naturmagazin
Berlin - Brandenburg
Ausgabe 4/2016
Vielfalt in Europa
Wie viel Biodiversität deckt das Natura 2000-Netzwerk ab?
Ziel der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie ist die langfristige Erhaltung von etwa 230 Habitattypen und 2000 Tier- und Pflanzenarten, die natürlich in der EU vorkommen. Aber wie viel tragen die beiden Naturschutzrichtlinien zum Schutz der europäischen Biodiversität insgesamt bei? Zur Beantwortung dieser Frage hat die EU-Kommission im vergangenen Jahr ein Forschungsprojekt angestoßen, das die mutmaßliche Schutzwirkung des Natura 2000-Netzwerks auf die gesamte Biodiversität untersucht.
Die Studie nutzte verfügbare Daten zu landlebenden Pflanzen-, Säugetier-, Vogel-, Reptilien-, Amphibien- und Schmetterlingsarten und stützte die Analyse überwiegend auf GIS-basierte Artverbreitungsinformationen im Vergleich zum Vorkommen der Arten im Natura 2000-Netzwerk.
Da manche Artengruppen besser erfasst und manche Länder besser untersucht sind als andere, musste auf die entwickelte Methodik ein Verfahren zur Korrektur der dadurch verursachten Verzerrungen angewendet werden. Dies verminderte den Grad des Fehlers, der entsteht, wenn ein Vorkommen aufgrund einer guten Datenlage angenommen wird, während das Vorkommen bei spärlichen Daten statistisch eliminiert wird, obwohl die betreffende Art durchaus vorhanden sein kann.
Grafik 1: Durchschnittlicher Vorkommensanteil von Anhang- und
Nicht-Anhang-Arten in Natura 2000-Gebieten der 28 Staaten der EU. Die
Ergebnisse basieren auf einer multivariablen Analyse. Anm.: Vogelarten
sind Anhang-I-Arten. Die gestrichelte Linie zeigt die 18%-Basislinie
des Natura 2000-Netzwerks an.
Quelle: © The 'Umbrella Effect' of the Natura 2000 network (executive
summary, in Übersetzung)
https://ec.europa.eu/info/legal-notice_en
In der Gesamtheit zeigen die Ergebnisse, dass alle Tierartengruppen vom Natura 2000-Netzwerk profitieren. Wenn Arten überall gleichermaßen in der EU vorkämen, wäre es wahrscheinlich, dass sie zu 18 Prozent innerhalb der Grenzen von Natura 2000-Gebieten vorkämen, da das der Abdeckungsgrad des Netzwerks in der EU ist. Allerdings zeigen die Ergebnisse, dass bei jeder Artengruppe die weitverbreiteten Tierarten sowie andere, die in keinem Anhang aufgeführt sind, stärker innerhalb der Natura 2000-Gebiete vorkommen als außerhalb.
Das weist darauf hin, dass Natura 2000-Gebiete nicht nur ihren Zweck beim Schutz der Arten der Anhänge I (Vogelschutz-RL ) und II (FFH-RL) erfüllen, sondern auch den Nicht-Anhang-Arteneinen bedeutenden Nutzen bringen.
Grafik 2: Durchschnittlicher Vorkommensanteil von gefährdeten (inkl.
bedrohten), nicht gefährdeten und nicht beurteilten Arten in Natura
2000-Gebieten der 28 Staaten der EU auf Basis der Europäischen Roten
Listen.
Quelle: © The 'Umbrella Effect' of the Natura 2000 network (executive
summary, in Übersetzung)
https://ec.europa.eu/info/legal-notice_en
Auch das Vorkommen von gefährdeten Arten inner- und außerhalb des Natura 2000-Netzwerks wurde verglichen. Die Analyse zeigt, dass:
In der Tabelle finden sich die Vogelarten, die am meisten vom Natura 2000-Netzwerk profitieren. Durchgängig ist ihr Vorkommen in den Natura 2000-Gebieten mehr als doppelt so groß wie erwartet. Diese Arten kommen in Lebensräumen vor, deren beste Ausprägungen (charakteristisch, vollständig, oft die größten Gebiete) heute überwiegend in Natura 2000-Gebieten liegen. Allerdings sind im Natura 2000-Netzwerk Waldarten des Anhangs I oft unterrepräsentiert. In vielen Fällen handelt es sich um boreale Arten. Dies könnte daran liegen, dass große Bereiche borealer Wälder mit einer ausreichenden Habitatqualität für diese Arten außerhalb des Natura 2000-Netzwerks liegen.
Arten wie der Wachtelkönig, die Feldlerche und der Kiebitz sind charakteristisch für das Offenland und insbesondere hinsichtlich Brut, Aufzucht und Nahrungssuche stark an Kulturland gebunden. Die Populationen dieser Arten sind auch unterrepräsentiert, weil diese relativ intensiv bewirtschafteten Lebensräume zwar in weiten Teilen Europas stark verbreitet sind, aber unzureichend vom Natura 2000- Netzwerk abgedeckt werden. Die Arten sind zum Teil noch weit verbreitet, die Populationen leiden jedoch wegen der landwirtschaftlichen Intensivierung unter beträchtlichen Rückgängen.
ART |
ANNEX I |
ROTE LISTE EU |
LEBENSRAUM |
Clangula hyemalis Gypaetus barbatus Falco rusticolus Lagopus mutus Charadrius morinellus Calidris maritima Limosa lapponica Stercorarius longicaudus Larus genei Eremophila alpestris Anthus cervinus Prunella collaris Monticola saxatilis Pyrrhocorax graculus Calcarius lapponicus Plectrophenax nivalis |
x x x x x |
Gefährdet Gefährdet Gefährdet Gefährdet Nicht gefährdet Potentiell gefährdet Nicht gefährdet Nicht gefährdet Nicht gefährdet Potentiell gefährdet Nicht beurteilt Nicht gefährdet Nicht gefährdet Nicht gefährdet Potentiell gefährdet Nicht gefährdet |
Meere / Küsten Offene natürliche Habitate Offene natürliche Habitate Offene natürliche Habitate Offene natürliche Habitate Offene natürliche Habitate Sumpf / Feuchtgebiete Offene natürliche Habitate Sumpf / Feuchtgebiete Offene natürliche Habitate Sumpf / Feuchtgebiete Offene natürliche Habitate Offene natürliche Habitate Offene natürliche Habitate Sumpf / Feuchtgebiete Offene natürliche Habitate |
Tabelle 2: Vogelspezies, die von Natura 2000 profitieren.
Quelle: © The 'Umbrella Effect' of the Natura 2000 network (executive
summary, in Übersetzung)
https://ec.europa.eu/info/legal-notice_en
Die günstigen Auswirkungen des Natura 2000-Netzwerks zeigen sich auch bei den Schmetterlingen. Nicht-Anhang-Schmetterlinge kommen viel häufiger innerhalb des Natura 2000-Netzwerks vor als außerhalb. Das liegt überwiegend daran, dass Schmetterlinge im Allgemeinen bevorzugt in Lebensräumen vorkommen, die heute vornehmlich im Netzwerk anzutreffen sind. Außerhalb gingen diese Habitattypen aufgrund einer Vielzahl von modernen Belastungen und Gefahren sowie konkurrierender Landnutzung wie der Intensivierung der Landwirtschaft oder der Zersiedelung größtenteils verloren. Bemerkenswerterweise kommen alle betrachteten Schmetterlingsarten im Natura 2000-Netzwerk vor, wenn auch teilweise mit geringen Anteilen. Die Arten, die am meisten vom Netzwerk profitieren, sind jene mit einem sehr begrenzten Verbreitungsgebiet und deren verbliebene Lebensräume überwiegend oder gänzlich im Natura 2000-Netzwerk liegen.
Auch europäische endemische oder gefährdete Schmetterlingsarten kommen stärker innerhalb als außerhalb der Natura 2000-Gebiete vor.
Die meisten Säugetierarten zeigten ähnliche Trends wie die Vögel, diese waren aber weniger deutlich. Allerdings trat bei den großen Säugern ein anderes Muster zu Tage. Ihr Vorkommen weist eine geringere Deckung mit dem Natura 2000-Netzwerk auf, vermutlich da sie tendenziell in geringerer Dichte vorkommen und große Territorien haben, die oft weit über die Grenzen der Schutzgebiete hinausreichen. Für Amphibien und Reptilien lässt sich zusammenfassen, dass die Mehrzahl der europäischen Arten vom Natura 2000-Netzwerk profitiert. Hinsichtlich des Schutzniveaus gibt es kaum einen Unterschied zwischen Anhang-II- und Nicht-Anhang-II-Arten.
Des Weiteren gibt es einen deutlichen Nord-Süd-Gradienten beim Abdeckungsgrad durch Natura 2000. Reptilien und Amphibien sind in Europa nicht gleich verteilt. In den nördlichen Staaten finden sich wenige, weitverbreitete Arten, die anteilig weniger in Natura 2000-Gebieten vorkommen. Anderseits gibt es in den südlichen Ländern mehr Arten, die ein beschränktes Verbreitungsspektrum haben. Ihre Vorkommen sind stärker von Natura 2000 abgedeckt, weil die typischen Lebensräume vermehrt innerhalb des Netzwerks vertreten sind.
Die durchgeführten Auswertungen zu Pflanzenarten zeigten, dass Rote-Liste- sowie einige andere seltene Arten bedeutend häufiger innerhalb von Natura 2000-Gebieten vorkommen als außerhalb. Anders als bei den Vögeln wurde allerdings festgestellt, dass keine der betrachteten Pflanzenarten stärker außerhalb als innerhalb der Natura 2000-Gebiete vorkam. Das weist darauf hin, dass das Natura 2000-Netzwerk die Mehrzahl der vielfältigsten und artenreichsten Lebensräume in der EU schützt und damit eine bedeutende übergreifende Schutzwirkung in Bezug auf den Erhalt der sonstigen europäischen Biodiversität hat.
Die Natura 2000-Gebiete scheinen einen starken Pufferzoneneffekt sowohl für Tier- als auch für Pflanzenarten aufzuweisen. Die Auswertungen zeigten für die betrachteten Staaten, dass die biologische Vielfalt (gemessen an der Zahl an Biodiversitäts-Hotspots) in der Regel in einer Pufferzone von 500 Metern um die Schutzgebiete größer und breitgefächerter war als in den Bereichen außerhalb der Pufferzone. Somit scheint das Natura 2000-Netzwerk nicht nur innerhalb der Gebiete, sondern auch um die Gebiete Biodiversität besser zu schützen - mit Konsequenzen sowohl für die Politik als auch für die Praxis.
Die Ergebnisse bestätigen, dass Natura 2000-Gebiete einen wichtigen Mehrwert für die allgemeine Biodiversität bieten. Von den betrachteten Artengruppen profitieren die Schmetterlinge und Vögel am meisten. Die Studie bestätigt auch, dass die Gebiete ihren primären Zweck des Schutzes der Arten des Anhangs I der Vogelschutzrichtlinie und des Anhangs II der FFH-Richtlinie erfüllen.
Ferner geht aus ihr hervor, dass sich die Mehrzahl der verbliebenen artenreichen Lebensräume bereits innerhalb oder direkt neben Natura 2000-Gebieten befindet. Das unterstreicht die Bedeutung von politischen sowie finanziellen Instrumenten und den dazugehörigen Managementmaßnahmen, die weiterhin Lebensräume in Natura 2000-Gebieten erhalten oder renaturieren, so dass die Bedingungen für alle assoziierten Arten günstig sind.
Ausnahmen mögen boreale Lebensräume und einige Gebiete mit einer traditionellen Landwirtschaft in Ost- und Südeuropa sein. Während dies weiter untersucht werden sollte, legen die Ergebnisse jetzt nahe, dass mehr Wälder und traditionelles Agrarland in das Natura 2000-Netzwerk oder zumindest in ein schonendes Management aufgenommen werden können.
URL des Artikels:
http://www.naturmagazin.info/ausgaben/4-2016/natur/ohne-grenzen/
weitere Informationen:
Quellen (englisch):
http://ec.europa.eu/environment/nature/knowledge/how_much_biodiversity_in_natura2000_en.htm
Executive summary: The 'Umbrella Effect' of the Natura 2000 network
http://ec.europa.eu/environment/nature/knowledge/pdf/summary_brochure_2730a.pdf
https://ec.europa.eu/info/legal-notice_en
Technical report: How much Biodiversity is in Natura 2000?
http://ec.europa.eu/environment/nature/knowledge/pdf/alterra-report-2730b.pdf
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Quelle:
naturmagazin, 30. Jahrgang - Nr. 4, November 2016 bis Januar 2017, S. 38-41
Herausgeber: Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin
Naturschutzbund Deutschland (NABU) e.V., Landesverband Brandenburg
Naturschutzfonds Brandenburg/Naturwacht
Natur & Text GmbH
Redaktion: Natur & Text GmbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2017
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