Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → LEBENSRÄUME

FORSCHUNG/371: Hitzekoller und Atemnot (Leibniz)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 3/2014

Hitzekoller und Atemnot

von Nils Ehrenberg



Die Tierwelt in den deutschen Hausmeeren steht unter Druck. In der sich erwärmenden Nordsee verdrängen Neuzuwanderer aus dem Süden die heimischen Arten in kältere Gefilde. In der Ostsee macht den Meeresbewohnern vor allem der Sauerstoffmangel in "Todeszonen" zu schaffen. Verantwortlich für beides: der Mensch.

Der rote Sandsteinfelsen kommt mehr und mehr ins Schwitzen. Seit 1962 hat sich das Nordseewasser vor Helgoland, Deutschlands einziger Hochseeinsel, um 1,7 Grad Celsius aufgeheizt. Tendenz: steigend. Der Grund: die globale Erwärmung in Folge des menschengemachten Klimawandels.

Knapp zwei Grad Celsius. Das klingt zunächst nach wenig. Doch als Folge der Erwärmung hat in der Nordsee eine regelrechte Völkerwanderung eingesetzt.

"Ihre Fauna verändert sich massiv", sagt Michael Türkay, der die Abteilung Marine Zoologie am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum in Frankfurt am Main leitet. Vielen heimischen Kaltwasserarten ist es in der südlichen Nordsee inzwischen zu warm geworden. So ist zum Beispiel der Kabeljau - einer der beliebtesten Speisefische auf deutschen Tellern - in den kühleren Norden ausgewichen. "Vor der norwegischen Küste gibt es ihn nun in rauen Mengen", berichtet Türkay. Im Gegenzug wandern verstärkt mediterrane Warmwasserarten wie Streifenbarbe und Sardelle in die Nordsee ein.

Gekommen, um zu bleiben

Dabei handelt es sich keineswegs nur um Einzelfälle bei Fischen. "Der Wandel zieht sich durch die gesamte marine Lebensgemeinschaft von Fischen über Quallen, Krebse, Schnecken bis hin zum Plankton", erläutert Türkay.

Die Neulinge untergliedern sich in zwei Gruppen. Gruppe eins wandert direkt in die Nordsee ein, indem sie schlicht ihren Lebensraum nach Norden ausdehnt. So wie der winzige Einsiedlerkrebs Diogenes pugilator, der ursprünglich im Mittelmeer und im angrenzenden Atlantik beheimatet war. "Der Krebs hat 2002 die Deutsche Bucht erreicht", berichtet Türkay. "Seit dem Jahr 2005 beobachten wir stabile Populationen vor und auf der Nordsee-Insel Wangerooge." Die andere Gruppe wurde von Schiffen aus weit entfernten Regionen eingeschleppt oder wie die Pazifische Auster zu Zuchtzwecken eingeführt. Lange ging man davon aus, dass sich die exotischen Gäste mit den klangvollen Namen - Australische Seepocke, Amerikanische Schwertmuschel, Japanischer Gespensterkrebs - wegen des kalten Wassers der Nordsee nicht dauerhaft ansiedeln könnten. In Folge der Erwärmung gilt jedoch mehr und mehr: Sie sind gekommen, um zu bleiben. Wie nachhaltig sich die Nordseefauna verändert, haben die Senckenberg-Forscher in einer großangelegten Langzeitstudie bewiesen. "Seit 1990 untersuchen wir mithilfe unserer Forschungsschiffe regelmäßig die Veränderungen der marinen Tierwelt im Bereich der Doggerbank, einer riesigen, teilweise nur wenige Meter unter der Wasseroberfläche liegenden Sandbank mitten in der Nordsee", berichtet Michael Türkay.

An 40 Stationen sammeln die Wissenschaftler seither mit Schleppnetzen Meerestiere und bestimmen die Artenzusammensetzung. Im Bereich der Doggerbank treffen verschiedene Wassermassen aufeinander: stationäres Wasser aus der Deutschen Bucht, atlantisch geprägtes Wasser aus dem Ärmelkanal und kaltes Wasser aus dem Norden. "Alle drei Bereiche beherbergen eine ganz eigene Lebensgemeinschaft mit teilweise unterschiedlichen Arten", erläutert der Frankfurter Meeresforscher. "Seit 2000 stellen wir allerdings an allen 40 Stationen einen massiven Regime-Wechsel zugunsten der Warmwasserarten fest."

Vereinheitlichung der Tierwelt

Das Ergebnis ist eine Vereinheitlichung der Tierwelt: Eine über viele Jahrtausende gewachsene heimische Fauna mit großen regionalen Unterschieden weicht einer eher eintönigen Warmwasserfauna. "Die Folge der Erwärmung in der Nordsee ist also eine lokale Abnahme der Artenvielfalt und eine dadurch bedingte geringere Stabilität des Ökosystems gegenüber großen Störeinflüssen wie der Bodenfischerei", sagt Michael Türkay.

Und wie ergeht es den Auswanderern im kühleren Norden? Viele schaffen die Umstellung, doch einige Arten könnten auf der Strecke bleiben, glaubt Türkay. "Meerestiere sind keine Driftbojen, die sich einfach hin und her schieben lassen. Sie haben über die Temperatur hinaus Bedürfnisse. Wenn die am neuen Ort nicht erfüllt werden, verschwinden sie eben." Ein Beispiel ist die nordpazifische Königskrabbe, die aus dem Beringmeer zwischen Alaska und Sibirien nach Norden in die kühlere Beringstraße gewandert ist. Ihre Bestände schrumpfen, weil es das Plankton, von dem sie sich ernähren, dort nicht gibt. Die Krabben sitzen in der Falle.

Atemnot im Mare Balticum

Anders als die Nordsee ist das zweite Meer vor der bundesdeutschen Haustür schon ohne Zutun des Menschen ein hartes Pflaster für Meeresbewohner. Seit der Geburt der verhältnismäßig jungen Ostsee vor 12.000 Jahren schwankten die Lebensbedingungen beständig: Mal war die Ostsee salziges Nebenmeer des Weltozeans, dann von Süßwasser geprägtes Binnenmeer ohne Verbindung zur Nordsee. Die heutige Situation entspricht einer Zwischenform. Salzwasser, das durch die schmalen Passagen zwischen den dänischen Inseln in die Ostsee strömt, mischt sich mit Süßwasser aus unzähligen in die Ostsee mündenden Flüssen. Das Ergebnis ist ein riesiges Brackwassermeer mit stetig schwankendem Salzgehalt. "Die wechselhaften Bedingungen machen es Meeresbewohnern schwer, in der Ostsee zu überleben", sagt Alexander Darr, Meeresbiologe am Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW). "Die Artenvielfalt ist deshalb von Natur aus geringer als in anderen Meeren." Trotzdem ist die Unterwasserwelt im Mare Balticum alles andere als langweilig. Auch hier gibt es von Schnecken, Würmern, Muscheln und Krebsen bis hin zu Fischen, Robben und Walen Vertreter aus allen Organismengruppen.

Alexander Darr befasst sich am IOW mit dem sogenannten Benthos, einer Gemeinschaft am Meeresboden lebender Organismen. Regelmäßig fahren er und seine Arbeitsgruppe mit dem Forschungsschiff "Elisabeth Mann Borgese" raus auf die deutsche Ostsee. Mit Bodengreifern nehmen sie Proben des Meeresbodens und überwachen die Benthosgemeinschaft mit Unterwasserkameras. "Der Boden der deutschen Ostsee ist ein sehr heterogenes Gelände", berichtet Darr. Einige Bereiche seien "wahre Hotspots" der Biodiversität. Im Bereich des Fehmarnbelts zwischen Fehmarn und Dänemark bilden große Felsbrocken strukturreiche Riffe. Hier leben bis zu 120 Arten auf einem Quadratmeter, darunter Wellhornschnecken, Seeigel, Einsiedlerkrebse, Islandmuscheln. In anderen Gebieten wie der Oderbank, deren Meeresboden aus feinem Sand besteht, finden sich zwar nur 25 bis 30 Arten bodenlebender Meeresorganismen auf einem Quadratmeter, aber auch sie erfüllen eine bedeutende Funktion.

"Todeszonen" in der Tiefe

"Sie sind Nahrung für zahlreiche Fischarten", sagt Darr. Für den Forscher sind die Organismen aber vor allem wegen einer weiteren Eigenschaft von Interesse: "Sie sind die besten Indikatoren für schädliche Einflüsse menschlicher Aktivitäten, weil sie anders als zum Beispiel Fische standorttreu sind", erklärt er. "Wir überwachen deshalb die Entwicklung der benthischen Organismen und kartieren ihre Verbreitung."

Kaum ein Meer wird stärker vom Menschen genutzt als die Ostsee. Bauvorhaben wie der geplante Fehmarnbelt-Tunnel zwischen Deutschland und Dänemark, der Abbau von Kies oder die Schleppnetzfischerei ziehen lokale Bereiche des Meeresbodens stark in Mitleidenschaft. "Wirklich bedrohlich für alle Ostseeorganismen ist aber vor allem die Eutrophierung, also die Überdüngung der Ostsee mit Nährstoffen aus Landwirtschaft und Industrie", warnt der Warnemünder Meeresforscher.

Die Nährstoffe, die über Flüsse in die Ostsee gelangen, fördern das Wachstum einzelliger Algen im Oberflächenwasser. Diese Algen sinken in größere Tiefen und werden von Mikroorganismen unter Sauerstoffverbrauch abgebaut. Auf diese Weise entstehen in der tiefen Ostsee sogenannte Todeszonen: Bereiche mit wenig oder gar keinem Sauerstoff, in denen höheres Leben nicht mehr existieren kann.

Klimawandel versus Meeresschutz

Ende der 1980er Jahre war die Ostsee stark eutrophiert. 1992 wurde deshalb die Helsinki-Kommission gegründet, die verbindliche Reduktionsziele für Nährstoffeinträge der Ostseeanrainer festlegt. Die Situation hat sich seither leicht entspannt. Auch Schutzzonen für besonders artenreiche Gebiete seien probate Mittel, um die Biodiversität in der Ostsee zu erhalten. "Gerade Riffe sind von großer Bedeutung", erklärt Darr. "Sie liegen meist auf erhöhten Kuppen und sind deshalb wichtige Reservoirs für eine Wiederbesiedlung von tieferen Bereichen, die durch Sauerstoffmangel geschädigt wurden."

Doch der Klimawandel, der auch der Nordsee zusetzt, könnte diese Bemühungen zunichte machen. Noch sind seine Effekte in der Ostsee kaum spürbar. Aber in nicht allzu ferner Zukunft könnten die Erwärmung und der verstärkte Süßwasserzustrom durch mehr Regenfälle dazu führen, dass die positiven Effekte der verminderten Nährstoffkonzentration aufgehoben werden und sich die "Todeszonen" weiter ausbreiten.

Die Helsinki-Kommission berät schon jetzt, ob die Reduktionsziele verschärft werden müssen, um die Artenvielfalt in der Ostsee zu retten.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

• Helgoland um 1900

• Probennahme: Regelmäßig fährt Alexander Darr raus auf die Ostsee, um die Benthosgemeinschaft am Meeresboden zu überwachen

*

Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft
Nr. 3/2014, Oktober 2014, Seite 36-39
Herausgeber: Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
Chausseestraße 111, 10115 Berlin
Tel.: 030/20 60 49-0, Fax: 030/20 60 49-55
Internet: www.leibniz-gemeinschaft.de
Redaktion:
E-Mail: journal[at]leibniz-gemeinschaft.de
Internet: www.leibniz-gemeinschaft.de/journal

Das Leibniz-Journal erscheint vier Mal jährlich
und kann über die Redaktion kostenlos abonniert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang