Die Viehzucht, eine der treibenden Kräfte der Entwaldung, hat vor allem in Beni um sich gegriffen. Dort sind im Januar und Februar 290.000 Stück Vieh infolge der Überschwemmungen umgekommen, wie der örtliche Verband der Viehzüchter bekanntgab.

Die Wassermassen haben sogar den Betrieb der Wasserkraftwerke eingeschränkt. Die Stromerzeugung durch den Santo-Antônio-Damm musste im Februar vorübergehend eingestellt werden. Dies erklärt nach Ansicht von Dourojeanni das Interesse Brasiliens, weiter flussaufwärts zusätzliche Dämme zu bauen, um die Kraft des Flusses Madeira zur Stromgewinnung zu nutzen.

Neben einem geplanten brasilianisch-bolivianischen Damm im gemeinsamen Grenzgebiet und dem Cachuela-Esperanza-Projekt im Tiefland von Beni gibt es Pläne für den Bau eines Wasserkraftwerks am Inambari in Peru, einem Nebenfluss des Rio Madre de Dios, sagt der Experte. Doch wurden die Pläne für das Inambari-Projekt und für vier weitere Wasserkraftwerke in Peru, für deren Bau brasilianische Unternehmen schon den Zuschlag erhalten hatten, 2011 nach massiven Protesten ausgesetzt. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/04/deforestacion-andina-provoca-tsunami-amazonico/
http://www.ipsnews.net/2014/04/deforestation-andes-triggers-amazon-tsunami/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 17. April 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2014