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URBAN/003: Schonfrist für Pekinger Gulou-Viertel, Modernisierungspläne vorerst auf Eis (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. November 2010

China: Schonfrist für Pekinger Gulou-Viertel - Modernisierungspläne vorerst auf Eis

Von Mitch Moxley

Der Glockenturm in Peking - Bild: © Mitch Moxley/IPS

Der Glockenturm in Peking
Bild: © Mitch Moxley/IPS

Peking, 19. November (IPS) - Rikscha-Vermieter Liu hat an diesem kalten und klaren Herbsttag viel zu tun. Nahe dem Glocken- und dem Trommelturm - zwei beliebten Wahrzeichen in Chinas Hauptstadt Peking - drängen sich Scharen von Touristen, die mit dem Fahrrad-Taxi durch das historische Viertel fahren wollen. Die meisten von ihnen dürften nicht wissen, dass die Regierung den Stadtteil Gulou noch vor kurzem abreißen lassen wollte.

Im Januar hatten die Behörden angekündigt, das fast 13 Hektar große Terrain um die Ziegeltürme entkernen zu wollen. Stattdessen sollte dort die 'Beijing Time Cultural City' entstehen - in Anspielung auf die Funktion der Türme. Denn Schläge auf die Trommeln und die Glocke zeigen den Einwohnern des Viertels die Uhrzeit an. Das 73 Millionen US-Dollar teure Projekt sah in Gulou den Bau neuer Häuser für Wohlhabende, einer unterirdischen Einkaufspassage und eines Uhrenmuseums vor.

Die Pläne sorgten international für Aufsehen und wurden im September schließlich stillschweigend auf Eis gelegt. Liu und andere Menschen in dem Viertel reagierten erleichtert. "Wenn Gulou abgerissen wird, verschwindet das alte Peking", warnte der Unternehmer. "Peking wird dann genauso aussehen wie andere Großstädte. Und wir werden keine Geschäfte mehr machen."

Die Sanierung historischer Stadtteile ist für die Einwohner Pekings an sich nichts Ungewöhnliches mehr. Vor den Olympischen Spielen 2008 mussten zahlreiche eng bebaute Viertel mit schmalen Straßen teuren Apartment- und Bürobauten sowie Shopping-Malls weichen. Auch denkmalgeschützte Gebiete waren betroffen.


Unsensible Sanierung zerstört historisches Erbe

Historische Vorbilder sind den Sanierern oft völlig gleichgültig. Qianmen, ein rühriges Geschäftsviertel nahe dem Platz des Himmlischen Friedens, wurden von Bulldozern platt gewalzt. Inzwischen bringen nagelneue Straßenbahnen Besucher zu Luxusläden, die sich auf einer seelenlosen Einkaufsstraße aneinanderreihen.

"80 Prozent der Wohnhöfe in der Stadt sind in rasender Geschwindigkeit verschwunden", sagte Zhang Wie, der das Internetportal 'OldBeijing.org' gegründet hat. "Wenn wir nichts unternehmen, werden die alten Häusern und kleinen Straßen bald nur noch im Museum zu besichtigen sein", warnte er. "Peking kann in fünf Jahrzehnten in New York verwandelt werden. New York bräuchte aber 5.000 Jahre, um wie Peking zu werden."

Gulou hat bisher allen Modernisierungsversuchen standgehalten. Als die jüngsten Sanierungspläne bekannt wurden, liefen Historiker und Denkmalschützer dagegen Sturm. Angeführt wurde die Protestbewegung vom Zentrum zum Schutz des kulturellen Erbes in Peking (CHP), das auf den Erhalt historisch gewachsener Strukturen pochte.

CHP-Gründer He Shuzhong lud die Bewohner von Gulou und Medienvertreter zu Diskussionsveranstaltungen über die Zukunft des Viertels ein. Auch der Widerstand seitens der Polizei konnte ihn nicht abschrecken. Das Zentrum arbeitet derzeit an Maßnahmen, durch die die Lebensbedingungen in Gulou verbessert werden sollen. "Ich bin zuversichtlich, dass der Stadtteil erhalten werden kann", sagte der Anwalt IPS.

Ob die Stadt Peking endgültig von dem Sanierungsvorhaben abgerückt ist, steht allerdings nicht fest. Beobachter vermuten, dass die Pläne wegen der Zusammenlegung der Hauptstadtdistrikte Chongwen und Dongchen vorerst ruhen mussten. Andere meinen, die Maßnahmen seien den Behörden zu teuer geworden.

Die Zukunft von Gulou bleibt also zunächst ungewiss. Ein Vertreter der Stadtverwaltung sagte im September in den staatlichen Medien, 'Time Cultural City' gehöre nun der Vergangenheit an. Was aus dem Viertel werde, könne man aber noch nicht genau sagen.

Die Bewohner können es immer noch kaum fassen, dass ihre Häuser nur knapp der Abrissbirne entgangen sind. Die meisten wollen gar nicht daran denken, dass sich in ihrer vertrauten Umgebung etwas ändern könnte. "Der Plan ist völliger Unsinn und viel zu kostspielig", kritisierte der 29-jährige Li Jian Xin, der zwei Läden in einer belebten Straße besitzt. "Gulou ist ein Wohnviertel. Da hier so viele Leute leben, kann es nicht zur Geschäftsmeile umgestaltet werden", meinte er.


Enge Wohnungen ohne Heizung und Toilette

Einige Menschen sind es aber doch leid, weiter in den engen, oftmals [...] Häusern zu leben. Sie sind enttäuscht, dass die Modernisierung nicht stattfindet. In dem Fall wären ihnen nämlich anderswo neue Wohnungen zugewiesen worden.

Die 64-jährige Chen Yi wohnt mit ihrer Tochter und ihrem Enkel in einem winzigen Apartment ohne Zentralheizung und Toilette. In der Küche wird auch geduscht, und Chens Zimmer ist vollgestopft mit Kisten, Kleidung und Kinderspielzeug. Für ihr Bett ist kaum Platz. Um die nächste öffentliche Toilette zu erreichen, muss sie 40 Meter die Straße hinunter laufen.

"Ich hoffe, dass sie das Viertel abreißen", erklärte die Frau, der bereits mehrmals der Umzug in eine staatlich bezuschusste Wohnung verweigert wurde. "Für alte Leute ist es nichts, hier zu leben. Wir haben dazu nicht mehr die Kraft."

Dagegen gibt es auch Nachbarn, die bis zum letzten dafür kämpfen wollen, in ihren alten Apartments bleiben zu können. "Umziehen wollen wir nicht mehr", sagte die 96-jährige Gong. "Dafür haben wir zu lange in Gulou gelebt." (Ende/IPS/ck/2010)


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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 19. November 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2010