Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → INTERNATIONALES


SOZIALES/091: Die Erfinder der Nachhaltigkeit (WWF magazin)


WWF magazin, Ausgabe 2/2016
WWF Deutschland - World Wide Fund For Nature

Die Erfinder der Nachhaltigkeit

Von Dr. Dirk Embert, Johannes Kirchgatter, Brit Reichelt-Zolho und Carola Wehr (alle WWF)


Ob im Dschungel Indonesiens, in der afrikanischen Savanne oder im Regenwald Amazoniens: Der WWF arbeitet in vielen Projektregionen weltweit bereits seit Jahren mit indigenen Völkern partnerschaftlich zusammen, um Ökosysteme und Lebensräume zu erhalten.


Anerkannte Rechte

Der WWF hat bereits 1996 als eine der ersten großen Naturschutzorganisationen offiziell in einer Grundsatzerklärung die Rechte indigener Völker anerkannt. Mit diesem Bekenntnis wollte der WWF sicherstellen, dass seine Naturschutzmaßnahmen die Rechte der Indigenen nicht beeinträchtigen.


Ende der neunziger Jahre kamen Wissenschaftler in einer WWF-Studie zu der Erkenntnis: In den ökologisch wertvollsten Regionen der Erde mit der jeweils höchsten Artenvielfalt leben auch die meisten eigenständigen indigenen Kulturen.

Heute wissen wir, dass sie dort wesentlich zum Erhalt des Naturreichtums beitragen. Im besten Fall vermehren sie ihn sogar. Denn indigene Völker haben, so die Vereinten Nationen, traditionelle Fähigkeiten "zur Regelung komplexer ökologischer Systeme". Über Generationen haben sie unschätzbares Wissen über die Natur und ihre nachhaltige Nutzung gesammelt.

Doch die globale Gier nach Ressourcen bedroht indigene Völker genauso wie die Ökoregionen, in denen sie leben. Vielerorts wurden sie bereits - aus ihrer Heimat vertrieben - durch den Bau von Staudämmen, das Anlegen von Viehfarmen und Plantagen oder den Bau von Straßen. Herausgerissen aus ihrer Lebenswelt, landeten viele Indigene oft in extremer Armut und Verzweiflung.

Deshalb hat der WWF bereits vor Jahrzehnten die Rechte indigener Völker anerkannt und ihre Lebensansprüche in allen Naturschutzprojekten von Anfang an einbezogen. Dort unterstützt er die Menschen aktiv darin, die Natur auf ihre traditionelle nachhaltige Weise zu nutzen - und stärkt sie im Kampf gegen Armut und Ausbeutung. Indigene Völker sind für den WWF die besten Verbündeten zum Schutz der Natur.

Widerstand gegen Unrecht

Die vom Staat ausgewiesenen, großen und selbstverwalteten Indigenen-Territorien in Amazonien bedeuten einen großen Fortschritt. Dort ist zum Beispiel die Entwaldung mit unter zwei Prozent nochmals deutlich geringer als in Naturschutzgebieten. Denn Indigene verteidigen ihre angestammten Wälder auch gegen Zerstörung.

Das tun sie vermehrt auch auf politischer Ebene - wie aktuell in Brasilien. Dort plant das Parlament einen Generalangriff auf Indigenen-Territorien und Naturschutzgebiete gleichermaßen. Neue Gesetzesvorhaben sollen beide für den Bergbau oder zur Energiegewinnung zugänglich machen (WWF Magazin 4/15 und 1/16).

Daher arbeitet der WWF eng mit der Nationalen Indigenen-Organisation Brasiliens zusammen, um mit vielen gemeinsamen Maßnahmen - von der Sammelklage bis zur Verstärkung des öffentlichen Drucks - diese Freibriefe zur Abholzung noch zu stoppen. Mit ersten Teilerfolgen: So wurde ein erster Gesetzesvorschlag erheblich zugunsten der indigenen Rechte modifiziert und ein zweiter vorerst von der Agenda genommen.

Wem gehören die Ressourcen?

Indigene möchten heute zunehmend auch als Wirtschaftspartner anerkannt werden. Halten sie zum Beispiel den Wald gesund, fließt andernorts ausreichend Wasser - in Speicher als Trinkwasser und zur Ackerbewässerung oder in Kraftwerke zur Stromgewinnung. Warum sollten indigene Völker nicht auch einen Beitrag für den Erhalt der Quell- und Herkunftsgebiete des Wassers bekommen? Der WWF setzt sich dafür ein.

Gleiches gilt für Nahrungsmittel oder medizinisch nutzbare Rohstoffe aus Wäldern. Pharma-, Chemie- und Medizinunternehmen etwa konnten sich seit der Kolonialzeit bis heute an den genetischen Ressourcen vieler Entwicklungs- und Schwellenländer und dem traditionellen Wissen indigener Völker meist so gut wie umsonst bedienen. Dieser Biopiraterie wurde vor Kurzem ein Riegel vorgeschoben. Die Vereinten Nationen haben 2010, auch mit WWF-Unterstützung, ein internationales Abkommen ("Nagoya-Protokoll") beschlossen, das 2015 in europäisches und deutsches Recht umgesetzt wurde. Es sorgt dafür, dass indigene Völker einen Ausgleich erhalten, wenn von ihren Territorien genetische Ressourcen wie etwa Heilkräuter entnommen werden oder ihr traditionelles Wissen über deren Wirkung genutzt wird.

Neue Produkte aus dem Wald

Darüber hinaus unterstützt der WWF Indigene dabei, mit ihrer traditionellen Nutzung von Waldprodukten Geld zu verdienen. So half die Umweltstiftung indigenen Gruppen, die nachhaltige Nutzung der Paranuss im Norden Boliviens oder der Amazonasfrucht Camu Camu im Süden Kolumbiens auszubauen. Das Obst hat es in sich: Es besitzt rund 40-mal mehr Vitamin C als Orangen. Der WWF fördert auch die Produktion von Schokolade sowie die Ernte und den Verkauf von Baumölen. Dabei wird der Baum nur angezapft, aber nicht geschädigt.

Medizin und Touristen

In Afrika sind Indigene erst in wenigen Ländern ausreichend organisiert, um ihren Belangen Gehör zu verschaffen. Vielerorts müssen sie noch immer um Anerkennung kämpfen. Deshalb hilft der WWF beim Aufbau indigener Organisationen, die sich für die Rechte und Lebensgrundlagen einsetzen und traditionelles Wissen erhalten. Zum Beispiel im Kongobecken. Die meisten Menschen dort sind sehr arm. Indigene Gruppen wie die BaAka werden massiv diskriminiert. Die dramatisch angestiegene Wilderei hat ihre Lage noch verschlimmert. Denn sie brauchen intakte Wälder und Wildtierbestände zum Leben. Die aber finden sie fast nur noch im Umfeld geschützter Gebiete.

Deshalb setzt sich der WWF bei staatlichen Stellen für die Rechte der Indigenen ein und entwickelt Sondernutzungszonen, in denen ihnen traditionelle nachhaltige Tätigkeiten wie das Sammeln von Honig, Früchten und Heilkräutern erlaubt sind. In Kamerun werden solche Zonen inzwischen für alle vom WWF betreuten Nationalparks entwickelt.

Im Modellprojekt Dzanga-Sangha in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR) sichert der WWF außerdem mit Gesundheitsstationen und mobilen Helfern die medizinische Grundversorgung der BaAka und der Sangha-Sangha und fördert naturverträgliche Entwicklung. So helfen die BaAka dem WWF, im Dzanga-Nationalpark Gorillagruppen an die Anwesenheit von Forschern und Ökotouristen zu gewöhnen. So schafft das Wissen der Indigenen Arbeitsplätze für die gesamte Bevölkerung. Auch im Kampf gegen illegale oder nicht nachhaltige Großprojekte sind indigene und lokale Kommunen die wichtigsten Verbündeten: So konnte der WWF gemeinsam mit ihnen in Kamerun die Zerstörung von mehr als 70.000 Hektar intakter Regenwälder für Ölpalmenplantagen verhindern, indem er lokale Organisationen erfolgreich vor Gericht unterstützte. Nun können Tausende von Familien weiter vom Wald und seinen Produkten leben.

Hilfe zur Selbsthilfe

Wie indigenes Wissen erhalten wird und gleichzeitig einer nachhaltigen Entwicklung sowie dem Naturschutz hilft, zeigt das Beispiel im Gebiet des Bwabwata-Nationalparks in Namibia. In diesem Teil des KAZA-Schutzgebietsnetzwerks leben die Khwe, eine Untergruppe der Buschmänner (Saan), die Ureinwohner des südlichen und östlichen Afrikas. Junge Khwe werden dort als Minderheit unter anderen Ethnien gesellschaftlich an den Rand gedrängt und verlieren zunehmend den Zugang zu ihrer Kultur. Traditionelle überlieferte Fähigkeiten wie das Spurenlesen gehen mit den letzten erfahrenen Khwe verloren. Der WWF und die namibische Entwicklungsorganisation IRDNC haben deshalb mit den Khwe die "Buschman Akademie" aufgebaut. Hier werden junge Khwe wie früher von den älteren "Master-Trackern" im Spurenlesen ausgebildet. So können sie ihr traditionelles Wissen bewahren und sich besser in der Gesellschaft behaupten. Denn mit dem Abschlusszeugnis im Ökotourismus finden sie leicht Arbeit und Einkommen.

Mitbestimmung in Nationalparks

Auch in Asien arbeitet der WWF mit vielen indigenen Völkern zusammen - in Schutzgebieten genauso wie in der politischen Arbeit. Beispiel Nationalpark Kayan Mentarang: Im größten Regenwaldschutzgebiet Borneos erreichte der WWF, dass die indigenen Dayak mit ihren elf Gemeinden seit 2002 offiziell im Nationalparkrat vertreten sind und dort Mitspracherecht besitzen.

Schon sechs Jahre zuvor haben die Indigenen-Gemeinden bei der Grenzziehung und Einteilung des Nationalparks in verschiedene Schutzzonen mitbestimmt - damals ein absolutes Novum in Indonesien. Seitdem unterstützt der WWF den Nationalparkrat dabei, die traditionellen Rechte der Dayak dauerhaft zu sichern und ihnen Einkommen aus der nachhaltigen Waldnutzung zu ermöglichen - zum Beispiel durch Ökotourismus, Bio-Reisanbau und Adlerholzzucht.

Gemeinsame Interessen

Im Nationalpark Betung Kerihun erwirtschaften Dayak-Gemeinden bereits Einnahmen aus dem Ökotourismus, den der WWF aufgebaut hat. Darüber hinaus wurden Waldflächen wieder aufgeforstet. Nun vermarkten die Indigenen-Gemeinden zunehmend Nichtholzprodukte wie Illipeöl (für Speisefett und Kosmetik), Rattan und Kautschuk.

Auch vor der Gründung des Nationalparks Sebangau 2004 diskutierte der WWF eingehend mit der ansässigen Bevölkerung. Viele Anwohner in den 41 Dörfern am Rand des Torfmoorwaldes fürchteten, dass ihnen die Lebensgrundlage und lang angestammte Rechte entzogen würden. Es gelang schließlich, sie von der Einrichtung des Nationalparks zu überzeugen.

Heute helfen sie bei der Wiederaufforstung degradierter Flächen und beim Bau von Staudämmen, um den Torfmoorwald wieder unter Wasser zu setzen. Die Wiedervernässung trägt dazu bei, Waldbrände zu vermeiden, und verhindert zugleich den Ausstoß enormer Mengen klimaschädlicher Treibhausgase. Denn in den Torfmoor-Wäldern Indonesiens ist etwa zehnmal so viel Kohlenstoff gespeichert wie in anderen tropischen Wäldern.

Ideale Verbündete

Auch in vielen weiteren WWF-Projekten weltweit sind indigene Völker ideale Verbündete im Naturschutz. Denn für sie hat nicht kurzsichtige Ausbeutung, sondern die Zukunft nachfolgender Generationen Priorität; Entsprechend sorgfältig behandeln sie ihre Natur, um deren Reichtum zu erhalten oder gar zu vermehren. Rund 5000 indigene Völker mit 300 bis 500 Millionen Menschen leben in mehr als 70 Ländern der Erde. Das sind vier bis sieben Prozent der Weltbevölkerung. Es ist eine Tragödie, dass viele von ihnen in ihrer Existenz bedroht sind.

Schon im Brundtland-Report 1987 stellten die Vereinten Nationen fest: "Indigene Gemeinschaften sind eine Quelle umfassenden traditionellen Wissens. Sie verbinden die Menschheit mit ihren Ursprüngen. Ihr Verschwinden bedeutet einen Verlust für die übrige Gesellschaft, die von den traditionellen Fähigkeiten zur Regelung komplexer ökologischer Systeme noch eine Menge lernen könnte." Denn indigene Völker sind die eigentlichen Erfinder der Nachhaltigkeit. Sie liefern einen unschätzbaren Beitrag zur Erhaltung vieler empfindlicher Ökosysteme der Erde. Nur gemeinsam mit ihnen wird der WWF seine Natur-Schutzziele erreichen.

*

Weltweit zusammen

Der WWF arbeitet seit fünf Jahrzehnten weltweit mit vielen indigenen Völkern und ihren Organisationen zusammen. Durch die enge Kooperation lassen sich gemeinsame Interessen besser durchsetzen, Naturgüter nachhaltiger nutzen und Schutzgebiete effektiver managen. Einige Beispiele finden Sie auf dieser Weltkarte.

YUP'IK und CHU'PIK in Alaska
INUIT in Kanada
KOFAN, SIONA, MURUI in Kolumbien
MUNDURUKU, APIAKA, KAYABI in Brasilien
ASHANINKA, SECOYA in Peru
MAPUCHE in Chile
IMRAGUEN in Mauretanien
BAAKA in der ZAR
SAAN in Namibia
RAI und SHERPAS in Nepal
KAREN in Thailand
DAYAK-Völker auf Borneo
Völker Neuguineas und des Südpazifiks
SIBUYAN MANGYAN TABABUKID auf den Philippinen
EWENKEN und ITELMENEN in Sibirien

Mehr Infos auf wwf.de/indigene


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 12 oben:
Kein Recht auf Heimat - Die Bewohner des Mau-Waldes in Kenia werden durch Kahlschlag von ihrem Land vertrieben. Dieses Schicksal teilen viele indigene Völker.

Abb. S. 12 unten:
An der Quelle - Wo Ökotouristen Waldelefanten beobachten können, entstehen Arbeitsplätze für die Bevölkerung.

Abb. S. 15 rechts:
Nachhaltige Ernte - Der Verkauf von Paranüssen bietet eine Einnahmequelle für die kein Wald weichen muss.

Abb. S. 15 links:
Gemeinsam stark - WWF-Kollegen im Gespräch mit Indigenen am Amazonas, die um den Erhalt ihres Regenwaldes kämpfen.

Abb. S. 16:
Zukunftsmodell - Im Kayan-Mentarang-Nationalpark unterstützt der WWF unter anderem den nachhaltigen Anbau von Reis.

*

Quelle:
WWF Magazin 2/2016, Seite 10 - 17
Herausgeber:
WWF Deutschland
Reinhardtstraße 18, 10117 Berlin
Tel.: 030/311 777 700, Fax: 030/311 777 888
E-Mail: info@wwf.de
Internet: www.wwf.de
 
Die Zeitschrift für Fördermitglieder und Freunde der
Umweltstiftung WWF Deutschland erscheint vierteljährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang