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LATEINAMERIKA/115: Argentinien - Leben in verseuchtem Flussgebiet, Folgen einer Ökokatastrophe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. September 2015

Argentinien: Leben in verseuchtem Flussgebiet - In Villa Inflamable zeigen sich sämtliche Folgen einer Ökokatastrophe

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Nora Pavón mit einer ihrer Töchter auf einer wilden Müllhalde in Villa Inflamable im Süden der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

AVELLANEDA, ARGENTINIEN (IPS) - In Villa Inflamable, einer Armensiedlung südlich der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, sind die Kinder mit Blei verseucht. Die Einwohner umzusiedeln ist ein ähnlich komplexes sozioökologisches Unterfangen wie die Sanierung eines der verseuchtesten Flussgebiete der Welt.

Villa Inflamable ('Endzündliche Siedlung') liegt in Avellaneda im Großraum Buenos Aires um die Ecke von Dock Sud, dem Standort der Petrochemie. Je näher man der Armensiedlung kommt, umso beißender wird der Geruch nach Chemikalien. In Windeseile dringen Staubpartikel in Mund, Hals und Lunge.

Die Wohnhäuser der mehr als 1.500 Familien wurden auf mit Giftmüll verseuchten Böden errichtet. Gerade für die Kinder eine latente Gesundheitsgefahr. "Als sie ein Jahr alt war, wurden in ihrem Blut 55 Mikrogramm pro Deziliter gemessen. Ich musste sie ins Krankenhaus bringen", berichtet Brenda Ardiles, Mutter einer dreijährigen Tochter. Auch bei ihrem acht Monate alten Säugling wurden hohe Bleiwerte im Blut gemessen.

Der gängige internationale Schwellenwert liegt bei zehn Mikrogramm pro Deziliter. Experten zufolge reicht aber schon eine weitaus geringere Bleimenge aus, um die geistige und psychomotorische Entwicklung von Kindern zu hemmen. Symptome einer Bleivergiftung sind etwa Übelkeit, Bauchschmerzen und Erbrechen, Schlaflosigkeit und Antriebslosigkeit. Bei einem akuten Verlauf kann auch das Hirn geschädigt werden.


Kranke Kinder

Ardiles' Kinder bluten nachts aus der Nase. "Sie klagen oft über Kopf- und Gliederschmerzen", fügt die Nora Pavón, die Schwiegermutter, hinzu. Ihre vier Kinder leiden unter ähnlichen Symptomen. Zwei ihrer Kinder gehen in die Grundschule. "Obwohl sie schon die dritte und vierte Klasse besuchen, können sie nicht lesen", sagt die Mutter. "Von den Ärzten weiß ich, dass das auf die Bleivergiftung zurückzuführen ist."

In Villa Inflamable zeigen sich sämtliche Probleme im Umfeld des Richuelo. Der Fluss entspringt in der Provinz von Buenos Aires und erstreckt sich bis zum östlichen Stadtteil La Boca der argentinischen Hauptstadt, wo er schließlich in den weit größeren Río de la Plata einmündet. In seinem Einzugsgebiet leben mehr als 120.000 Familien in 280 Elendssiedlungen. 18.000 müssen aufgrund des Verseuchungsgrads umgesiedelt werden.

Bereits 2006 hatte die argentinische Regierung einen umfassenden Sanierungsplan für das schwer verseuchte Flusssystem vorgelegt. Damals wurde auch das Amt für das Matanza-Riachuelo-Becken (Acumar) geschaffen. 2008 wurde die neue Institution vom Obersten Gerichtshof aufgefordert, das Gebiet endlich zu sanieren. 2011 legte Acumar einen ehrgeizigen Sanierungsplan vor.


Bild: © Fabiana Frayssinet /IPS

Industriegebiet am Riachuelo in Buenos Aires
Bild: © Fabiana Frayssinet /IPS

Darin sind die Reinigung und Sanierung der Flüsse und Mangroven, der Abtransport von Klärschlamm, die Entsorgung des Mülls, der Bau von Wasser- und Abwassersystemen sowie die Verlegung ganzer Siedlungen vorgesehen. Außerdem ergibt sich daraus für Acamur die Verpflichtung, Fabriken auf die Einhaltung von Umweltstandards zu überprüfen. Auch ist der Bau von 1.900 Wohneinheiten mit Investitionskosten von vier Milliarden US-Dollar vorgesehen.

Wie Nora Pavón berichtet, hat man ihrer Familie eine alternative Unterkunft an einem sicheren Ort angeboten. Beim ersten Mal habe sie aus Platzgründen abgelehnt. "Wir sind drei Familien, die hier unter einem Dach zusammenleben." Das zweite Angebot sei dann annehmbar gewesen.

Doch gibt es viele, die sich weigern, Villa Inflamable zu verlassen. "Oft sind die angebotenen Wohneinheiten zu klein. Viele sind daran gewöhnt, auf großen Grundstücken zu leben", erläutert Claudia Espínola von der Nachbarschaftsgruppe 'Sembrando Juntos' ('Gemeinsam säen'). Andere arbeiteten von zu Hause aus oder seien Müllsammler, die nicht wüssten, was sie anderswo erwarte.

Ein weiterer, aber nicht weniger gewichtiger Grund ist die Rivalität der Fußballteams zwischen den Stadtteilen. So sind viele Familien nicht bereit, ins 'Lager' des gegnerischen Teams zu ziehen. "Zwischen den Anhängern des Fußballclubs Dock Sud und San Telmo besteht eine traditionelle Feindschaft, die sich manchmal gewaltsam entlädt", berichtet Espínola. "Wir arbeiten aber daran, dieses kulturelle Problem zu lösen."


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Eine Straße in Villa Inflamable, einer Armensiedlung im Süden von Buenos Aires
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Acumar hat inzwischen einige Infrastrukturprojekte durchgeführt. So wurden im Rahmen des Sanierungsplans mehr als 1.500 Tonnen Klärschlamm und anderer Schmutz aus dem Wasser geborgen. 1,5 Millionen Menschen wurden nach Verabschiedung des Plans ans Trinkwassersystem angeschlossen. Zudem hat die Behörde längs des Flusses 14 Gesundheitszentren aufgebaut.

Die Weltbank hatte Argentinien 2009 für die Rettung des Riachuelo über 840 Millionen US-Dollar bewilligt. Die Regierung gab für das Vorhaben 644 Millionen Dollar dazu. Aus dem Gesamtpaket sollen 694 Millionen Dollar für die Wasserinfrastruktur, die Kanalisation, Kläranlagen und Pumpstationen ausgegeben werden und weitere 148 Millionen Dollar unter anderen für eine Modernisierung der an den Flussufern ansässigen Fabriken.


Abwasserkanal im Bau

Derzeit entstehen mit Weltbankgeldern ein 11,5 Kilometer langer Abwasserkanal und ein elf Kilometer langer Ablauf. Die Arbeiten sollen im kommenden Jahr abgeschlossen sein. Wie der Acumar-Geschäftsführer Antolín Magallanes berichtet, ist der unterirdische Kanal besonders wichtig, da die Verschmutzung des Riachuelo zu 70 bis 80 Prozent auf Abwässer zurückzuführen ist. Dieses Schmutzwasser soll in Dock Sud und in Berazategui in zwei riesige Tanks eingeleitet würden. Außerdem werden die Wasser- und Sanitärbehörde und die Universität von Buenos Aires sechs Wasserumwälzungs- und Belüftungsanlagen bauen.

Acumar hat zudem die Kontrollen der Fabriken vor Ort verschärft, die 30 Prozent des argentinischen Bruttoinlandsproduktes erwirtschaften. Von den insgesamt 13.000 am Riachuelo angesiedelten Betrieben handelt es sich um 7.000 Fabriken, von denen 1.254 als Umweltsünder identifiziert wurden. Rund 900 der Unternehmen hätten Modernisierungspläne vorgestellt, betont Magallanes.

Nora Pavón stammt ursprünglich aus der nordargentinischen Provinz Chaco. "Ich würde liebend gern mit meiner Familie in mein Heimatdorf zurückkehren, doch gibt es dort keine Arbeit. Das letzte Mal, als wir dort waren, mussten wir uns zwischen Hunger und Blei entscheiden. Uns blieb nur da Blei." (Ende/IPS/kb/22.09.2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2015/09/villa-inflamable-concentra-el-sufrimiento-ambiental-en-argentina/
http://www.ipsnews.net/2015/09/how-to-fix-environmental-woes-in-buenos-aires-shantytown/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. September 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2015

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