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POLITIK/385: Neo-Nikotinoide ja oder nein? (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Neo-Nikotinoide ja oder nein?
Europäische Union siegt gegen Chemie-Giganten

Von Sievert Lorenzen



Es gibt keine vernünftigen Zweifel mehr: Insektengifte der neuartigen Stoffklasse der Neo-Nikotinoide haben Massensterben von Honigbienen verursacht: Kurz nach Einführung der Neo-Nikotinoide, ab 1994, haben französische Imker die Hälfte ihrer Bienenvölker verloren und machen hierfür das Insektengift "Gaucho" verantwortlich. Im Frühjahr 2008 fielen in der Region Oberrhein in Baden-Württemberg 11.000 Bienenvölker dem Insektengift "Poncho" zum Opfer. Ausgesätes Maissaatgut war mit diesem Gift gebeizt worden. Mit dem Abrieb gelangte das Gift in den Luftstaub und wurde verweht. Weltweit werden solche Erfahrungen gemacht.

Deshalb hat die EU-Kommission die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) beauftragt, das Risiko der Neo-Nikotinoide Imidacloporid (Wirkstoff von "Gaucho"), Clothianidin (Wirkstoff von "Poncho") und Thiamethoxam für Bienen zu bewerten. Die Wissenschaftler der EFSA unterschieden zwischen akuten (tödlichen) und chronischen Schäden und erkannten drei Risiken für die Bienen: Aufnahme durch Sammeln von Honig und Pollen, Kontakt mit verwehtem Abrieb von gebeiztem Saatgut und Kontakt mit Guttationsflüssigkeit von Mais. Diese Flüssigkeit wird vom Mais und anderen Pflanzen nachts abgesondert, sammelt sich bis morgens in tauartigen Tropfen und enthält Neo-Nikotinoide, wenn das Saatgut mit diesen Giften gebeizt war.

Die Neo-Nikotinoide sind Nervengifte. Sie blockieren bestimmte Rezeptoren an Nervenfasern, so dass Nervenreize nicht mehr ihre Zielorte erreichen, zum Beispiel Muskeln oder andere Nervenzellen, die deshalb alle arbeitsunfähig werden. Das Leben der Insekten wird so regelrecht gelähmt, und daran sterben sie, entweder gleich nach Kontakt mit einer lethalen (tödlichen) Dosis des Gifts oder in Raten nach Kontakt mit vielen sublethalten Dosen. Die Neo-Nikotinoide sind wasserlöslich, werden gespritzt, dem Wasser bei der Bewässerung zugegeben oder zur Ummantelung (Beize) von Saatgut benutzt. In jedem Fall dringt das Gift in die Pflanze und gelangt in alle Pflanzenteile, auch in die Pollen und in den Honig. Berührt ein Insekt das Gift oder frisst von vergifteten Pflanzen, wird sein Leben gelähmt. Für Schadinsekten ist diese Wirkung gewollt, für Nutzinsekten wie Bienen wird sie billigend in Kauf genommen, aber nicht mehr lange. Die EU hat gehandelt.

Sie tat es, weil die Wissenschaftler der EFSA und anderer Institutionen zur Erkenntnis kamen, dass Neo-Nikotinoide ein hohes Risiko für Honig- und Wildbienen darstellen. Die Bienen aber müssen geschützt werden wegen ihrer unverzichtbaren Bestäubungsleistungen - ohne Bienen kein Obst, keinen Raps und keine Sonnenblumenkerne.

Deshalb schlug die EU-Kommission im Winter 2012/13 vor, den Einsatz der Neo-Nikotinoide für zunächst drei Jahre stark einzuschränken, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Die Abstimmung war für den 25. Februar 2013 vorgesehen, wurde aber kurzfristig wegen einer Drohung der Chemiekonzerne Bayer und Syngenta verschoben. Sie sagten, das befristete Verbot würde einen Schaden von 17 Milliarden Euro und die Gefährdung von zehntausenden Arbeitsplätze verursachen. Doch von was für Schäden reden die Chemie-Giganten? Von Verlusten bei Bauern oder auch von nicht realisierten Gewinnchancen der Chemie-Giganten? Das bleibt unklar - wie üblich bei unspezifizierten Drohungen. Dennoch kamen die EU-Mitgliedstaaten den Chemiegiganten entgegen und verkürzten den befristeten Einsatz auf zwei Jahre. Darüber stimmten sie am 15. März 2013 ab, aber heraus kam nur ein Patt. Hatte die EU verloren?

Nein, sie ließ sich durch das Patt nicht einschüchtern. Die Drohungen der Chemie- und Agrarindustrie erwiesen sich als unhaltbar, ja als lügnerisch. So schrieb der Europaabgeordnete und agrarpolitische Sprecher der GRÜNEN, Martin Häusling, 2013: "Denn die Behauptung, es entstehe ein immenser wirtschaftlicher Schaden, weil Saatgut nicht mehr gebeizt und damit vor Schädlingen geschützt werden könne, ist nur dürftig belegt. Im Gegenteil. So ist die Saatgutbeize für Mais in Frankreich und der Schweiz seit langem verboten, und dennoch wird in beiden Ländern problemlos und in großen Mengen Mais erzeugt. Statt einen völlig fiktiven Schaden etwa bei Raps zu beklagen, sollten sich Agrarindustrie und Landwirtschaft aufgerufen fühlen, sich auf nachhaltigere, umweltfreundlichere Anbaumethoden mit einer ausreichenden Fruchtfolge zu besinnen. Dies kann Schädlinge ebenso in Bann halten."

Ja, so ist es: Bäuerliche Weisheiten lassen sich nicht einfach durch Gifte ersetzen. Firmen, die das nicht wahrhaben wollen und für den unbedingten Einsatz der Gifte kämpfen, gehören nicht zu den Leistungsträgern, sondern zu den Leistungsschädlingen der Gesellschaft. Die EU-Mitgliedstaaten - unter ihnen Deutschland - stimmten deshalb am 29. April 2013 mehrheitlich für das Verbot, Saatgut von Mais, Raps und Sonnenblumen auszusäen, das mit Neo-Nikotinoiden gebeizt wurde. Die EU-Kommission wird das Verbot zum 1. Dezember 2013 wirksam werden lassen - zu spät für die Aussaat von Winterraps, aber rechtzeitig für die Aussaat von Mais und Sonnenblume. Zusätzlich ist in Deutschland schon jetzt die Aussaat von Wintergetreide verboten, das mit Neo-Nikotinoiden gebeizt wurde.

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2013, Seite 30-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2013